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Die Ganztagsschule als Dorf

Der 1. Berliner Pädagog:innen-Tag wollte künftige pädagogische Fachkräfte aus unterschiedlichen Bereichen zusammenbringen. Multiprofessionelle Teams können die Bildungschancen von Kindern und die Arbeitsbedingungen für das Schulpersonal verbessern.

20.06.2023

Auf dem 1. Berliner Pädagog:innen-Tag diskutierten Fachleute über die Arbeit von multiprofessionellen Teams an Schulen und die Bildungschancen von Schulkindern.

Auf dem 1. Berliner Pädagog:innen-Tag diskutierten Fachleute über die Arbeit von multiprofessionellen Teams an Schulen und die Bildungschancen von Schulkindern.
Bildquelle: 1. Berliner Pädagog:innen-Tag

In Berlin lernen aktuell rund 336.600 Kinder und Jugendliche an allgemeinbildenden Schulen – Tendenz steigend. Zugleich gibt es in der Hauptstadt derzeit etwa 1.500 Lehrkräfte-Stellen, die nicht besetzt werden können – Tendenz steigend. Der Fachkräftemangel an den Schulen ist aber ein bundesweites oder sogar europaweites Problem. Vielerorts wird händeringend nach Lösungen gesucht, wie man die Kluft zwischen den wachsenden Schüler*innen-Zahlen und dem Lehrkräftemangel in den Griff bekommen kann. Rein zahlenmäßig zeichnet sich keine Trendwende ab. Gebraucht werden neue Konzepte. 

An der Freien Universität Berlin in Dahlem fand Mitte Juni (17. Juni) der „1. Berliner Pädagog:innen-Tag 2023“ statt, um einen anderen Ansatz in den Fokus zu rücken – nämlich die Arbeit von multiprofessionellen Teams an inklusiven Ganztagsschulen. Was zunächst sehr fachspezifisch klingen mag, ist tatsächlich alltägliche Realität. „In Berlin sind 90 Prozent aller allgemeinbildenden Schulen mittlerweile inklusive Ganztagsschulen“, sagt Marianne Schüpbach, Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik vom Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin. Dazu zählen alle Berliner Grundschulen, alle integrierten Sekundarschulen, Gemeinschaftsschulen und mittlerweile auch ein Viertel aller Gymnasien, an denen Kinder und Jugendliche also nicht nur während des reinen Schulunterrichts, sondern auch nachmittags außerunterrichtliche Lern- und Bildungsangebote besuchen. 

Lehrkräfte mit Sozialpädagog*innen als Team

Doch vielen Kindern, Jugendlichen, Eltern sowie auch Lehrkräften und weiteren Pädagog*innen an der Schule ist es mitunter gar nicht bewusst, dass sie es mit einer inklusiven Ganztagsschule zu tun haben sind. Zu häufig wird gedanklich noch zwischen „Unterricht“ und „Hort“ getrennt. Zu selten werden Lehrkräfte, Erzieher*innen, Kindheitspädagog*innen oder Sonderpädagog*innen als ein gemeinsames Team wahrgenommen. Ein Austausch auf Augenhöhe zwischen den verschiedenen Professionen mit verschiedenen Berufsbildern findet bislang zu wenig statt.

Marianne Schüpbach hat gemeinsam mit dem Professor für Leitung und Management frühkindlicher Bildungseinrichtungen der Alice Salomon Hochschule, Prof. Dr. Michael Brodowski, den „1. Berliner Pädagog:innen-Tag 2023“ ins Leben gerufen, um einen möglichst engen und frühzeitigen Austausch zwischen Lehrkräften, Erzieher*innen, Sonder- und Kindheitspädagog*innen, Sozialarbeiter*innen und anderem Schulmitarbeitenden zu fördern und zu etablieren. Rund 400 künftige und auch erfahrene pädagogische Fachleute aus der Praxis, der Wissenschaft und der Politik nahmen teil.

Erziehung ist Gemeinschaftssache

Auch Berlins neue Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch kam auf den Campus Dahlem, weil – wie sie betonte – „der Fachkräftemangel unterschiedlichster Art im pädagogischen Bereich“ das Thema Nummer eins in der Bildungspolitik ist. „Uns fehlen nämlich nicht nur Lehrkräfte, sondern uns fehlen auch Erzieher, uns fehlen spezialisierte Pädagoginnen und Therapeuten“, sagte die CDU-Politikerin.

„Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch zitierte in ihrem Beitrag ein afrikanisches Sprichwort.

„Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch zitierte in ihrem Beitrag ein afrikanisches Sprichwort.
Bildquelle: 1. Berliner Pädagog:innen-Tag

Ein Teil des wachsenden Personalbedarfs entstehe auch durch den Ausbau der Ganztagsschulen, bei dem Berlin als bundesweiter Vorreiter gelte, sagte die Senatorin und bemühte zugleich das bekannte Sprichwort aus Afrika: „Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Zwar sei die Hauptstadt schwerlich mit einem Dorf zu vergleichen. Berliner Ganztagsschulen könnten dem afrikanischen Sprichwort aber durchaus nahekommen.  „Denn damit Kinder gut aufwachsen können, brauchen sie viele unterschiedliche Menschen mit vielen individuellen Kompetenzen und Stärken, die in einer engen Gemeinschaft vertrauensvoll und kooperativ zusammenarbeiten“, sagte die Senatorin für Bildung, Jugend und Familie. 

Für bessere Bedingungen an Ganztagsschulen

Marianne Schüpbach sieht in Berlin ebenfalls das Potenzial, dem Fachkräftemangel auch mit multiprofessioneller Kooperation an inklusiven Ganztagsschulen zu begegnen. Gerade die Vielfalt der Stadt sollte gewinnbringend genutzt werden. Ganz praktisch könnten etwa ein türkischer Sportverein, ein vietnamesischer Kulturverein oder die Angebote eines Jugendclubs viel stärker in das Angebot von inklusiven Ganztagsschulen einbezogen werden. 

Für eine gute Zusammenarbeit der pädagogischen Fachkräfte müsse eine enge Vernetzung zum Beispiel von Erzieher*innen und Lehrkräften aber bereits während des Studiums oder der Ausbildung beginnen. Mit multiprofessionellen Teams könnten nicht nur die Bildungschancen für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen erhöht werden, ist sich Marianne Schüpbach sicher. Mehr Professionalisierung beim Austausch von unterschiedlichen Fachkräften an Schulen werde auch zu Arbeitsentlastung der Einzelnen und zu weniger Burn-outs führen, betont die Professorin.  

Lehrkräfte, Pädagog*innen und Erzieher*innen müssten frühzeitig die Perspektive und Arbeit der anderen kennenlernen, fordert auch Michael Brodowski von der Alice Salomon Hochschule. Man sollte sich wechselseitig auch über Fragen austauschen wie: Was ist eigentlich mein Bild vom Kind? Was ist eigentlich Erziehung für uns? Und welches Bild von Schule haben wir heute?

Mehr Austausch auf Augenhöhe

Für bessere Bedingungen an inklusiven Ganztagsschulen seien grundsätzlich auch mehr Räume, Infrastruktur und Personalressourcen nötig, sagen die beiden Forschenden in Richtung Politik. Das alleine reiche jedoch nicht, betonen Marianne Schüpbach und Michael Brodowski mit Blick in die eigene Fachcommunity. Vielmehr müsse die Arbeit von multiprofessionellen Teams an Schulen stärker als bislang in den Modulplänen und den Curricula der Universitäten, Fachhochschulen und Fachschulen verankert werden. Zur Vorbereitung auf die Arbeit an Schulen gehöre auch die Vorbereitung auf eine Kooperation auf Augenhöhe – auch mit Personal ohne pädagogischen Hintergrund. Künftig sollte es auch selbstverständlich sein, dass Erzieher*innen in der Schulleitung vertreten sind – was bislang kaum der Fall ist. 

Mehr Austausch auf Augenhöhe bewirken wollte der „1. Berliner Pädagog:innen Tag 2023“ mit Vorträgen, Diskussionen und Workshops zur Arbeit in multiprofessionellen Teams. Marianne Schüpbach und Michael Brodowski hoffen, damit den Start für regelmäßige Vernetzungstreffen dieser Art gegeben zu haben – um die Arbeitsbedingungen für das Schulpersonal und die Bildungschancen für Kinder und Jugendliche in Berlin in Zukunft zu verbessern.