Springe direkt zu Inhalt

Gyndog Gynnie, Huhn Herta und Läuferschwein Peter

Studierende der Veterinärmedizin üben die Notfallversorgung von Tieren online und an Modellen

01.11.2021

Einblick ins Innere: Am Pferdemodell lässt sich gut nachvollziehen, wie Koliken entstehen und behandelt werden müssen.

Einblick ins Innere: Am Pferdemodell lässt sich gut nachvollziehen, wie Koliken entstehen und behandelt werden müssen.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Ann Kristin Barton steht neben einem Pferd aus schwarzem Kunststoff. Ihr rechter Arm ist im Verdauungstrakt des lebensgroßen Modells verschwunden. „Wenn sich der Dünndarm wie ein aufgepumpter Fahrradschlauch anfühlt, enthält er zu viele Verdauungsgase – ein Zeichen dafür, dass er verdreht oder verklemmt ist.“

Die Tierärztin führt vor, was Studierende der Veterinärmedizin an diesem Kurstag unter anderem an der Station „Kolik“ lernen sollen. Leidet ein Pferd an einer Kolik, hat es starke Bauchkrämpfe, die unterschiedliche Ursachen haben können, auch lebensbedrohliche. Koliken machen etwa 80 Prozent aller Notfälle in der Pferdeklinik aus. Daher ist diesem Krankheitsbild eine von 16 Stationen im „Modellbasierten Notfallkurs“ für Studierende der Veterinärmedizin gewidmet.

Zwei Wochen lang die häufigsten Notfälle trainieren

Für den Notfallkurs hat sich Jörg Aschenbach, Professor für Veterinär-Physiologie und Prodekan für Lehre am Fachbereich Veterinärmedizin, gemeinsam mit seinem Team ein besonderes Konzept ausgedacht: Zwei Wochen lang trainieren 160 Studierende eines Jahrgangs intensiv die häufigsten Notfälle der Tiermedizin. Dazu gehört ein von einem Auto angefahrener Hund ebenso wie ein Rind mit komplizierter Geburt, ein Huhn mit Verdacht auf Salmonellen oder ein Pferd mit Kolik. Statt echter Patienten werden beim Training Tiermodelle verwendet, um die Handgriffe und Abläufe zu üben.

„Insgesamt haben wir rund 90 Modelle im Einsatz“, sagt die Tierärztin Vera Losansky, die an Konzept und Umsetzung des Kurses mitgearbeitet hat. Nur einige wenige Übungen müssten an Tierkadavern durchgeführt werden. „Uns ist wichtig, dass die Studierenden Notfallwissen für verschiedene Tierarten erwerben, bevor sie sich im letzten Jahr ihrer Ausbildung auf Kleintiere, Pferde oder Nutztiere spezialisieren“, sagt Jörg Aschenbach. So könnten sie später schnell handeln, bis spezialisierte Kolleginnen und Kollegen verfügbar sind.

Der „CPR-Dummy“, ein Hundemodell, an dem unter anderem die Wiederbelebung nach einem Herzstillstand geübt wird, ist sogar interaktiv: Am Monitor können die Studierenden während der Herzmassage verfolgen, ob sie alles richtig machen und das Herz wieder schneller zu schlagen beginnt. So luxuriös sind die meisten anderen Modelle zwar nicht ausgestattet, aber Form, Größe, Gewicht und äußere Beschaffenheit der Tiere – das ist wichtig für die Haptik – sind so realitätsnah wie möglich nachgebildet; aufklappbare Elemente bieten Einblick in das Innere.

Ein Pferdedarm kann sich leicht verknoten

Wer etwa am Modellpferd die Rückenklappe öffnet, kann gut nachvollziehen, wie Koliken entstehen: „Der Pferdedarm liegt relativ frei in der Bauchhöhle und kann sich in alle Richtungen verdrehen und verknoten“, sagt Ann Kristin Barton und zieht einen rosafarbenen Plastikschlauch hervor. Eine Kolik könne viele Ursachen haben: zu wenig Bewegung etwa oder wenn Pferde im Stall nur zwei- bis dreimal am Tag gefüttert werden, anstatt den ganzen Tag zu weiden.

