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Erinnerungen des Schreckens

Studierende der Freien Universität haben die Online-Ausstellung „Stumme Zeugnisse 1939 – Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“ mitkuratiert

30.08.2019

Originale Bildunterschrift im Fotoalbum: „Ein polnischer Panzer beim Angriff.“

Originale Bildunterschrift im Fotoalbum: „Ein polnischer Panzer beim Angriff.“
Bildquelle: CC BY NC ND GHWK

Vor 80 Jahren begann der Zweite Weltkrieg: Am 1. September 1939 griff das nationalsozialistische Deutschland völkerrechtswidrig Polen an. Viele Soldaten der Deutschen Wehrmacht, die an dem Überfall beteiligt waren, haben ihre Erlebnisse damals fotografisch, in Briefen oder Tagebüchern dokumentiert. Einige dieser privaten Zeugnisse, von denen vermutlich noch immer Tausende auf deutschen Dachböden und in Kellern lagern, sind vom 1. September 2019 an in einer Online-Ausstellung zu sehen. Konzipiert wurde sie von der wissenschaftlichen Volontärin der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, der Referentin für Public History am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Studierenden des Masterstudiengangs „Public History“ der Freien Universität Berlin.

Eine Aufnahme vom 4. September 1939, Woldemar Tröbst hatte dazu vermerkt: „Ein alltägliches Bild Rechts die vormarschierende "Dritte." - Links: Flüchtlinge kehren in ihre Dörfer zurück.“

Eine Aufnahme vom 4. September 1939, Woldemar Tröbst hatte dazu vermerkt: „Ein alltägliches Bild Rechts die vormarschierende "Dritte." - Links: Flüchtlinge kehren in ihre Dörfer zurück.“
Bildquelle: CC BY NC ND GHWK

September 1939. Innerhalb von fünf Wochen nahm die Wehrmacht Polen in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ein. Schon in den ersten Wochen verübten deutsche Soldaten Massenmorde und andere Kriegsverbrechen. Städte wurden von Kriegsschiffen, Flugzeugen und Panzern aus bombardiert und verwüstet. Zwischen 70 000 und 90 000 polnische Soldaten und etwa 60 000 polnische Zivilisten wurden ermordet. „Der Überfall auf Polen ist der Auftakt des Vernichtungskriegs der Nationalsozialisten“, sagt Svea Hammerle. „Die schrecklichen Verbrechen, die vor 80 Jahren geschehen sind, dürfen nicht vergessen werden.“

Auf den Aufruf hin wurden mehr als 1000 Fotos und rund 340 Seiten Tagebücher und Briefe an das Kuratoren-Team geschickt.

Auf den Aufruf hin wurden mehr als 1000 Fotos und rund 340 Seiten Tagebücher und Briefe an das Kuratoren-Team geschickt.
Bildquelle: CC BY NC ND GHWK

Svea Hammerle ist wissenschaftliche Volontärin in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Gemeinsam mit Irmgard Zündorf, der Referentin für Public History am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, und Studierenden des Masterstudiengangs Public History am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität hat sie zum 80. Jahrestag des Überfalls eine Online-Ausstellung erarbeitet.

Unter dem Titel „Stumme Zeugnisse 1939 – Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“ wird der Feldzug anhand von privaten Aufzeichnungen deutscher Soldaten aufgearbeitet. „Viele Soldaten haben den Angriff in Fotos, Tagebüchern und Briefen festgehalten“, sagt Hammerle. „Wir nehmen uns dieser wichtigen Dokumente der Zeitgeschichte an, die noch immer auf den Dachböden und in den Kellern vieler Familien liegen.“ Gefördert wird die Ausstellung durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“.

Gemeinsam mit den Studierenden verfasste Svea Hammerle einen Sammelaufruf auf Deutsch und Polnisch, der in sozialen Netzwerken zirkulierte und auch von Medien wie ZEIT Online unterstützt wurde: Familien in ganz Deutschland wurden gebeten, Material aus dem privaten Familiennachlass an die Gedenkstätte zu schicken. „Wir waren sehr gespannt“, sagt Public-History-Studentin Sara Elkmann. „Wir wussten ja gar nicht, wer sich melden würde.“

Die Dokumente wurden gescannt, erfasst und erforscht.

Die Dokumente wurden gescannt, erfasst und erforscht.
Bildquelle: CC BY NC ND GHWK

Der Aufruf hatte ein großes Echo: Mehr als 1000 Fotografien und rund 300 Seiten aus Briefwechseln und Tagebüchern werden in der Ausstellung zu sehen sein.

