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Unterschiede verstehen und das Gemeinsame erkennen

Im 34. Jahrgang des Berlin Program for Advanced German & European Studies sind erstmals zwei Doktorandinnen aus China dabei

27.11.2019

Zhang Yuqing (M.) und Wang Shaofei (r.) sind die Trägerinnen eines neuen Stipendiums, das die Historikerin und Politologin Kerstin Leitner (l.) gestiftet hat. Die Alumna von der Freien Universität hat lange für die UN gearbeitet, auch in China.

Zhang Yuqing (M.) und Wang Shaofei (r.) sind die Trägerinnen eines neuen Stipendiums, das die Historikerin und Politologin Kerstin Leitner (l.) gestiftet hat. Die Alumna von der Freien Universität hat lange für die UN gearbeitet, auch in China.
Bildquelle: Jonas Huggins

Ein Jahr lang an der Freien Universität Berlin forschen und dabei von einem großen Alumni-Netzwerk profitieren: Möglich macht das schon seit 1986 das Berlin Program for Advanced German & European Studies, das die Freie Universität Berlin gemeinsam mit der nordamerikanischen German Studies Association organisiert. Es richtet sich an Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in den Geistes- oder Sozialwissenschaften aus den USA und Kanada, die sich in ihrer Doktorarbeit oder nach abgeschlossener Promotion mit Deutschland oder Europa befassen. Dank des neu eingerichteten Kerstin-Leitner-Stipendiums – benannt nach der Förderin, einer Alumna der Freien Universität Berlin – sind in diesem Jahr auch zwei Doktorandinnen aus China dabei.

Insgesamt 14 Stipendiatinnen und Stipendiaten zählt der 34. Berlin-Program-Jahrgang, der in diesem Herbst seine Arbeit aufgenommen hat. Sie werden ihren Berlin-Aufenthalt einerseits für die Forschung vor Ort nutzen, sei es, um Experteninterviews zu führen, in Archiven zu recherchieren oder ethnografische Beobachtungen anzustellen. Andererseits bietet ein Forschungskolloquium Gelegenheit zum Austausch. Die Forschungsthemen sind sehr vielfältig: Untersucht werden zum Beispiel die Verbindungen deutscher Maoisten zu antikolonialen Bewegungen in den 1970er Jahren, das Denken über Ernährungssicherheit im deutschen Kaiserreich oder die Rolle des klassischen Kanons im alternativen politischen Theater im heutigen Berlin.

Seit 1986 bietet das Berlin Program for Advanced German & European Studies Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in den Geistes- oder Sozialwissenschaften aus den USA und Kanada einen Arbeitsaufenthalt an der Freien Universität an.

Seit 1986 bietet das Berlin Program for Advanced German & European Studies Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern in den Geistes- oder Sozialwissenschaften aus den USA und Kanada einen Arbeitsaufenthalt an der Freien Universität an.
Bildquelle: Jonas Huggins

Die beiden chinesischen Doktorandinnen steuern linguistische und soziologische Expertise bei und eröffnen damit neue Perspektiven. Wang Shaofeis Dissertationsthema ist aus dem Universitätsalltag bekannt: Die Linguistin von der International Studies University Xi’an vergleicht, wie an chinesischen und deutschen Universitäten Bitten in der digitalen Kommunikation ausgedrückt werden. Dass der Umgang von Studierenden untereinander und mit Dozierenden in beiden Ländern unterschiedlich ist, fiel Wang Shaofei während eines einjährigen Auslandsaufenthaltes im westfälischen Münster auf. Das zeige sich schon in der Wahl des Kommunikationsmediums: Während deutsche Studierende E-Mails schreiben, nutzten Studierende in China WeChat, die chinesische Entsprechung für den Instant-Messaging-Dienst WhatsApp. „Die Schwierigkeit wird sein, zu unterscheiden, welche sprachlichen Unterschiede bei formulierten Bitten auf die Kultur und welche auf die Wahl des Mediums zurückzuführen sind“, sagt die Promovendin.

Die Soziologin Zhang Yuqing von der Peking-Universität beschäftigt sich in ihrer Dissertation mit Walter Benjamins Diagnose einer „spirituellen Krise“. Einerseits sei die Welt immer rationaler und wissenschaftlicher erklärt worden, eine Entwicklung, die Benjamins Zeitgenosse Max Weber im frühen 20. Jahrhundert als Entzauberung der Welt bezeichnet hatte. Andererseits habe es gerade unter jungen Menschen eine neue Phase der Romantik gegeben, die der subjektiven Gefühlswelt einen hohen Wert beimaß. Den Widerspruch zwischen der gefühlvollen Innenwelt und der gefühlslosen Außenwelt konnte nicht aufgelöst werden, so Benjamin. Die Art und Weise, wie der Philosoph diesen Konflikt beschreibt, hat Zhang Yuqing fasziniert: „Benjamins Gedanken sind voller Empfindsamkeit, gleichzeitig ist er sehr gut darin, sie logisch auszudrücken“, sagt sie.

Die beiden Chinesinnen sind die ersten Trägerinnen eines neuen Stipendiums, das die Historikerin und Politologin Kerstin Leitner gestiftet hat. Sie hatte 1975 am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität über das postkoloniale Kenia promoviert und anschließend viele Jahre für die Vereinten Nationen gearbeitet. Für ihren Beruf lebte sie in zahlreichen Ländern, unter anderem längere Zeit in Benin und Malawi sowie acht Jahre lang in China. „Diese Jahre gehören zu den spannendsten meiner beruflichen Tätigkeit“, erzählte sie. Ihre Erlebnisse bei den Vereinten Nationen – auch als eine der ersten Frauen in einer Führungsposition innerhalb der Organisation – hat sie vor drei Jahren in ihrer Autobiografie mit dem Titel „Als moderne Nomadin um die Welt“ zu Papier gebracht. Das Stipendium, das Promovierenden in den Sozial- und Geisteswissenschaften aus den Ländern im südlichen Afrika und aus China offensteht, stifte sie, um ihrer Universität etwas zurückzugeben.

Es gehe ihr vor allem um interkulturellen Austausch, erläutert Kerstin Leitner. Eine der wichtigsten Erkenntnisse ihrer Arbeit sei, dass es in Konflikten stets um den Ausgleich von Interessen gehe. Um zu vermeiden, dass Konflikte gewaltsam gelöst werden, sei gegenseitiges Verständnis unerlässlich. Sie hoffe, dass sie mit der Unterstützung der beiden chinesischen Doktorandinnen einen Beitrag dazu leiste. „Ich wünsche mir, dass sie verstehen, wie wir Deutschen anders ‚ticken‘ – aber bei allen Unterschieden auch das Gemeinsame erkennen.“ Schließlich gebe es zwischen China und Deutschland mehr Ähnlichkeiten als auf den ersten Blick sichtbar.

Weitere Informationen

Bitte lesen Sie auch das Interview mit Kerstin Leitner zum 70. Jubiläum der Freien Universität und Porträt im Magazin wir:

Weitere Informationen zum Berlin Program for Advanced German and European Studies finden Sie hier.