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Wie sich die liberale Weltordnung selbst bedroht – Vortrag von Michael J. Sandel an der Freien Universität

Elitenbildung, Ungleichheit, Globalisierung: Der Philosoph und Harvard-Professor Michael J. Sandel sprach über existenzielle Gefahren für die Demokratie und mögliche Auswege

13.06.2023

Popstar seiner Branche: der Philosoph und Harvard-Professor Michael J. Sandel

Popstar seiner Branche: der Philosoph und Harvard-Professor Michael J. Sandel
Bildquelle: Katy Otto

Ein warmer Sommerabend in Dahlem, die meisten Studierenden haben sich schon auf den Weg gemacht in den Feierabend. Nur im großen Hörsaal 1a in der Rostlaube ist es am 5. Juni noch trubelig, kaum ein Platz bleibt leer. Der Grund für den Andrang: Der Exzellenzcluster “Contestations of the Liberal Script” – kurz SCRIPTS – hat den Philosophen und Politikwissenschaftler Michael J. Sandel zu einer Gastvorlesung und Diskussion eingeladen. 

Sandel ist seit den 1980er Jahren Professor an der Harvard University. 1996 schrieb er ein Standardwerk zu den Gefahren für die Demokratie, das weitsichtig aktuelle Krisen vorwegnahm und das nun, grundlegend überarbeitet, auch auf Deutsch mit dem Titel „Das Unbehagen in der Demokratie” erschienen ist. Worin Sandel die Ursache für diese Demokratiekrise sieht, macht der Untertitel klar: „Was die ungezügelten Märkte aus unserer Gesellschaft gemacht haben”.

Wovon Michael J. Sandel, wie er in seiner Vorlesung erklärt, überzeugt ist: Die liberale Demokratie sei in Gefahr – und das schon lange bevor russische Panzer in der Ukraine die europäische Friedensordnung niederwalzten. Oder bevor die USA in Donald Trump einen Demagogen zum Präsidenten wählten und die Briten die Europäische Union verließen. 

Sandel spricht frei, gern mit einer Hand in der Hosentasche.

Sandel spricht frei, gern mit einer Hand in der Hosentasche.
Bildquelle: Katy Otto

Sandel ist kein Prophet – aber bei aller Vorsicht mit Superlativen schon so etwas wie ein Popstar seiner Branche: Seine Harvard-Vorlesungen streamten Millionen User auf Youtube, seine Bücher sind Bestseller. Er gibt Interviews, mischt sich ein und wagte sich in intellektuelle Auseinandersetzungen mit Koryphäen wie John Rawls, dem 2002 verstorbenen Philosophen und ebenfalls Harvard-Professor, der mit „A Theory of Justice“ 1971 eines der einflussreichsten Werke der politischen Philosophie verfasst hat. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz soll Sandel-Leser und -Bewunderer sein.

Auch an der Freien Universität Berlin kommt Michael J. Sandel gut an: Nach seinem Vortrag drängen sich die Studierenden um den Gast aus den USA, um ihre Ausgaben seiner Bücher signieren zu lassen.

Das liegt sicher nicht nur daran, was Sandel zu sagen hat. Sondern auch daran, wie er vorträgt. Er predige nämlich nicht, verspricht Stefan Gosepath, Professor für Praktische Philosophie an der Freien Universität, der den Abend moderiert und Sandel vorstellt. Dieser stelle vielmehr Fragen, „wie Aristoteles auf der Agora”, dem griechischen Versammlungsplatz der freien Bürger im antiken Athen. Tatsächlich: Sandel spricht frei, diskutiert mit den Studierenden, fragt nach, gern mit einer Hand in der Hosentasche. Nur für wörtliche Zitate huscht er kurz hinüber zum Redepult.

Sandel diskutierte mit den Studierenden, fragte nach.

Sandel diskutierte mit den Studierenden, fragte nach.
Bildquelle: Katy Otto

Seit 2019 untersuchen Forschende der Freien Universität Berlin und von acht weiteren Institutionen bei SCRIPTS, wie die liberale Ordnung derart fragil werden konnte – trotz ihrer unbestreitbaren Erfolge, seien sie politisch oder wirtschaftlich. Sandel glaubt: „Es ist weniger eine Bedrohung von außen als vielmehr eine Art Fehler im liberalen Quellcode selbst.“ 

Die Meritokratie, in der Status von der persönlichen Leistung abhängt, produziere nicht nur große Ungleichheit und kleine Eliten, so Sandel: Sie adele einerseits die Gewinner unserer Leistungsgesellschaft, die glaubten, “ihre Gewinne seien wohlverdient”. Und lade andererseits die Schuld bei jedem Einzelnen ab, der es nicht an die Spitze schaffe. „Das verstärkt die Hybris unter den Gewinnern und behandelt diejenigen, die fallen, schroff”, sagt Sandel. Nach dem Motto: „Ihr hattet ja eure Chance.” Und: „Euer Versagen ist eure Schuld.”

Aus diesem Gefühl, von oben herab behandelt zu werden, wachse eine Ablehnung gegenüber den Eliten unter denjenigen ohne Universitätsabschluss – eine soziale Gruppe, die dann für Donald Trump oder den Brexit stimme. Was die Regierenden im Westen – beinahe ausnahmslos Menschen mit Uni-Abschluss, wie Michael J. Sandel betont – völlig unvorbereitet getroffen habe.

Michael J. Sandel (links) und Stefan Gosepath, Philosophieprofessor an der Freien Universität

Michael J. Sandel (links) und Stefan Gosepath, Philosophieprofessor an der Freien Universität
Bildquelle: Katy Otto

Das eigene Milieu schont Sandel bei alledem nicht. Statt sich der ökonomischen Ungleichheit zu widmen, lieferten progressive Kräfte die moralisierende Begleitmusik zum neoliberalen Entgrenzungskapitalismus. Schließlich gehe es auch den Kosmopoliten darum, Grenzen einzureißen und als gestrig abzustempeln. Wer dem widerspreche, gerate schnell unter Bigotterieverdacht. „Das ist ein ökonomisches wie kulturelles Projekt”, sagt Sandel über die Globalisierung. Die Progressiven, rät er, müssten stattdessen dringend eine Sprache finden, um Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und ja, auch Patriotismus zu adressieren. Er ruft dazu auf, sich wieder auf die „Würde der Arbeit“ zu fokussieren. 

Seinen Charme auch unter den Studierenden macht dabei aus, dass Sandel bei alledem kein Fatalist ist. Er schließt seine Vorlesung in der Rostlaube mit einem Zitat des ehemaligen britischen Premierministers Tony Blair. Der habe mal die Globalisierung als naturgegeben dargestellt, wie die Abfolge von Sommer und Herbst. Die Klimakrise zeige doch aber, dass selbst die Jahreszeiten keineswegs unverbänderbar seien, kontert Michael J. Sandel. Seine Botschaft an diesem Abend: Dann muss sich doch auch die Globalisierung reformieren lassen.