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Messengerprojekt „Nachricht von Micha. Meine Flucht am Checkpoint Charlie“

Noch bis Anfang November kann jede und jeder die Zeit des Mauerbaus und die Flucht des 13-jährigen Michael auf dem Handy miterleben. Studierende der Freien Universität beteiligen sich an dem Zeitzeugen-Projekt.

19.09.2023

Nachrichten aus dem Jahr 1961: Gemeinschaftsprojekt macht die Zeit des Mauerbaus in Berlin erlebbar.

Nachrichten aus dem Jahr 1961: Gemeinschaftsprojekt macht die Zeit des Mauerbaus in Berlin erlebbar.
Bildquelle: Stiftung Berliner Mauer

„Du wirst es nicht glauben! Gerade im Radio gehört: In Berlin ist anscheinend die Grenze dicht.“ So lautet eine der ersten Nachrichten, die Micha via Messenger an seine Follower schickt. Noch bis Anfang November sendet Micha Nachrichten via WhatsApp, Telegram oder iMessage und berichtet von seinem Alltag in der Zeit des Mauerbaus und seiner Flucht. Hinter „Micha“ steckt ein Team der Stiftung Berliner Mauer, Studierende des Masterstudienganges Public History am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität (FU) haben das Projekt mitkonzipiert.

Das Projekt erzählt die reale Geschichte von dem in Ost-Berlin geborenen Michael „Micha“ Synowzik und wurde mit ihm gemeinsam entwickelt. Als die Mauer am 13. August 1961 gebaut wird, ist Micha zwölf Jahre alt. Der Junge erlebt den Mauerbau und beobachtet in den folgenden Wochen die Teilung der Stadt. Nachdem sein sechs Jahre älterer Bruder im September flieht, wagt auch er im Oktober 1961 mit seinem Vater die Flucht: Durch die Kanalisation unter dem Checkpoint Charlie.

„In Texten, mit Sprachnachrichten und historischen Bildern nimmt Micha die Empfängerinnen und Empfänger seiner Nachrichten mit in den Alltag Berlins kurz nach dem Mauerbau“, erzählt Lisa Albrecht, Mitarbeiterin der Stiftung Berliner Mauer, die das Projekt leitet. Alle Nachrichten Michas werden von ihr und einem Redaktionsteam verfasst. Basis dafür ist eine Dramaturgie für den Gesamtzeitraum, für die einzelnen Wochen sowie für die Tage, die zusammen mit den Studierenden des Masterstudiengangs Public History entwickelt wurde . Ergänzende Nachrichten der Redaktion erläutern historische Hintergründe, und in einem Glossar gibt es Zusatzinformationen, zum Beispiel zum Schulsystem in der DDR. 

Michael Synowzik als 11-jähriges Kommunionkind. Auf seinen Erlebnissen beruht das Projekt.

Michael Synowzik als 11-jähriges Kommunionkind. Auf seinen Erlebnissen beruht das Projekt.
Bildquelle: Stiftung Berliner Mauer, Schenkung von Michael Synowzik

„Über die ganz persönliche Geschichte von Micha möchten wir exemplarisch Einblicke in die Folgen des Mauerbaus geben. Wir wollen zeigen, welche Auswirkungen die ‚große Politik‘ auf den Alltag eines Jugendlichen hatte. Er konnte zum Beispiel von einem Tag auf den anderen nicht mehr die Blumen auf dem Grab seiner Mutter gießen“, sagt Lisa Albrecht. 

„Man kann Michael Synowziks Geschichte alleine nicht als allgemeingültige Alltagsgeschichte sehen, aber wir haben viel über seinen Alltag in der DDR gelernt. Zum Beispiel, welchen Wert Micky-Maus-Hefte für ihn und andere Jugendliche hatten“, sagt Clemens Bertram, Student des Masterstudienganges der Freien Universität. „Die DDR wurde in der Schule nicht viel thematisiert, eine solche Erzählung eines einzelnen Menschen ist schon eine andere Sache.“ Seine Kommilitonin Annika Betcke sieht das genauso: „Meine Mutter stammt aus Ost-Berlin. Sie ist mit der Mauer groß geworden. Daher hat mich dieses Modul unseres Studiengangs besonders interessiert.“ Sehr beeindruckt hat Annika Betcke die Schilderung Michael Synowziks von seiner Flucht durch die Kanalisation. „Da lief er sieben Stunden im Kloakenwasser umher – sich diese Schilderung anzuhören, das macht schon etwas mit einem.“

Um den Ablauf der Flucht zu rekonstruieren, hat das Redaktionsteam im November 2022 eine Begehung der Fluchtroute mit Michael Synowzik (rechts) gemacht.

Um den Ablauf der Flucht zu rekonstruieren, hat das Redaktionsteam im November 2022 eine Begehung der Fluchtroute mit Michael Synowzik (rechts) gemacht.
Bildquelle: Stiftung Mauer Berlin

Interessant seien auch die Diskussionen gewesen, inwieweit ein solches Messenger-Projekt die geeignete Form sei, einen Zeitzeugen Jugendlichen von heute vorzustellen. „Nachempfundene Echtzeit“, also das Anliegen, historische Ereignisse oder Personen aus den Geschichtsbüchern ins Hier und Jetzt zu holen, hat durchaus seine Tücken. „Wir haben diskutiert, welche Sprache Micha verwenden soll: Die Sprache eines Jugendlichen in den 1960er Jahren ist natürlich anders als die Weise, in der sich Jugendliche heute unterhalten. Wörter wie ‚cringe‘ für ‚peinlich‘ wären unpassend und anbiedernd. Wir sind ja alle Anfang bis Mitte 20 und auch nicht mehr im Thema, wie Teenager heute angesprochen werden wollen und selbst sprechen“, sagt Clemens Bertram. Eine Jugendliche wurde als Beraterin dazu geholt. „Da habe ich zum Beispiel gelernt, dass ‚cringe‘ schon wieder out ist“, sagt der Student. Man einigte sich auf einen Mittelweg: „Weder ganz verhaftet in der Sprache der 60er, aber auch nicht mit Anglizismen. Emojis verwenden wir aber.“ So lautet eine Nachricht unter einem alten Klassenfoto von Micha beispielsweise: „Das ist Margit (Herz Emoji). Sie ist einfach schnieke, hab’ sie die ganze Deutschstunde lang heimlich angeschmachtet.“

Es sei einem freigestellt, ob man die Geschichte von Micha einfach verfolgt oder ob man mit Micha kommunizieren will, sagt Lisa Albrecht von der Stiftung Berliner Mauer. Antworten oder Kommentare werden dann so wie auch die anderen Nachrichten vom Redaktionsteam geschickt. Aktuell habe man 2600 Follower, mit wachsender Tendenz. Mit dem Projekt wolle die Stiftung Berliner Mauer einen neuen Umgang mit Zeitzeugen erproben. Inspiration seien Projekte wie „Ich, Eisner!“ über Kurt Eisner, Anführer der Revolution des Jahres 1918, und das Instagram-Projekt Sophie Scholl gewesen, die man mit den Studierenden auch analysiert habe. 

Micha meldet sich ungefähr an drei bis vier Tagen in der Woche. Die Anmeldung im Messenger ist möglich auf der Website www.stiftung-berliner-mauer.de. Dort können auch alle Nachrichten nachgelesen werden.