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Ein Lichtstrahl ins Herz der Finsternis

Der brasilianische Schriftsteller und Journalist Bernardo Carvalho ist 42. Samuel-Fischer-Gastprofessor für Literatur am Peter Szondi-Institut der Freien Universität

16.12.2019

Am 6. November hielt Bernardo Carvalho seine Antrittsvorlesung über das Thema „Borders“. Darin verhandelte er die Grenzen der Sprache und plädierte für einen Literaturbegriff, der Identitäten in Frage stellt, anstatt sie zu zementieren.

Der Schriftsteller Bernardo Carvalho gibt in diesem Wintersemester ein Seminar darüber, wie Literatur Identitätskonzepte herausfordern kann.

Der Schriftsteller Bernardo Carvalho gibt in diesem Wintersemester ein Seminar darüber, wie Literatur Identitätskonzepte herausfordern kann.
Bildquelle: Lorenz Becker / www.lorenzbecker.com 

Michael Gamper, Professor am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, begrüßte Carvalho und wies auf die große Bedeutung der Gastprofessur für die Freie Universität und das Szondi-Institut hin. Die Studierenden erhalten dadurch die Gelegenheit, im Rahmen eines Seminars mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus aller Welt in Kontakt zu treten und deren Ideen diskutieren zu können. Carvalho hält im Wintersemester ein Seminar mit dem Titel „Desire against Identity“. Das Seminar wird sich mit der Frage beschäftigen, wie Literatur bestehende Identitätskonzepte herausfordern kann.

Prof. Dr. Michael Gamper begrüßte Bernardo Carvalho am Peter Szondi-Institut.

Prof. Dr. Michael Gamper begrüßte Bernardo Carvalho am Peter Szondi-Institut.
Bildquelle: Lorenz Becker / www.lorenzbecker.com

Leonie Achtnich, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Peter Szondi-Institut, gab in das Werk des brasilianischen Schriftstellers eine Einführung.

Leonie Achtnich, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Peter Szondi-Institut, gab in das Werk des brasilianischen Schriftstellers eine Einführung.
Bildquelle: Lorenz Becker / www.lorenzbecker.com

Leonie Achtnich, Literaturwissenschaftlerin am Peter Szondi-Institut, stellte Bernardo Carvalho vor: als Autor, der durch seine Literatur die Wirklichkeit in ein fantastisches Konstrukt verwandele und sich dem mimetischen Zugang verweigere. Bernardo Carvalhos Bücher, die an unterschiedlichen Orten der Welt spielen, von Paris bis New York, bezeugten einen globalen Literaturbegriff. „Jetzt darf unser Gast das exotische Setting von Dahlem erleben“, sagte Leonie Achtnich schmunzelnd. „Vielleicht lässt sich Bernardo Carvalho inspirieren und macht Dahlem zum Handlungsort für seinen nächsten Roman?“

Autor, Journalist, Übersetzer

Carvalho wurde 1960 in Rio de Janeiro, Brasilien, geboren und studierte Filmwissenschaft in São Paulo. Er ist Autor eines preisgekrönten Kurzgeschichtenbandes, von mehreren Theaterstücken und elf Romanen, von denen bislang vier ins Deutsche übersetzt wurden und im Luchterhand Verlag erschienen sind. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit war Carvalho unter anderem als Redakteur und Auslandskorrespondent für die Tageszeitung Folha de São Paulo tätig. Er übersetzte außerdem Oliver Sacks und Bruce Chatwin ins Brasilianische. Zuletzt erschienen die beiden Romane In Sao Paulo geht die Sonne unter (2009) und Dreihundert Brücken (2013) in deutscher Übersetzung. Sein neuestes Werk spielt in St. Petersburg, Carvalho erzählt von zwei jungen Männern, in deren Schicksal sich die Nationalitätenkonflikte Osteuropas spiegeln.

Über Fragen der Identität sprach Carvalho auch in seiner Antrittsvorlesung. Er erinnerte daran, welche Rolle das politische Engagement von Minderheiten in der Geschichte und in seinem eigenen Leben spielte. „Ohne Identitätspolitik wäre ich heute nicht hier“, sagte Carvalho, der sich als Homosexueller für die Rechte von Schwulen einsetzt. Er unterstrich die Rolle der Literatur, etwa die Bücher von James Baldwin oder Joseph Conrad, in der die Austragung dieser Kämpfe verhandelt werde.

Gleichzeitig verwies er darauf, dass die Autorinnen und Autoren, für deren Literaturbegriff er sich begeistere, niemals die Komplexität der literarischen Sprache zugunsten einer politischen Sache aufgeben würden – sei sie noch so richtig und noch so gut. „Den Gedanken, dass es eine fixe Identität gibt, bezweifle ich. Und die Literatur, für die ich einstehe, bezweifelt das auch“, sagte Carvalho und sprach sich gegen einen Normbegriff in der Literatur aus.

In seiner Antrittsvorlesung plädierte Bernardo Carvalho dafür, die Sprache der politischen Rechten nicht zu übernehmen.

In seiner Antrittsvorlesung plädierte Bernardo Carvalho dafür, die Sprache der politischen Rechten nicht zu übernehmen.
Bildquelle: Lorenz Becker / www.lorenzbecker.com

In seinem Vortrag vertrat der Schriftsteller die These, dass immer mehr Bücher geschrieben würden von Autorinnen und Autoren, die sich schreibend politisch engagierten – zulasten der literarischen Sprache. Dass sei bei einem Autor wie James Baldwin nicht der Fall, obwohl er selbst schwul gewesen sei. „James Baldwin zweifelt als Schriftsteller. Er stellt Fragen und bezweifelt Identitäten, auch jene, für die er kämpft.“

Das Fremde im Eigenen finden

Im Anschluss verteidigte der brasilianische Autor seinen eigenen Literaturbegriff: Er plädierte dafür, dass die politische Linke nicht die Mechanismen und die Sprache der Rechten übernehmen dürfte. „Man muss ein Fremder in der eigenen Sprache sein und das Unsichtbare sichtbar machen“, sagte Carvalho. Man müsse auf eine Reise gehen, dabei die Widersprüche im eigenen ‚Ich’ feststellen und das Fremde im Eigenen finden. Genau diese Erfahrung sei der Kern von Literatur.

„Was können wir von Literatur also erwarten?“, fragte Carvalho zum Abschluss und gab eine emphatische Antwort: „Literatur muss ein Lichtstrahl ins Herz der Finsternis sein. Dieser Lichtstrahl sollte dem widersprechen, was wir sind. Er sollte uns das Unsichtbare zeigen; den versteckten Teil in uns selbst“, sagte der Schriftsteller. Er betonte, wie sehr er sich auf die Arbeit mit den Studierenden freue.