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Poetik einer Taxifahrt

Madeleine Thien und Rawi Hage hielten ihre Antrittsvorlesung im Rahmen der von ihnen gemeinsam besetzten Samuel-Fischer-Gastprofessur über „Die Uhr: Vergänglichkeit als literarische Antwort“

24.05.2019

Madeleine Thien und Rawi Hage haben im laufenden Sommersemester die Samuel-Fischer-Gastprofessur inne.

Madeleine Thien und Rawi Hage haben im laufenden Sommersemester die Samuel-Fischer-Gastprofessur inne.
Bildquelle: Amely Schneider

Als Madeleine Thien an diesem Morgen von ihrem Berliner Schreibtisch aufsah und den Baum im Hinterhof erblickte, musste sie an ihre Mutter denken: Sie stammte aus Hongkong und war in den 1970er Jahren mit ihrem Mann nach Kanada ausgewandert. „Ich dachte daran, wie meine Mutter am Boden zerstört war, weil sie kein Geld hatte, um meinem Bruder neue Schuhe zu kaufen“, erzählte Thien bei ihrer Antrittsvorlesung vor Studierenden der Freien Universität Berlin.

Ihre Mutter, häufig schlaflos, habe sich nie eine Pause gegönnt und ihre Tochter gelehrt, dass man stets hart arbeiten müsse, um als Fremde als gleichwertig akzeptiert zu werden. Thien hatte der Mutter damals versprochen, ihr eines Tages das kleine Haus an der Küste zu kaufen, vom dem sie immer geträumt hatte. Doch gerade als die Tochter sich anschickte, eine international erfolgreiche Schriftstellerin zu werden, verstarb die Mutter unerwartet mit 58 Jahren an Herzversagen.

„Die Uhr: Vergänglichkeit als literarische Antwort“

Um das Thema Vergänglichkeit ging es bei der Antrittsvorlesung der kanadischen Schriftstellerin Madeleine Thien und des libanesisch-kanadischen Autors und Fotografen Rawi Hage, die im laufenden Sommersemester gemeinsam die 41. Samuel-Fischer-Gastprofessur am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität innehaben. Ihr Seminar, zu dem sie wegen des großen Interesses schließlich fast doppelt so viele Studierende zugelassen haben wie ursprünglich geplant, trägt den Titel: „Double Exposures: Transposition, Substitution and Autonomy as Literary Response“ („Doppelbelichtungen: Versetzung, Auswechslung und Autonomie als literarische Antwort“).

Madeleine Thien, die in Vancouver geboren wurde, schreibt Romane, Kurzgeschichten und Essays, die mit internationalen Preisen ausgezeichnet wurden. Sie beschäftigt sich darin mit den Themen Migration, Trauma und der Suche nach Identität. In ihrem aktuellen Roman „Do not say we have nothing“ („Sag nicht, wir hätten gar nichts“) geht es um das Leben in China von den 1940er Jahren bis in die Gegenwart. Rawi Hage erlebte als Kind den Krieg in Beirut, mit 18 wanderte er nach New York aus und landete schließlich in Kanada, wo er Fotografie studierte und anfing zu schreiben. Gleich für seinen Debütroman „De Niro’s Game“ erhielt er 2008 den renommierten internationalen „DUBLIN Literary Award“ – die Auszeichnung des bis dahin unbekannten Autors mit einem der höchstdotierten Literaturpreise für einen Debütroman war damals eine Sensation. In Hages Literatur geht es um Heimatlosigkeit, Exil und Kriegsfolgen. Im Juli wird sein neuer Roman „Beirut Hellfire Society“ in den USA erscheinen.

Das Taxi als Zeitkapsel

In ihrer Antrittsvorlesung sprachen die beiden Autoren, die gemeinsam in Montréal leben, über ihre Gedanken zum Thema „Die Uhr: Vergänglichkeit als literarische Antwort“. Rawi Hage erinnerte sich an seine Zeit als Taxifahrer in New York, die ihn einiges über Vergänglichkeit gelehrt habe. In seinem Taxi sei er den unterschiedlichsten Menschen begegnet, die ihm ihre persönlichsten Geschichten erzählt hätten. Diese Offenheit sieht er vor allem darin begründet, dass dem Fahrgast in einem Taxi bewusst sei, dass die Fahrt rasch enden und er den Fahrer nie wiedersehen werde. Er werde dadurch mutiger und offener.

„Die Vergänglichkeit der Begegnung macht sie intensiver“, sagte Hage. „Das Taxi wird so zu einer Kapsel der Geheimnisse und intimsten Bekenntnisse.“ Die Gemeinsamkeiten zwischen einem Taxifahrer und einem Schriftseller seien dabei offensichtlich. „Beide sind eine begrenzte Zeit lang mit Charakteren im Gespräch“, sagte Hage. Zudem sei die Kommunikation im Taxi wie in der Literatur stets indirekt. Der Fahrgast spricht mit dem Fahrer über den Rückspiegel. Er sieht nur einen Ausschnitt seines Gesichts, die Augen, den Mund. In Hages Roman „Carnival“ gibt es zwei Sorten von Taxifahrern: Die Fliegen und die Spinnen. Die Spinnen warten geduldig am Stand auf einen Auftrag aus der Zentrale. Die Fliegen sind rastlose Wanderer – sie durchstreifen die Straßen, immer auf der Suche nach einer winkenden Hand.

Wenn die Zukunft die Gegenwart beeinflusst

Madeleine Thien beschäftigte sich in ihrer Antrittsrede damit, dass Zeit etwas Flüchtiges ist, das ganz unterschiedlich erlebt und beobachtet werden kann oder sogar auch gar nicht existieren könnte. „Die Zeit selbst ist eine Illusion“, zitierte sie den italienischen Physiker Carlo Rovelli, der in seinen Büchern darlegt, dass der Eindruck des Menschen, sich von der Vergangenheit in die Zukunft zu bewegen, rein subjektiv ist. Thien bezog sich auch auf die Theorie der Retrokausalität aus der Quantenmechanik, wonach nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft unsere Gegenwart forme. „Das, was wir nächstes Jahr erleben werden, könnte das verändern, was wir jetzt in diesem Moment tun,“ sagte Thien.

Sie erinnerte daran, dass die standardisierte Zeit, nach der wir heute leben, in der Geschichte der Menschheit noch jung ist. So hatte einmal jeder Ort seine eigene Ortszeit. Stand die Sonne am höchsten, war es 12 Uhr. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in europäischen Ländern eine einheitliche Standardzeit festgelegt.

In den kommenden Wochen werden Thien und Hage mit den Studierenden Texte aus dem Libanon, Algerien und Kambodscha lesen. Sie wollen dabei der Frage nachgehen, ob und wie Literatur Geschichte neu schreiben kann und welche erzählerischen Möglichkeiten der Adaption, der Selbstkritik und Wideraneignung dafür zur Verfügung stehen.


Seit Beginn des Sommersemesters 1998 werden vom S. Fischer Verlag, der Freien Universität Berlin, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Veranstaltungsforum Holtzbrinck Publishing Group jeweils für ein Semester Autorinnen und Autoren an die Freie Universität Berlin eingeladen. Dass zwei Autoren gemeinsam antreten, hat es bisher erst einmal gegeben. 2011 teilten sich der deutsche Schriftsteller Daniel Kehlmann und der britische Autor Adam Thirlwell die Gastprofessur.