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„Eine Übersetzung ist nicht Abbild, sondern Neuschöpfung“

Interview mit Thomas Weiler – am 31. Oktober um 19 Uhr hält der Übersetzer seine Antrittsvorlesung als August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessor der Freien Universität Berlin

28.10.2024

Der Übersetzer Thomas Weiler ist im laufenden Wintersemester August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessor am Peter-Szondi-Institut der Freien Universität Berlin.

Der Übersetzer Thomas Weiler ist im laufenden Wintersemester August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessor am Peter-Szondi-Institut der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Sergei Balai

Seit 2007 übersetzt Thomas Weiler aus dem Belarussischen, Russischen und Polnischen – von Belletristik über Lyrik bis hin zu Kinderbüchern. Im Interview spricht er über Übersetzungen als eigene kreative Schöpfungen und die Menschenrechtslage in Belarus.

Herr Weiler, Sie kritisieren, dass Übersetzungen öffentlich oft als „Verlustgeschäft“ verstanden werden. Was meinen Sie damit?

Wenn man in den großen Tageszeitungen Kritiken von übersetzten Romanen liest, herrscht dort meist die Vorstellung von einem makellosen, fast heiligen Original. Eine Übersetzung kann in dieser Vorstellung – egal wie gelungen sie sein mag – nur hinter das Original zurückfallen. Es ist ein defizitär orientierter Blick, der die Qualität einer Übersetzung gewissermaßen daran misst, wie viel von dem notwendigen Verlust sie zu begrenzen imstande ist.

Meiner Meinung nach ist das ein fragwürdiges Verständnis von Übersetzung. Eine Übersetzung ist kein Abbild des Originals, sondern eine Neuschöpfung. Sie muss versuchen, die Welt, die ein Autor in seiner Sprache geschaffen hat, in der eigenen Sprache zu erschaffen – mit all ihren Facetten und Stimmungen.

Bildergalerie: Thomas Weilers Antrittsvorlesung als August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessor für Poetik der Übersetzung trug den Titel „Zum Dialograum, Holzweg inklusive“.

In dem Seminar, das Sie im Rahmen der Gastprofessur anbieten, möchten Sie mit den Studierenden verschiedene translatorische Haltungen erkunden. Welche gibt es?

Klassisch ist beispielsweise die Frage, inwieweit sich Übersetzer*innen mit ihrer eigenen Person in die Übersetzung einbringen sollen. Da gibt es einerseits die Haltung, Übersetzer*innen gewissermaßen in der Rolle des Dienens zu sehen. Es geht darum, die Stimme des Autors wiederzugeben, sich selbst herauszunehmen.

Andere Übersetzer*innen plädieren dafür, einen eigenen Stil zu pflegen. Häufig sind das die, die selbst auch als Autor*innen tätig sind. Bei Gedichtübersetzungen der Lyriker Ernst Jandl und Paul Celan sind ganz eindeutig deren eigene Stimmen erkennbar.

Wo würden Sie Ihre eigene Arbeit verorten?

Das ist eine schwierige Frage! Ich bin auf jeden Fall Übersetzer und nicht selbst Autor. Mich interessiert die Vielfalt der Stimmen. Mit jedem neuen Autor, mit jedem neuen Roman eröffnet sich mir eine neue Welt. Ich bin neugierig auf die Töne, die Stimmungen, die mir entgegenschallen. Und dann interessiert mich die Frage: Wie könnten diese Töne auf Deutsch klingen? Beim Übersetzen spielen dann natürlich auch meine eigenen Lebens- und Leseerfahrungen hinein.

Der von Ihnen übersetzte Roman „Europas Hunde“ von Alhierd Bacharevič wurde 2022 in Belarus als extremistisch eingestuft und verboten. Der Autor musste sein Heimatland verlassen. Wie erleben Sie die Stimmung im Land unter der autoritären Herrschaft von Aljaksandr Lukaschenka ?

Ich bin Belarus seit dem Ende meiner Schulzeit eng verbunden, habe nach dem Abitur anderthalb Jahre in Minsk gelebt. Durch meine Arbeit stehe ich natürlich in engem Kontakt mit vielen Autor*innen und Verleger*innen.

Im Jahr 2020 habe ich miterlebt, wie die Proteste gegen die Wahlfälschung zunächst mit großen Hoffnungen auf einen Neuanfang verbunden waren – und dann brutal erstickt wurden. Seitdem hat sich die Situation weiter verschlechtert. Solche Buchverbote gab es früher nicht. Das Buch wurde aus allen Bibliotheken entfernt, wer es besitzt, macht sich strafbar.

So wie Alhierd Bacharevič mussten inzwischen die allermeisten kritischen Kulturschaffenden das Land verlassen. Wer bleibt, ist immensen Gefahren ausgesetzt. Erst in diesen Tagen wurde ein Übersetzer und Dolmetscher, den ich gut kenne, zu drei Jahren Haft verurteilt. Er hatte für das ukrainische Militär gespendet – in Belarus gilt so etwas als Terrorunterstützung.

Durch den Ukrainekrieg steht Osteuropa im Fokus der deutschen Öffentlichkeit wie lange nicht. Erleben Sie, dass sich der Blick auf die Region in der deutschen Öffentlichkeit wandelt?

Ich kann nicht für die Öffentlichkeit im Allgemeinen sprechen. Aber in der Kultur und in den Wissenschaften erlebe ich tatsächlich einen Wandel. Viele Slawistik-Institute sind sich in den vergangenen Jahren bewusst geworden, dass sie den Fokus jahrzehntelang zu einseitig auf Russland gelegt hatten. Es gab nach wie vor die Vorstellung eines „postsowjetischen Kulturraumes“. Jetzt fängt man endlich an, genauer hinzuschauen. Man entdeckt die Vielfalt der slawischen Sprachen neu – und die Welten, die sich beispielsweise in der belarussischen Literatur eröffnen.

Die Fragen stellte Dennis Yücel

Weitere Informationen

Die öffentliche Antrittsvorlesung von Thomas Weiler findet am 31. Oktober 2024 um 19 Uhr im Refugio Berlin (Lenaustraße 3-4, 12047 Berlin) statt.