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Von Neuem sehen lernen: Plädoyer für eine Dekolonisierung Europas

In der vierten Berlin Southern Theory Lecture zeigte Françoise Vergès auf, wie die gewaltvolle Kolonisierung Afrikas durch Europa im gegenwärtigen Europa andauert und fortwirkt

22.02.2023

Françoise Vergès hielt die vierte „Berlin Southern Theory Lecture“

Françoise Vergès hielt die vierte „Berlin Southern Theory Lecture“
Bildquelle: Anthony Francin

Françoise Vergès ist eine dekoloniale, feministische Denkerin und Aktivistin, die das „Streben nach Emanzipation und Befreiung" als Antrieb ihrer Arbeit und Forschung bezeichnet. Sie untersucht, wie sich Formen von Rassismus, Sexismus und Unterdrückung in der Gesellschaft durchsetzen und dadurch Ungleichheit, Ausbeutung und Diskriminierung aktiv unterstützt und normalisiert werden.

Sie stammt aus La Réunion, einem Übersee-Département Frankreichs östlich von Madagaskar im Indischen Ozean und  ehemaligen französischen Kolonie. Ihr Vortrag im Rahmen der Berlin Southern Theory Lecture war die vierte Veranstaltung dieser Reihe, die vom Institut für Sozial- und Kulturanthropologie der Freien Universität Berlin, dem Leibniz-Zentrum Moderner Orient und dem Ethnologischen Museum zu Berlin organisiert wird. 

Andauernde koloniale Machtstrukturen

Mit dem Titel „A Program of Total Disorder: Decolonizing Europe” zitierte Vergès den aus Martinique stammenden Psychiater und politischen Philosophen Frantz Fanon (1925–1961), den Vordenker der Dekolonialisierung: „Die Dekolonisierung, die sich vornimmt, die Ordnung der Welt zu verändern, ist, wie man sieht, ein Programm absoluter Umwälzung. Sie ist weder die Folge magischer Praktiken noch eine Naturkatastrophe oder eine freundliche Übereinkunft“ (aus „Die Verdammten dieser Erde“).

Die Dekolonisierung, von der Fanon und Vergès sprechen, ist keine Metapher: Sie ist ein historischer, kultureller und sozialer Prozess, der bis heute andauert, auch wenn die meisten ehemaligen Kolonien längst formal unabhängig geworden sind. Vergès zeichnete ein drastisches Bild der andauernden kolonialen Machtstrukturen aus Sicht der Kolonisierten: An die Stelle des „alten“ kolonialen Regimes sei ein rassifizierter, kolonialer Kapitalismus getreten, der sich auf die Zerstörung der Umwelt, auf Ausbeutung, Vertreibung, Kriege, Armut und Hunger stützt und sich davon nährt. Für die, die ihn erleiden müssen, bedeute er eine permanente globale humanitäre Katastrophe. 

Vergès schlägt die Brücke nach Europa, indem sie Frantz Fanon und den afrokaribisch-französischen Schriftsteller und Politiker Aimé Césaire zitiert. Beide seien sich einig, dass Europa sich gern als friedliebend und die Menschenrechte achtend darstelle, aber gleichzeitig Formen des Kolonialismus perpetuiere: Europa verstricke sich hoffnungslos, wenn es in einem Atemzug von Menschenrechten spreche und zugleich Menschen wie Tiere behandele. 

Podiumsdiskussion im Foyer der Museen Dahlem

Podiumsdiskussion im Foyer der Museen Dahlem
Bildquelle: Leibniz-Zentrum Moderner Orient

„Mission civilisatrice“

Ausgerechnet im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, habe der von Europa initiierte und organisierte transatlantische Sklavenhandel seinen Höhepunkt erreicht. Mit der Plünderung des afrikanischen Kontinents sei damals überhaupt erst die Idee von Europa als Kontinent entstanden, dessen Identität auf vermeintlich geteilten Werten beruhe, zitierte Vergès Fanon und Césaire. Selbst wenn es in Europa immer auch Konflikte und gegensätzliche Interessen gegeben habe: Gegenüber „den Wilden“ hätten sich die Europäer fortan als „zivilisiert“ und als mit der „mission civilisatrice“ beauftragt verstanden.

Vergès zeigte in ihrem Vortrag, dass eben diese Haltung nicht vergangen sei, sondern fortbestehe. Zum Beispiel in der andauernden Einteilung der Welt in Herrscher und Beherrschte: Während junge Europäerinnen und Europäer dazu ermuntert würden, sich die Welt durch Reisen anzueignen, sich zu bilden, sich die Welt zu erschließen, würden junge Schwarze Menschen aus dem globalen Süden mit Zäunen und Mauern, durch diskriminierende Gesetze, durch Grenzregime und Polizeigewalt daran gehindert, sich ebenso frei zu bewegen wie ihre weißen Altersgenossen.

Viele junge Schwarze Menschen lebten in ihrer Existenz bedroht und diskriminiert, in informelle oder illegale Arbeitsverhältnisse gezwungen. Dies bereite den Menschen in Europa aber offensichtlich keine schlaflosen Nächte, sondern sei nahezu Normalität, so sehr habe man sich in Europa daran gewöhnt. 

Ein anderes Europa ist möglich

Eine tatsächliche Dekolonisierung müsse man sich deswegen vorstellen als das Ende der Welt, in der wir leben; als das Ende einer Ordnung, die unermessliches Leid hervorgerufen hat und zugleich immer noch in unseren Köpfen steckt. Nicht nur als einen Wechsel der Machthaber in diesem oder jenem Land und auch nicht nur als die Zerstörung der jahrhundertealten rassistischen Dominanz gegenüber der Schwarzen Bevölkerung dieser Erde. 

Eine Schwierigkeit sei allerdings, sagte Vergès, dass es für die Dekolonisierung kein Modell gebe, kein historisches Vorbild. Auch, dass die Dekolonisierung zu einer Wiedergutmachung und einem Schlussstrich führe, könne man nicht erhoffen: Schließlich könne sie das, was geschehen ist, nicht ungeschehen machen. Mit dem französischen Installationskünstler und Fotografen Kader Attia (*1970) argumentierte Vergès, dass nur eine „fragmentierte Reparatur dessen, was zerbrochen wurde“, überhaupt möglich sei. 

Wie aber könne so etwas aussehen? Ein erster Schritt besteht Vergès zufolge darin, wieder und neu sehen zu lernen: Weil wir über Jahrhunderte gelernt hätten, manche Menschen nicht zu sehen, seien sie unsichtbar geworden. Danach gelte es, Europa in seiner gegenwärtigen Form zu verändern, das heißt: seine abschottenden, patriarchalen, rassistischen Strukturen abzuschaffen und ein solidarisches Europa in die Tat umzusetzen, das Geflüchteten, Ausgestoßenen, Illegalisierten nicht nur empathisch oder mit humanitären Gesten begegnet, sondern sie als Mitglieder einer Gemeinschaft von Gleichen begreift, als Träger gleicher Rechte.

Ein anderes Europa sei möglich, schloss Vergès ihren Vortrag: wenn auch erst am Ende eines weiten und schwierigen Weges. Denn Europas Dekolonisierung setze eine Dekolonisierung der Köpfe und der Körper voraus, eine Dekolonisierung unseres Denkens, unserer Institutionen, unseres Bildungssystems, unserer Art zu lieben, unserer Art zu schreiben, zu denken, unserer ganzen Kultur.

Kurz: Erst die vollständige Umwälzung unserer Welt dürfe sich tatsächlich Dekolonisierung nennen.