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Potenziale entfalten und das „Zwergengefühl“ überwinden

Interview mit der Psychologin Luiza Olos von der Freien Universität Berlin über das Projekt „Vielfalt der Studierenden“

12.05.2021

Hürden abbauen, den Weg ebnen: Weil alle mit unterschiedlichem Hintergrund an die Universität kommen, bietet das Projekt „Vielfalt der Studierenden“ Unterstützung an.

Hürden abbauen, den Weg ebnen: Weil alle mit unterschiedlichem Hintergrund an die Universität kommen, bietet das Projekt „Vielfalt der Studierenden“ Unterstützung an.
Bildquelle: Madalina Tantarean

Studienanfängerinnen und -anfänger mit heterogenen Lebens- und Bildungshintergründen haben häufig das Gefühl, vor einem scheinbar unüberwindbaren Berg an Aufgaben zu stehen, sagt Luiza Olos. Die promovierte Psychologin in der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität Berlin leitet das Projekt „Vielfalt der Studierenden“. Im Interview erläutert sie, wie das durch die Berliner Qualitäts- und Innovationsoffensive geförderte Projekt beim Ankommen an der Universität helfen will und wie Barrieren für Studierende mit unterschiedlichen Herkunfts-, Schul- und Ausbildungsbiografien abgebaut werden können.

Frau Olos, worum geht es bei dem Projekt „Vielfalt der Studierenden“?

Starten wir mit einem Bild: Jemand möchte klettern lernen und steht allein vor der Kletterwand. Beim Blick nach oben stellt sich ein „Zwergengefühl“ ein, so formuliert es die Autorin Katja Oskamp. Es erscheint wenig vorstellbar, es bis nach oben zu schaffen.

Ein Studium stellt für manche eine ähnliche Herausforderung dar. Sie fühlen sich als Studienanfängerinnen und -anfänger und im Hochschulalltag häufig isoliert und wie gelähmt. Ziel des Projekts „Vielfalt der Studierenden“ ist es, diese Menschen auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen, damit das Studium und das Studierendenleben einfacher werden.

Dr. Luiza Olos von der Studienberatung der Freien Universität Berlin.

Dr. Luiza Olos von der Studienberatung der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Wer kann vor solchen Schwierigkeiten stehen?

Völlig unabhängig von beispielsweise Geschlecht, Alter, Herkunft kann es vielfältige institutionelle und sprachliche Barrieren für Studieninteressierte und Studierende geben (*Bitte beachten Sie hierzu die Anmerkung unter dem Interview, Anm. d. Red.). Das kann „First generation students“ betreffen, also Personen, die als Erste in ihrer Familie ein Studium aufnehmen. Oder Studierende mit Migrationshintergrund, Geflüchtete, Studierende mit Kind oder Studierende mit körperlicher Beeinträchtigung.

Jede dieser Gruppen sieht sich vermutlich vor unterschiedlichen Herausforderungen, wenn sie an die Universität kommt?

Genau. In unserem Projekt haben wir den Fokus darauf gelegt, sprachliche Barrieren abzubauen. Internationale Studierende suchen etwa nach leicht verständlichen Informationen auf Deutsch oder Englisch. „First generation students“ fühlen sich hingegen zu Beginn oft eingeschüchtert von der Fachsprache im akademischen Diskurs. Gehörlose Studierende brauchen wiederum erklärende Videos mit Untertiteln.

Welche Maßnahmen haben Sie im Rahmen des Projekts erarbeitet?

Die Projekt-Maßnahmen basieren auf der hervorragenden Arbeit der Projekt-Gründerin Sarah Hostmann, die mittlerweile die Welcome-Sprechstunde für Geflüchtete leitet, sowie auf der Zusammenarbeit mit Tra My Nguyen und weiteren Kolleginnen und Kollegen.

Wir haben leicht verständliche und übersichtliche Informationen zum Studium erstellt, online in Form von Wikis und Erklär-Videos sowie gedruckt als Flyer und Infografiken. Für Studieninteressierte sowie für Studienanfängerinnen und -anfänger sind vor allem der Online-Studieneinstiegs-Assistent (OSA) und die „Studium“-Webseiten wichtige Informationsquellen.

Diese Seiten überprüfen wir immer wieder auf ihre Gebrauchstauglichkeit, sodass wir die Angebote regelmäßig aktualisieren und erweitern können. Zudem sorgen wir für die Übersetzung wichtiger Seiten rund ums Studium auf Englisch und die Untertitelung von Info-Videos.

