Mameloschn am Osteuropa-Institut
Rund 100 Menschen aus der ganzen Welt nahmen in diesem Sommer an der Freien Universität Berlin an einer Jiddisch-Sommerschule teil
04.10.2024
Im August 2024 fand die Jiddisch-Sommerschule an der Freien Universität statt.
Bildquelle: Hiroshi TOYODA
„Du bist nicht hundert Prozent verliebt!", ruft Tal Hever-Chybowski energisch und macht vor, wie es aussehen muss: Seine Augen weiten sich, er greift sich mit der Hand an die Brust und sinkt mit einem tiefen Seufzer auf die Knie. Gemeinsam mit einem Dutzend Laien probt der Kursleiter eine halb-improvisierte Slapstick-Nummer im Stil der Commedia dell’arte – der Clou: alles auf Jiddisch. „Die Gesten müssen größer, übertriebener sein“, fordert er. „Nehmt euch Zeit, damit die Bilder aufs Publikum wirken können.“
Wer im August durch die Gänge des Osteuropa-Instituts schlenderte, hörte Jiddisch in den Kaffeepausen, auf den Fluren, in der Teeküche. Drei Wochen lang versammelten sich rund 100 Menschen an der Freien Universität für eine Jiddisch-Sommerschule. Es gibt kein jiddisches Land, in dem man in die Sprache eintauchen könnte, um sie zu erlernen. Jiddisch lebt von dem lebendigen Kontakt der Menschen, die es heute noch sprechen. Ausgerechnet in Berlin, fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Holocaust, konnte eine große Gruppe von Jiddisch-Enthusiasten einen Raum für diese Sprache schaffen.
Vor 1939 gab es fast 13 Millionen Menschen, überwiegend im östlichen Europa, die Jiddisch sprachen. Lebten sie in Russland, so sprachen sie auch Russisch. Lebten sie in Polen, konnten sie Polnisch. Ihre mameloschn, Muttersprache, aber war das Jiddische. Das war vor der Vernichtung, die auf Jiddisch churbn heißt. Heute ist diese Welt von jiddischland verschwunden, als Umgangssprache ist Jiddisch selten geworden.
Berlin als wichtiges Zentrum
Und doch schlägt die Sprache neue Wurzeln, auch in Berlin – und damit an dem Ort, von dem die Zerstörung ausging. „Jiddisch wieder hierher zu bringen, ist eine Weise zu sagen: Nein, sie haben es nicht geschafft“, sagt Tal Hever-Chybowski. Er ist Leiter der Medem-Bibliothek in Paris, einem jiddischen Kulturzentrum, das heute die größte Sammlung jiddischer Bücher in Europa beherbergt. „Wir haben einen Schatz, mehr als 30.000 Werke. Aber Bücher muss man auch lesen können“, gibt Tal Hever-Chybowski zu bedenken. Denn außerhalb chassidischer Gemeinden haben heute kaum noch säkulare Menschen Jiddisch als Muttersprache. Die Medem-Bibliothek veranstaltet deswegen kontinuierlich Jiddisch-Kurse und organisiert nun bereits zum vierten Mal in Zusammenarbeit mit dem Osteuropa-Institut eine jiddische Sommerschule auf dem Dahlemer Campus.
„Berlin ist eines der wichtigsten Zentren der modernen jüdischen Kultur. Wir dürfen nicht vergessen, dass Jiddisch hierher gehört“, sagt Tal Hever-Chybowski. Eine besondere Blüte erlebte das jiddische Berlin in den 1920er-Jahren, als dort bis zu 50.000 jüdische Kriegs- und Pogromflüchtlinge aus Osteuropa lebten. Es erschienen Hunderte jiddische Bücher in Berlin, auch Zeitungen und Zeitschriften wurden herausgegeben. Größen modernistischer jiddischer Dichtung wie Dovid Bergelson oder Moy-she Kulbak lebten zeitweise dort.
Jiddisch zu lernen, so Hever-Chybowski, sei wichtiger als Denkmäler, wichtiger auch als volkstümelnde Jüdischkeitsdarstellungen, wie sie in Deutschland so oft anzutreffen seien, und für das Lesen der Originaltexte gebe es keinen Ersatz. „Es ist wirklich toll, wenn jemand in der Lage ist, jiddische Werke im Original zu lesen. Zumal das auch dem klischeehaften Schtetl-Image des Jiddischen entgegenwirkt. Je mehr Menschen Jiddisch lernen, umso eher kommen sie mit der jiddischen Moderne, der Avantgarde, in Berührung.“
Dafür brachte die Medem-Bibliothek Jiddischisten und Jiddischistinnen aus Frankreich, Israel und den USA als Lehrende an die Freie Universität. Sie legen Wert auf handfeste Grundlagen: Drei Wochen lang wird jiddische Grammatik gepaukt und Literatur unterrichtet. Begleitet wird das Programm durch Chor- und Theaterworkshops auf Jiddisch, Vorträge über Übersetzungsprobleme, Übungen zur Entzifferung jiddischer Handschriften, aber auch zur queeren Jiddischkeit.