Auch den nächsten Untersuchungsschritt können Studierende realitätsnah am großen Rappen üben: Mit einem Piks in die Bauchhöhle wird Flüssigkeit entnommen, deren Farbe schon vor einer Laboruntersuchung Aufschluss über den Zustand des Patienten gibt. Rot und trüb bedeutet, dass der verknotete Darm bereits Protein und Zellen ausschwitzt, krampflösende Spritzen möglicherweise nicht mehr helfen und eine Operation notwendig sein könnte.

Ein Pflichtkurs auf Basis von Modellen – das ist neu

An einem weiteren Modell, einem am Ständer montierten Pferdekopf mit Hals, üben die Studierenden, wie eine Nasen-Schlund-Sonde durch die Speiseröhre in den Magen eingeführt wird, um den Mageninhalt zu kontrollieren und gegebenenfalls abzusaugen. „Kein noch so geduldiges Pferd ließe sich das mehrmals hintereinander gefallen“, sagt Ann Kristin Barton.

In Deutschland bietet inzwischen jede Universität mit Veterinärmedizin auch modellbasierte Lehre an, erklärt Jörg Aschenbach. Oftmals bliebe sie dort jedoch auf kleine Gruppen und Wahlpflichtkurse beschränkt. „Ein Pflichtkurs mit sechs Semesterwochenstunden auf Basis von Modellen, wie wir ihn an der Freien Universität Berlin anbieten, das ist neu – und mit der Zahl der vorhandenen Lehrkräfte eigentlich kaum zu realisieren.“

Vera Losansky, Leonie Gnewuch, Lena Vogt und Jörg Aschenbach (v. l. n. r.) haben das Konzept für den modellbasierten Notfallkurs entwickelt und umgesetzt.

Vera Losansky, Leonie Gnewuch, Lena Vogt und Jörg Aschenbach (v. l. n. r.) haben das Konzept für den modellbasierten Notfallkurs entwickelt und umgesetzt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Doch der Professor und sein Projektteam haben aus der Not eine Tugend gemacht: Jede und jeder Studierende ist während des Kurses auch Coach für eine Station und unterrichtet Kommilitoninnen und Kommilitonen. „Damit vermitteln wir gleichzeitig die Fähigkeit, richtig anzuleiten, ein Team zusammenzustellen und unter Stress zusammenzuarbeiten“, sagt Vera Losansky.

Die notwendigen didaktischen Fähigkeiten, etwa eine Lehreinheit aufzubauen und Feedback zu geben, erwerben die Studierenden in den vorangehenden Semestern. Auf ihre eigene Coaching-Station bereiten sie sich besonders intensiv vor.

Gut vorbereitet dank E-Learning

Zuerst habe es durchaus Bedenken gegeben, ob Studierende die Rolle der Dozierenden hinreichend gut übernehmen können, berichtet Jörg Aschenbach. Aber tatsächlich funktioniere das sehr gut, auch, weil alle Teilnehmenden sich mit dem Stoff vorab per E-Learning auseinandersetzen müssen.

„Dafür nutzen wir die interaktive Lehr- und Lernplattform tetfolio, die in der Physikdidaktik an der Freien Universität von Sebastian Haase entwickelt wurde“, sagt Leonie Gnewuch, die ebenfalls am veterinärmedizinischen Modellkurs-Konzept mitgewirkt hat.

Die Studierenden bearbeiten dabei online 16 Fälle, die den Stationen im Praxisteil entsprechen: Sie müssen interaktive Aufgaben lösen, Fragen beantworten und erhalten Feedback. Gemeinsam mit dem Center für Digitale Systeme der Universitätsbibliothek hat das Projektteam des Notfallkurses dafür rund 40 Lernvideos gedreht – mit großartiger Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen aus den Kliniken des Fachbereichs.