Sechs Public-History-Studierende der Freien Universität haben das Material in monatelanger Arbeit gesichtet, gescannt und inventarisiert. Anschließend wurde es in Themenbereiche gegliedert und für die Ausstellung aufbereitet. „In unserem Studiengang werden wir dafür ausgebildet, Zeitgeschichte öffentlichkeitswirksam zu vermitteln“, sagt Studentin Michaela Hofmann. „Das Projekt ermöglichte uns eine Praxiserfahrung.“ Im Rahmen des Ausstellungsprojekts nahmen die Studierenden an mehreren Seminaren teil, in denen nicht nur militärhistorisches Fachwissen vermittelt, sondern auch Fragen des ethischen Umgangs mit dem Material behandelt wurden. Die Mitarbeit an der Ausstellung wird als Studienleistung angerechnet.

Michaela Hofmann bereitete für die Ausstellung das Fotoalbum eines jungen Soldaten auf. „Jedes Foto war auf der Rückseite mit Kommentaren versehen“, erzählt sie. „Teils mit stark antisemitischen Äußerungen – die wohl nach dem Krieg mit einem Filzstift retuschiert worden sind.“ Durch die Bearbeitung sind sie teilweise wieder sichtbar geworden.

Auch anhand der Bildmotive und der Posen lasse sich die Einstellung der Soldaten nachzeichnen, erläutert Svea Hammerle: „Der deutsche Vormarsch wird auf den Fotos martialisch und heldenhaft inszeniert. Gezeigt werden Panzer und Flugzeuge in Aktion, vor den Ruinen polnischer Städte.“

In augenscheinlich ausgelassener Stimmung: die Einheit von Woldemar Troebst, die 3. motorisierte Kompanie des Pionier-Bataillons 168, Ende September 1939 mit polnischen Zivilistinnen und Zivilisten.

In augenscheinlich ausgelassener Stimmung: die Einheit von Woldemar Troebst, die 3. motorisierte Kompanie des Pionier-Bataillons 168, Ende September 1939 mit polnischen Zivilistinnen und Zivilisten.
Bildquelle: CC BY NC ND GHWK

Der Krieg hat gerade erst begonnen – die Soldaten sind anscheinend bester Laune und frohen Mutes. Sie posieren mit dem Kriegsgerät, sitzen trinkend zusammen. Gleichzeitig zeigen sie sich skrupellos, verhöhnen Leichen und fliehende Zivilisten.

„Die Art und Weise, wie die polnische Zivilbevölkerung auf den Bildern gezeigt wird, macht deutlich, wie sich die NS-Ideologie in den Köpfen der Soldaten festgesetzt hatte“, sagt Svea Hammerle. Die Gesichter der Ermordeten seien für die Ausstellung unkenntlich gemacht worden, erläutert sie.

Im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden (MHM) bekam das Team Unterstützung bei der Identifizierung von Uniformen und militärischem Gerät. Außerdem gab das MHM zwei Fotoalben und ein Fotokonvolut in die Ausstellung.

Im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden (MHM) bekam das Team Unterstützung bei der Identifizierung von Uniformen und militärischem Gerät. Außerdem gab das MHM zwei Fotoalben und ein Fotokonvolut in die Ausstellung.
Bildquelle: CC BY NC ND GHWK

Mehrere Monate lang haben sich die Studierenden auch um Bildmaterial aus polnischer Perspektive bemüht, leider vergeblich. Zunächst habe es Medienpartner in Polen gegeben, doch als im Januar dieses Jahres der Danziger Bürgermeister Paweł Adamowicz auf offener Bühne ermordet wurde, habe es für andere Themen nur wenig öffentliche Aufmerksamkeit gegeben. Auch generell sei es schwer, an polnisches Material aus der Zeit zu kommen.

„Fotokameras waren in Polen im Jahr 1939 noch nicht sehr verbreitet“, sagt Svea Hammerle. „Zudem hatten die Menschen durch den Überfall der Wehrmacht gerade alles verloren.“ Nur sechs Aufnahmen aus polnischer Perspektive konnten die jungen Historikerinnen beschaffen. Ein deutscher Soldat hatte einem polnischen Soldaten eine Filmrolle abgenommen und sie später entwickelt.

„Der polnisch-deutsche Austausch war uns bei der Konzeption der Ausstellung sehr wichtig“, sagt Svea Hammerle. „Wir hoffen, dass sich aus der Ausstellung auch zukünftige Projekte ergeben.“

Weitere Informationen

„Stumme Zeugnisse 1939 – Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten“

Die Online-Ausstellung ist mit Texten auf Deutsch, Englisch und Polnisch versehen.

Vom 1. September bis 6. Oktober werden die Studierenden des Master-Studiengangs Public History auf Twitter, Facebook und Instagram unter dem Hashtag #AnDiesemTag täglich historisches Material veröffentlichen.