„Bildung findet nicht nur im Unterricht statt“
Warum qualitativ hochwertige Ganztagsangebote in Schulen wichtig sind: Interview mit Grundschulpädagogin Professorin Marianne Schüpbach
10.10.2024
Vom Arbeitsbereich Allgemeine Grundschulpädagogik der Freien Universität: (v.l.n.r.) Dr. Nanine Lilla, Dr. Nicole Bellin- Mularski, Prof. Dr. Marianne Schüpbach, Jule Schmidt, Kim Hartung und Dr. Haiqin Ning
Bildquelle: Privat
Marianne Schüpbach ist Vorsitzende der internationalen Task Force Global Research in Extended Education der World Education Research Association (WERA). Die Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik an der Freien Universität Berlin plädiert für den Ausbau und die Entwicklung von qualitativ hochwertigen Ganztagsangeboten – eine erweiterte Bildung, auf Englisch „Extended Education“ – diese können entscheidend für den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen sein. Im australischen Brisbane hat Marianne Schüpbachs TASK FORCE an einer Konferenz kürzlich 150 Forschende aus 15 Ländern zusammengebracht.
Frau Professorin Schüpbach, was verstehen Sie unter Extended Education?
Es ist ein Sammelbegriff für ganz unterschiedliche Formen von Angeboten, bei denen Kinder und Jugendliche außerhalb des Unterrichts lernen und sich weiterentwickeln können. Das kann gemeinsames Basteln sein, Sport, Musik und Tanz, im Prinzip alle erdenklichen Formen von Aktivitäten und AGs/Programmen.
Ihnen gemeinsam ist, dass die Teilnahme freiwillig ist und nicht benotet wird. Solche Formate können in der Schule, aber auch in (Kooperation mit) Vereinen oder religiösen Kontexten stattfinden, am Morgen vor der Schule, über den Mittag, am Nachmittag oder während den Ferien.
Warum sind solche Angebote aus Ihrer Sicht so wichtig für den Bildungserfolg?
Ich habe mich in meiner Arbeit viel mit Schülerinnen und Schülern beschäftigt, die Schwierigkeiten in der Schule hatten. Ich habe meine Dissertation über das Thema Klassenwiederholung geschrieben und habe herausgefunden, dass diese Maßnahme kaum Wirkung zeigt: Junge Menschen, die Schwierigkeiten im Unterricht haben, werden nicht einfach dadurch besser, dass man ihnen das gleiche Programm noch einmal vorsetzt. Dagegen können alternative Angebote eine echte Bereicherung sein.
Heute plädiere ich für ein Umdenken. Bildung findet nicht nur im Unterricht statt! Für junge Menschen kann die Teilnahme an non-formalen AGs/Programmen und Aktivitäten zu einer besseren Integration und zu mehr Bildungserfolg führen. Im Mittelpunkt steht die aktive Teilnahme der Kinder und Jugendlichen an einem Angebot von hoher pädagogischer Qualität – sie sitzen nicht nur passiv da und hören zu, sondern arbeiten intensiv an Themen, die sie persönlich interessieren. Zudem erweist sich die Partizipation der Kinder und Jugendlichen als wichtig. Sie wissen am besten, was sie interessiert und welche Bedürfnisse sie haben.
Sie sind Vorsitzende einer globalen TASK FORCE zum Thema Extended Education. Womit befasst sich die Gruppe?
Die TASK FORCE ist Teil der WERA, der World Education Research Association. Wir widmen uns dem Thema Extended Education aus einer wahrhaft globalen Perspektive. In unserer Arbeitsgruppe haben wir mittlerweile 325 Mitglieder aus 42 Ländern. Auf unserer zweiten Konferenz, die wir kürzlich im australischen Brisbane abgehalten haben, haben wir 150 Menschen aus 15 Nationen zusammengebracht.
Wir verstehen uns als Plattform, die Forschende und Forschungsinteressierte zum Thema aus der ganzen Welt zusammenbringt. In einem ersten Schritt geht es dabei erst einmal darum, eine gemeinsame Sprache zu finden. Etwas, das wir in Deutschland „Ganztagsschule“ nennen, kennen die Menschen in Dänemark mitunter nicht unter diesem Namen. Wir hingegen können vielleicht nichts mit dem Konzept „Afterschool Program“ anfangen, das in den USA gängig ist.
Hinter den unterschiedlichen Begriffen verbergen sich natürlich auch unterschiedliche Vorstellungen, Programme und Infrastrukturen. Und hier können wir immens voneinander lernen.
Wie bewerten Sie die Situation in Deutschland im internationalen Vergleich? Gibt es hier genügend Angebote für Kinder und Jugendliche?
Es passiert hier gerade sehr viel. Der bundesweite Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz für Grundschulkinder bis zu Beginn der 5. Jahrgangsstufe ab 2026 erfordert in den nächsten Jahren einen massiven quantitativen Ausbau. Berlin war in den vergangenen Jahren ein Vorreiter. Hier ist die Ganztagsschule in der Grundschule mittlerweile die Regelschulform – auch in den anderen Schulformen ist dies weitgehend der Fall, nachmittags gibt es Ganztagsangebote. Das ist aus bildungswissenschaftlicher Sicht eine sehr positive Entwicklung.
Meines Erachtens geht bei den extracurricularen Angeboten aber leider oft Quantität vor Qualität. Es herrscht oft nach wie vor die Vorstellung, dass Bildung vor allem im Unterricht stattfindet – alles andere ist dann eben „Freizeit“. Hier muss ein Bewusstsein dafür wachsen, dass auch in Nachmittagsprogrammen die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Vordergrund stehen und die Aktivitäten entsprechend als erweiterte Bildungsangebote gestaltet werden sollten.
Hier können wir uns beispielsweise etwas von Schweden abschauen. Dort gibt es Lehrpläne nicht nur für den Unterricht, sondern auch für das Nachmittagsangebot, eben für die Bildung über den ganzen Tag. In Australien wurden vor wenigen Jahren Qualitätsstandards erarbeitet, denen das Angebot für Kinder und Jugendliche außerhalb des Unterrichts entsprechen soll. Diese Standards werden auch regelmäßig in den einzelnen Einrichtungen überprüft.
Wie kann es in Deutschland gelingen, die Qualität zu verbessern?
Dies kann unter anderem über eine weitere Professionalisierung der Pädagoginnen und Pädagogen in der Ganztagsschule, somit Lehrkräfte und weiteres pädagogisches Personal, im Hinblick auf ihre Arbeit in der Ganztagsschule, geschehen.
Das Konzept von Extended Education muss bei allen Qualifizierungswegen der Pädagoginnen und Pädagogen verankert werden. Im Lehramtsstudium ist der Blick im Allgemeinen nach wie vor fast nur auf den Unterricht gerichtet. In der Ausbildung von angehenden Erzieherinnen und Erzieher hingegen wird der Fokus oftmals hauptsächlich auf die frühkindliche Bildung in Kindertagesstätten gelegt. Dazwischen klafft eine Lücke, die wir künftig noch stärker schließen müssen.
Meinem Team und mir ist es sehr wichtig, an der Freien Universität im Speziellen im Lehramt an Grundschulen, den Studierenden hierzu den Aufbau von wichtigen Kompetenzen zu ermöglichen. Ich hoffe sehr, dass den Absolventinnen und Absolventen später auch der Praxistransfer gelingen wird und sie – und wir indirekt – damit einen Beitrag zu qualitativ hochwertigen Nachmittagsprogrammen für Kinder und Jugendliche leisten können.
Die Fragen stellte Dennis Yücel