Das Wiki „Studieren leicht gemacht“ enthält Hinweise zum wissenschaftlichen Arbeiten und einem gelungenen Zeitmanagement. Außerdem finden Studierende dort Tipps zum Umgang mit Stress, Prüfungsangst oder Schreibblockaden. Wir erweitern das Wiki zurzeit um Themen rund ums Studium wie zum Beispiel Gesundheit, Job- und Wohnungssuche oder Finanzen.

Welche individuellen Unterstützungsangebote gibt es?

Wir bieten fächerübergreifende Workshops an, auch online. Aktuell gibt es einen Mixed-Media-Kurs zum Thema „Diversitätsressourcen“. Dort können sich Studierende mit internationalem Lebenslauf oder multikulturellen Verbindungen mit Identitätsfragen auseinandersetzen: Was bedeutet es für sie, in Deutschland zu leben? Welchen Mehrwert hat es, in mehreren Kulturen zu Hause zu sein? Oft entdecken die Teilnehmenden dabei Ressourcen oder Fähigkeiten an sich, derer sie sich anfangs gar nicht bewusst waren.

Wer im Wintersemester 2020/2021 ein Studium an der Freien Universität angefangen hat, hat die Hochschule pandemiebedingt vielleicht noch nie von innen gesehen. Auch Studierende aus höheren Semestern berichten, dass ihnen der Unialltag in Präsenz fehlt. Bietet das Projekt „Vielfalt der Studierenden“ auch Strategien zur Bewältigung der aktuellen Situation?

Von der US-amerikanischen Autorin Barbara Sher stammt die Aussage „Isolation is a dream killer!“. Sie meint damit, dass wir uns mit anderen Menschen vernetzen müssen, um unsere Potenziale zu entfalten.

Um der Vereinsamung, die viele Studierende in der Pandemie empfinden, zu begegnen, haben wir einige Präsenz-Angebote entwickelt. Unter Einhaltung der Hygieneauflagen führen wir Veranstaltungen im Freien durch. Hier können sich die Studierenden austauschen und sich gegenseitig Mut machen.

Zudem beteiligen wir uns an den sogenannten Gartengesprächen, die Kolleginnen und Kollegen der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung organisieren. Wir möchten unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen wieder stärker in Kontakt treten mit Studierenden und Beschäftigten unserer Universität. Unsere Erfahrungen mit diesen Formaten haben wir im Wiki „Outdoor-Beratung“ zusammengefasst.

Es ist ganz natürlich, sich in der Pandemie überfordert – oder auch unterfordert – und einsam zu fühlen. Helfen kann es, sich daran zu erinnern, welche Herausforderungen man in seinem Leben schon gemeistert hat. Welche positive Erfahrung der eigenen Kraft kann mir in der Pandemie helfen? Es gibt spezielle Strategien zur Stressbewältigung und Techniken, um negativen Gefühlen zu begegnen.

Das Projekt „Vielfalt der Studierenden“ läuft noch bis Ende Juni. Wenn Sie Zwischenbilanz ziehen sollten?

Uns erreichen immer wieder positive Rückmeldungen und auch wertvolle Verbesserungsvorschläge – nach Workshops etwa oder über die Feedback-Funktion des Online-Assistenten. Meiner Ansicht nach gibt es noch viel zu tun, um die Vielfalt der Studierenden zu fördern. Die Teilnahme der Freien Universität am Diversity Audit ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Ganz konkret möchten wir unser individuelles Beratungsangebot gern erweitern. Wir denken dabei an sogenannte Diversity-Coaching-Programme und Diversity-Erfolgsteams, in denen sich Studierende unterschiedlicher Fächer oder aus verschiedenen Ländern miteinander austauschen und dabei unterstützen, persönliche Ziele zu erreichen und – um auf das Anfangsbild zurückzukommen – das „Zwergengefühl“ vor großen Herausforderungen zu überwinden.

Die Freie Universität braucht die Vielfalt der Studierenden, um Perspektiven zu erweitern und Vorstellungen zu hinterfragen.

Die Fragen stellte Anne Stiller

Weitere Informationen

*Anmerkung der Redaktion:

Der ursprüngliche Satz „Sie weichen ab von dem traditionellen Bild des weißen männlichen Studenten mit akademischem Familienhintergrund“ wurde nach Rücksprache mit Dr. Luiza Olos durch den Satz „Völlig unabhängig von beispielsweise Geschlecht, Alter, Herkunft kann es vielfältige institutionelle und sprachliche Barrieren für Studieninteressierte und Studierende geben“ ersetzt.

Die Änderung geht auf den Hinweis einer Leserin zurück, dass der ursprüngliche Satz diskriminierend wirken könnte. Die Leserin hatte sich daraufhin mit Dr. Luiza Olos ausgetauscht und die Änderung vorgeschlagen.