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Von Wegwerfliteratur und Abschweifungen

Der Autor Clemens Setz ist Gastprofessor für deutschsprachige Poetik und Preisträger des Berliner Literaturpreises 2019 – in seiner Antrittsvorlesung sprach er über „Unarten in der Literatur“ und das Zusammenfügen von Nichtzusammengehörigem

20.05.2019

In seiner Antrittsrede schien es Clemens Setz weniger darum zu gehen, eine konzise Poetik zu entwickeln, als das Publikum mit Geschichten aus dem Setz’schen Kosmos zu unterhalten.

In seiner Antrittsrede schien es Clemens Setz weniger darum zu gehen, eine konzise Poetik zu entwickeln, als das Publikum mit Geschichten aus dem Setz’schen Kosmos zu unterhalten.
Bildquelle: Sören Maahs

„Ich bin Jazzmusiker. Und hier mache ich es genauso, ich extemporiere über Themen“, erklärt Clemens Setz seine Vortragsweise. Und so beginnt seine anspielungs- und abschweifungsreiche Antrittsvorlesung im Flur eines Wiener Fitnessstudios. Dort sei er auf eine rätselhafte Abbildung an der Wand gestoßen, die sich bei genauerem Hinsehen als Raumplan des englischen Sklavenschiffs Brookes aus dem 19. Jh. entpuppte. Die Innenansicht des Schiffes zeigte die Anordnung der zusammengepferchten Sklaven auf den unteren Decks. Was dem unaufmerksamen Passanten als kirchenfensterähnliches Design hätte erscheinen können, nimmt Setz zum Anlass, in weitschweifige Reflexionsspiralen und Anekdoten abzudriften – mit dem Versprechen, am Ende alles einer Auflösung zuzuführen. Dass er die Abschweifung sein entscheidendes Stilmittel nennt, verwundert kaum: „In meinen Büchern mache ich das die ganze Zeit.“

Es ist eine seltsame Reise, die das Bild vom Sklavenschiff genommen hat. Von den Abolitionisten, die für die Abschaffung der Sklaverei kämpften, war es einst verwendet worden, um die Grausamkeit der middle passage, des Transports afrikanischer Sklaven nach Amerika, darzustellen. Diesem Zweck habe es aber nicht gut dienen können, sagt Clemens Setz, weil es so „ebenmäßig und schön“ sei. „Man muss extrem nah herangehen, damit man das Design vergisst und die Menschen sieht.“ Zu spät kippt die ästhetische in eine ethische Betrachtungsweise. Die Abschaffung der Sklaverei hätte man mit diesen Mitteln nicht erreicht: „Die Leute wurden davon nicht mobilisiert oder in ihrer Seele berührt.“

Der von eigenwilligen Digressionen geprägte Vortrag führte vom Sklavenschiff „Brookes“ zu Robert Hayden zu von künstlicher Intelligenz ausgedachten Katzen zum Dermatologiebuch von Setz' Mutter und schließlich zum ausgestorbenen Dodo.

Der von eigenwilligen Digressionen geprägte Vortrag führte vom Sklavenschiff „Brookes“ zu Robert Hayden zu von künstlicher Intelligenz ausgedachten Katzen zum Dermatologiebuch von Setz' Mutter und schließlich zum ausgestorbenen Dodo.
Bildquelle: Sören Maahs

„Unarten in der Literatur“

Die geometrische Kunst, die in der Zeichnung von der Brookes mit Menschen betrieben wird, die kunstvolle Anordnung beklagenswerter Schicksale, das „In-Sonettform-Gießen menschlichen Leids“ – all das begreift Clemens Setz als Sinnbild für die „seelenverkaufende Unterströmung“ erzählender Literatur. Er schaudere vor Romanen, die sich ein mit Gewalt, Unterdrückung und Zerstörung von Menschenleben zusammenhängendes Thema wählen, um die geschilderten Grausamkeiten dann mit maximal poetischer Sprache zu kombinieren. Etwa das „lyrische Besingen des Verhungerns“ in Herta Müllers Atemschaukel sei für ihn deswegen „nur schwer zu lesen“ gewesen.

Wenn die Brookes lückenlos mit Leibern ausgefüllt werde wie die Bilder von M. C. Escher mit Fantasiewesen – stellt das nicht etwas mit unserer Wahrnehmung von Kunst an? Als Antwort zeigt Clemens Setz ein Escher-Bild von Tieren, die Hohlformen umgrenzen, die ihrerseits Tiere sind. Was bei der Zuhörerschaft zu Heiterkeit führt, nimmt Setz sehr ernst. Wie würde M. C. Escher seine eigene Kunst betrachten, wenn er die logistische Aufgabe, Flächen mit Lebewesen zu parkettieren, mit dem Sklavenschiff in Verbindung brächte? Würden dann nicht seine „mozarthaft kichernden Darstellungen“ von ihrer Unschuld verlieren? Allein, weil es die Brookes gibt? An diesem Zusammenfügen unzusammenhängender Dinge, die Clemens Setz in Verbindung zueinander setzt, zeigt sich sein Poetisierungsverfahren wohl am deutlichsten.