Seit Längerem beobachtet Tal Hever-Chybowski ein wachsendes Interesse an Kursen zu jiddischer Sprache und Literatur: „Zu unserem Sommerprogramm kommen Teilnehmende aus aller Welt. Aus Frankreich, Polen, den USA, Australien, sogar aus China“, erklärt er begeistert. Anmelden würden sich vor allem jüngere Menschen um die 20 Jahre und ältere Menschen ab 60. Etwa die Hälfte von ihnen hätten keinen jüdischen Hintergrund. „Wir sind eine Lerngemeinschaft, die allen offen steht.“
Die Gründe, Jiddisch zu lernen, sind Tal Hever-Chybowski zufolge vielfältig: Manche wollten die Sprache ihrer Großeltern wiederentdecken, die sich unter dem Druck der Assimilation aufgelöst habe. „Viele unserer jüdischen Teilnehmer finden erst durch Jiddisch Anknüpfungspunkte, die ihnen erlauben, sich mit ihrem eigenen Jüdisch-Sein zu identifizieren“, erklärt Tal Hever-Chybowski. Andere kämen, weil Jiddisch ein wichtiger Teil ihrer akademischen Ausbildung sei, Sprachwissenschaftler oder Studierende jüdischer Geschichte. „Und dann gibt es noch die, die einfach gerne neue Sprachen lernen. Aber das trifft auf praktisch alle zu, die Jiddisch lernen.“
Brücke zwischen Generationen
„Ich bin auf zwei Wegen zum Jiddischen gekommen“, sagt Hanna, eine junge Studentin aus Chicago, die bei der Sommerschule eine Ausbildung zur Jiddisch-Lehrerin absolviert. „Zuerst war Jiddisch so etwas wie ein unbekanntes Familienerbe. Später habe ich durch die Slawistik die jiddische Literatur entdeckt und lieben gelernt.“ Besonders angetan habe es ihr die litauisch-amerikanische Autorin Yente Serdatsky, die zu Lebzeiten Zehntausenden jiddischen Zeitungsleserinnen und -lesern bekannt war. „Nur ein winziger Bruchteil der jiddischen Literatur ist bisher in irgendeine andere Sprache übersetzt worden. Das ist ein völlig unterforschtes Gebiet mit vielen unentdeckten Schätzen.“
Eine der Lehrerinnen der Sommeruniversität ist Reyze Turner. Die Historikerin und Jiddisch-Übersetzerin, aufgewachsen im US-Bundesstaat New Mexico, begreift Jiddisch als eine Brücke zwischen den Generationen. „Jiddisch war die Sprache meiner Vorfahren, aber abgesehen von einem Wort hier und da wurde es in meinem Elternhaus nicht mehr gesprochen.“ Im Jahr 2012 begann sie, Jiddisch zu lernen. „Ich war von der Sprache so fasziniert, dass ich mich da so richtig reingeworfen habe.“ Sie studierte Jiddisch an der Hebräischen Universität Jerusalem, vertiefte am Yiddish Book Center in Amherst im US-Bundesstaat Massachusetts ihre Sprachkenntnisse, lernte in Boston, New York und Paris. Inzwischen bildet sie Jiddisch-Lehrkräfte aus und weiter.
Verschmelzung vieler Einflüsse
„So interessant und vielleicht einzigartig am Jiddischen ist die große Zahl der Sprachen, die es umgeben“, sagt Reyze Turner. In der Wissenschaft spreche man von einer fusion language – auf Jiddisch: schmelzschprach. „Um die siebzig Prozent der Wörter kommen ursprünglich aus dem Mittelhochdeutschen. Allerdings mit hebräischen Buchstaben geschrieben, von rechts nach links. Ein weiterer Teil stammt aus dem Hebräischen. Und dann sind da noch die romanischen und slawischen Komponenten aus der jeweiligen Umgebung, je nachdem, wo man sich befindet.“
Diese Verschmelzung unterschiedlicher Einflüsse passt in eine globalisierte Welt, in der Interkulturalität die Regel wird, findet auch Susanne Strätling, Professorin für osteuropäische Literaturen und Kulturen am gastgebenden Osteuropa-Institut: „Jiddisch ist eine Sprache ohne Territorium, die alle Grenzen überschreitet. Als Europa im 19. Jahrhundert nach Nationalstaaten strebte, wurde Jiddisch Ausdruck eines politischen Selbstbewusstseins jenseits geografisch-territorialer Festlegung.“ Dass das Institut ein Teil dieses vitalen jiddischland ist, erfülle sie mit Freude. Überhaupt: Solch eine lebendige Atmosphäre, in der in Seminarräumen gesungen und im Hörsaal Theater gespielt wird, herrsche sonst selten am Institut.
„Die Zukunft von Jiddisch ist sicher. Ich habe keine Angst um Jiddisch“, sagt Tal Hever-Chybowski. „Die sprachlichen Strukturen, die Literatur, der ganze Korpus, sogar Aufnahmen sind da.“ Die Sprache der Diaspora gibt es als gedrucktes Land, aus dem niemand mehr vertrieben werden kann. „Was ich mir wünsche ist, dass die Menschen, die Jiddisch lernen wollen, sich auch für die Literatur interessieren und dass alle, die sich heutzutage mit den beängstigenden Fragen beschäftigen, die uns an Geschichtswiederholungen erinnern, Antworten in dieser fantastischen Minoritätenliteratur finden.“