Ausbildung im Sinne des 3R-Prinzips

Wenn die Theorie sitzt, geht es in die modellbasierte Praxis. „Das Training an Modellen reicht natürlich nicht aus, um einen Tierarzt oder eine Tierärztin auszubilden“, betont Jörg Aschenbach. Es sei etwas ganz anderes, an ein lebendes Tier heranzugehen. Viele Studierende wüssten noch nicht, welche Gefahren zum Beispiel von einem Pferd oder einer Kuh ausgehen können, vor allem dann, wenn diese unter Schmerzen leiden. „Deshalb brauchen die Studentinnen und Studenten neben der handwerklichen Ausbildung am Modell ausreichend Kontakt zu gesunden Tieren, bevor sie unter Anleitung ihre ersten Patienten behandeln.“

Das Problem: Jede Übung am gesunden Tier gilt in Deutschland als Tierversuch. Bei der Novelle des Berliner Hochschulgesetzes habe es eine starke Intention gegeben, Tierversuche in der Lehre komplett zu verbieten. „Hier mussten wir intervenieren, weil sonst die vorgeschriebene Ausbildung nicht mehr möglich gewesen wäre.“ Die intensive Vorbereitung am Modell ist aus Aschenbachs Sicht die beste Lösung für den Konflikt – ganz im Sinne des 3R-Prinzips für den Tierschutz, bei dem es darum geht, Tierversuche zu vermeiden („replace“), zu verringern („reduce“) und zu verbessern („refine“).

Sichere Betäubung trainieren

Das Modell, mit dem geübt werden kann, wie Tiere mithilfe eines Bolzenschusses betäubt werden können, ist gerade noch rechtzeitig vor Kursstart aus Kanada eingetroffen. Für die stabile Halterung gibt es austauschbare Köpfe – Kuh, Schwein, Bulle – denn der Ansatzpunkt für den Bolzenschuss ist bei den unterschiedlichen Tierarten verschieden.

Die Übung soll die Studierenden auf den Ernstfall vorbereiten: Nottötung eines verletzten Tieres etwa; außerdem ist die Methode Standard in Rinderschlachtbetrieben. „Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben anfangs Hemmungen, das Gerät zu bedienen“, berichtet Rudi Isbrandt, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Fleischhygiene am Fachbereich Veterinärmedizin, der diese Station ins Leben gerufen hat.

Die längliche Metallhülle wird mit einer Kartusche beladen, die den Schlagbolzen antreibt. Der Druck treibt den Bolzen durch die Schädelplatte ins Gehirn und führt zur Betäubung, beim Auslösen gibt es einen lauten Knall und einen Rückstoß. „Wer das mehrmals geübt hat, traut sich eher zu, die Methode auch an einem lebenden Tier anzuwenden“, sagt Rudi Isbrandt. An der herausnehmbaren Stirnplatte des Rinderkopfes lässt sich anschließend prüfen, ob der Schuss richtig angesetzt war und eine sichere Betäubung erfolgt wäre.

Modelle aus der eigenen Werkstatt

An der Station nebenan geht es ruhiger zu: An einer Henne namens Herta üben die Studierenden unter anderem die Blutentnahme aus der Flügelvene, die Injektion in den Brustmuskel und die Tupferprobenentnahme aus der Luftröhre. „Schön ist an diesem Modell auch die befiederte Kloake“, sagt Vera Losansky. Die Kloake, das ist beim Huhn der eine „Ausgang“ für alles: Urin, Kot und Ei. Tatsächlich müsse man meist etwas üben, um beim Tupferabstrich diesen Ausgang im Gefieder zu finden.

Herta ist „Marke Eigenbau“: Weil es ein geeignetes Hühnermodell auf dem Markt nicht gab, wurde ein Spielzeughuhn in der eigenen Modellwerkstatt umgebaut. Auf eigene Entwicklungen greift das Team auch dann zurück, wenn Modelle auf dem Markt sehr teuer sind. So kostet das Trainingspferd mit Innenleben in der Anschaffung etwa 40.000 Euro, zuzüglich der Kosten für immer wieder anfallende Reparaturen und Verbrauchsmaterial. Deshalb wird in der Werkstatt gerade ein günstiges Plastikpferd umgebaut, das vom Hersteller eigentlich nur zur Dekoration gedacht war.