Wegwerfliteratur gegen verblassendes Literaturinteresse

Nach 60 Minuten Antrittsvorlesung hatte Setz nur einen Bruchteil seines geplanten Programms abgehandelt. Manuskriptfreies, halbspontanes Reden, das sich gern in Details verliert, schließt für den Jazzmusiker Improvisation und planlose Aktionen ein: „Auch beim Jazz verzettelt man sich oft.“ Zum Abschluss entschied sich der Autor kurzerhand, dem Publikum ein „Mitnehmsel“ auf den Weg zu geben und kam auf das verblassende Interesse an Literatur zu sprechen. Er fragte sich, welche Auswirkungen es auf das Selbstverständnis all derer habe, die schreiben und dichten wollen, dass sie dies in einem „Biotop mit schwindenden Ressourcen“ tun müssten. Die Antwort darauf fand Setz bei Guiraut Riquier, dem letzten Troubadour, der von 1230 bis 1292 lebte.

Riquier habe zu einer Zeit gedichtet, erklärte Setz, als niemand mehr etwas von Troubadourdichtung wissen wollte. Auf keinen Fall wollte er für einen Jongleur, Spielmann oder sonstigen Spaßmacher gehalten werden. Von König Alfons X. hatte er sogar das Verbot einer solchen ehrabschneidenden Verwechslung verlangt. Um den Wert seiner Kunst hervorzuheben, habe Riquier sich selbst anthologisiert und seine Gedichte mit Preisschildchen versehen: So viel kostete der Vortrag dieses oder jenes Gedichts. Das habe ihn, Clemens Setz, an den Ausspruch einer namhaften Dichterin erinnert, die bei einer Veranstaltung gesagt habe: „Unter 500 Euro schreibe ich gar kein Gedicht.“ Das sei „die Seele Guiraut Riquiers, die noch auf Erden ist“, so Setz.

Auch wenn die Welt ihnen den Rücken zukehre, riet Setz den jungen Dichterinnen und Dichtern des Autorenkollegs, sich nicht wie der letzte Troubadour auf einen „Ehrenplatz der Beleidigten und Entehrten“ zurückzuziehen. Denn: „Wir erleben zugleich eine karge und eine sehr reiche Zeit, je nachdem, wo man sich aufhält.“ Auf Twitter zum Beispiel, wo auch Clemens Setz unterwegs ist, sei jedes Gedicht gratis. Dort finde sich die lebendigste und innovativste Dichtung – ganz ohne Zugangsgeld, ohne Schloss und Riegel.

Wer für den Orkus des Vergessens schreibt, schien Clemens Setz nahezulegen, schreibt vielleicht eher Texte, die ihre Abnehmer finden. Auf die Frage also, wie Literatur in Zukunft relevant bleiben kann, antwortete er: Produziert Wegwerftexte!

Weitere Informationen

Der Erzähler, Dichter, Dramatiker, Übersetzer und Instragramfotograf Clemens Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Germanistik und Mathematik studierte. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2011 mit Preis der Leipziger Buchmesse, 2015 mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis und 2019 mit dem Berliner Literaturpreis.

Der Berliner Literaturpreis zeichnet Autorinnen und Autoren aus, die mit ihrem literarischen Werk in den Gattungen Erzählende und Dramatische Literatur sowie Lyrik einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geleistet haben. Mit der Preisvergabe geht das Angebot einer Berufung auf die Gastprofessur für deutschsprachige Poetik am Peter-Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin einher. Die Gastprofessur war zwölfmal, von 2005 bis 2016, mit dem Namen des Dichters Heiner Müller verbunden. Seit 2017 trägt sie den Namen „Gastprofessur für deutschsprachige Poetik der Stiftung Preußische Seehandlung an der Freien Universität Berlin“.

Die Gastprofessur bietet jeweils im Sommersemester ein Forum für Textarbeit mit Studierenden der Universitäten und Hochschulen in den Ländern Berlin und Brandenburg. Bisherige Preisträger und Dozenten waren Herta Müller, Durs Grünbein, Ilija Trojanow, Ulrich Peltzer, Dea Loher, Sibylle Lewitscharoff, Thomas Lehr, Rainald Goetz, Lukas Bärfuss, Hans Joachim Schädlich, Olga Martynova, Feridun Zaimoglu, Ilma Rakusa und Marion Poschmann.