Die Ausgründung Vetiqo vertreibt Tiermodelle weltweit

Aus der Modellwerkstatt, in der auch Studierende mithelfen, hat sich bereits ein Start-up ausgegründet. Unter dem Firmennamen Vetiqo vertreibt die Tierärztin Laura Schüller mit ihrem Team weltweit Modelle für die tiermedizinische Ausbildung.

Durch die Zusammenarbeit von Ausgründung und Fachbereich ist zum Beispiel Peter, das Läuferschwein, entstanden. Es verfügt über verschiedene Trainingsmodule – von der Blutentnahme bis zur Kastration. „Ein echtes Schwein bewegt sich natürlich und kann sehr laut werden, wenn man ihm Blut abnehmen will“, sagt Vera Losansky. Mit Peter könne man in Ruhe üben, wie ein Läuferschwein für die Blutentnahme fixiert werden muss und wie man das entsprechende Blutgefäß findet.

Peter, das Läuferschwein, verfügt über verschiedene Trainingsmodule – von der Blutentnahme bis zur Kastration.

Peter, das Läuferschwein, verfügt über verschiedene Trainingsmodule – von der Blutentnahme bis zur Kastration.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Im nächsten Gebäude stehen fünf Studierende um Gyndog Gynnie herum. Die dunkelbraune Labradorhündin aus Kunststoff und Silikon in Lebensgröße ist ein Geburtssimulator. An ihr können Studierende den kompletten Geburtsvorgang nachvollziehen und Eingriffe bei Komplikationen üben. Mit dabei: das Welpentrio Ute, Schnute und Kasimir.

Die Studierenden üben den Ultraschall unter der Geburt, eine Kommilitonin coacht: „Wisst ihr, welche Herzfrequenz für Welpen bei der Geburt normal ist? Ihr müsst euch vorstellen, dass der Welpe währenddessen richtig Stress hat.“ 200 bis 240 Schläge pro Minute sind in dieser Situation üblich, kritisch wird es ab einem Wert von unter 150 Schlägen pro Minute, das wissen die Teilnehmenden dank ihrer Online-Vorbereitung.

„Für die umfangreiche Lernplattform konnten wir auch auf Inhalte des Projekts QuerVet zurückgreifen“, sagt Leonie Gnewuch. Für das QuerVet-Lernkonzept seien am Fachbereich Veterinärmedizin bereits viele fallbasierte Szenarien aus der tierärztlichen Berufspraxis digital aufbereitet worden.

Viele Partner und Unterstützer haben mitgewirkt

Und überhaupt habe das Konzept für den Notfallkurs nur dank vieler Unterstützer und Partner umgesetzt werden können. Geld dafür kam unter anderem von der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Antidiskriminierung, vom Verbund Berlin University Alliance und aus dem Budget der Freien Universität für das Bund-Länder-Programm Qualitätspakt Lehre.

Jörg Aschenbach freut sich, dass aus dem Konzept nach zwei Jahren intensiver Vorbereitung nun ein gelungener Praxiskurs geworden ist. Das positive Feedback der Studierenden sporne ihn an, auch weiterhin auf Peer-to-Peer-Coaching und modellbasierte Lehre zu setzen.

Sein nächstes Wunschprojekt: ein fester Raum, in dem Studierende jederzeit eigenständig an Modellen üben können. Ausführliches Material zur Anleitung sei bereits vorhanden, Bibliotheksbeschäftigte könnten Aufsicht führen, weitere Bausteine wie geeignete Räume fehlten derzeit aber noch. Dennoch ist der Prodekan für die Lehre am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität sicher, dass diese Form der Lehre weiter an Bedeutung gewinnen wird: „Wenn wir einen Teil der Ausbildung auf das Training an Modellen verlagern, leisten wir einen wichtigen Beitrag zum Tierschutz.“

Weitere Informationen