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Das tanzende Klassenzimmer

Lehramtsstudierende lernen, wie Tanzen in der Schule bei der Wissensvermittlung helfen kann. Kursstart ist der 17. April 2025. Anmeldung möglich bis zum 14. April

11.04.2025

Tanzvermittlerin Rebecca Dirler (vorn) und ein Schwarm fischgewordener Vierklässler*innen

Tanzvermittlerin Rebecca Dirler (vorn) und ein Schwarm fischgewordener Vierklässler*innen
Bildquelle: Aaike Stuart

Unterricht findet im Sitzen statt. Dieser Grundsatz hält sich beharrlich an deutschen Schulen. Gleichzeitig verbringen Kinder und Jugendliche zu wenig Zeit mit körperlichen Aktivitäten. Ein Pilotprojekt an der Freien Universität Berlin lotet nun aus, welche Möglichkeiten bewegter Unterricht für das Lernen eröffnet und wie Lehrkräfte konkrete Tanz- und Bewegungsimpulse in ihre Schulstunden einbauen können.

In der Aula der Erika-Mann-Grundschule im Berliner Wedding spielen Viertklässler*innen auf dem grauen Linoleumboden Stille Post, während Tanzvermittlerin Rebecca Dirler Namensschilder verteilt. Die Kinder wirken routiniert – seit der ersten Klasse tanzen sie regelmäßig im Klassenverband, wie etwa in dem Format „Moving the classroom“, bei dem sie Lerninhalte des Berliner Lehrplans durch Tanz und Bewegung vermittelt bekommen. Heute verlassen sie dafür ausnahmsweise ihren Klassenraum, denn sie haben Publikum: 12 Lehramtsstudierende der Freien Universität beobachten vom Rand der Aula aus die ungewöhnliche Unterrichtseinheit.

Dass die vierte Klasse tanzerfahren ist, merkt man sofort. Es gibt niemanden, der genervt stöhnt oder die Lust verliert. Die Grundschulkinder sind sofort dabei, sichtlich froh, nicht immer nur sitzen zu müssen. Die Musik, die aus einem kleinen Lautsprecher schallt, ist fröhlich, das Thema bedrückend.

Kulturelle Bildung im Tanz

Zwei Dutzend Kinder wirbeln zum „Tanz der Moleküle“ durch den Saal. „Wir sind alle Mikroplastik“, ruft Rebecca Dirler. Die Kinder drehen sich um sich selbst und strudeln durch imaginäres Wasser. Mit vollem Körpereinsatz zeigen die Schülerinnen und Schüler, wie viel Spaß es machen kann, sich mit einem ernsten Thema zu beschäftigen – der Plastikverschmutzung der Meere –, wenn im Unterricht getanzt wird.

Seit sechs Jahren gehört Rebecca Dirler zur namhaften Tanz-Institution TanzZeit, einem Berliner Verein, der 2005 zur Vermittlung von Tanz an Berliner Schulen gegründet wurde. Der Verein schickt professionelle Tänzer*innen und Tanzpädagog*innen in die Klassen und bietet regelmäßig Fortbildungen für Lehrkräfte an.

„Durch Tanz und Bewegung werden Inhalte lebendig, was das Verstehen von Lernstoff sowie das Bilden von Verbindungen erleichtern kann. Außerdem werden alle Lernenden aktiviert, da sie die Bewegungen selbst ausführen müssen und nicht nur beobachten“, erklärt Dirler.

In Kooperation mit der Freien Universität Berlin hat TanzZeit das Pilotprojekt „Tandem Tanz und Schule: Kulturelle Bildung in der Lehrkräftebildung“ entwickelt. Im Kern zielt das Projekt darauf ab, Tanz als Teil kultureller Bildung fest in der Lehrerausbildung zu verankern – und zwar für alle Fachrichtungen. Denn: Was später in der Schule gelehrt werden soll, muss erst einmal von jemandem unterrichtet werden können. 

Der Pilotkurs startete zum Wintersemester 2024 und wird im Sommersemester 2025 fortgeführt. In dem praxisnahen Seminar lernen die Studierenden die Grundlagen der Kulturellen Bildung und wie sich Fachinhalte des Berliner Rahmenlehrplans durch Tanz und Bewegung vermitteln lassen. Die angehenden Lehrerinnen und Lehrer entwickeln eigene Unterrichtseinheiten und erproben Improvisation und Tanzkomposition als Wege, um alle Schülerinnen und Schüler einzubinden. 

Tanz der Mikroplastikkinder

TanzZeit entsendet zwei Mitarbeitende an die Freie Universität – An Boekman und Ulrich Huhn. Beide sind erfahrene und langjährige Tanzvermittler*innen. Ihr Unikurs verbindet in einem Seminar und einer Lernwerkstatt theoretisches Wissen mit viel Praxis und eigenem Erleben – und mit Hospitationen wie jener in der Erika-Mann-Grundschule.

Studierende der Freien Universität auf Hospitationsbesuch an der Erika-Mann-Grundschule in Berlin-Wedding

Studierende der Freien Universität auf Hospitationsbesuch an der Erika-Mann-Grundschule in Berlin-Wedding
Bildquelle: Aaike Stuart

Zurück in der Aula: Jetzt stoppt Dirler die Musik. Die Kinder halten inne. Sie ruft zum nächsten Spiel auf: Die Kinder sollen gestisch darstellen, was sie zuhause aus Plastik haben. „Ich sage mein Wort, zeige meine Bewegung“, lautet die Anweisung. Die Tanzvermittlerin mimt einen Blumentopf, aus dem sich eine Blume in die Höhe schlängelt. Die Kinder folgen mit Begeisterung: Eine Zahnbürste wird mit Putzbewegungen dargestellt, ein Spielzeugauto durch Lenkbewegungen, Sportkleidung, indem ein Kind pantomimisch in eine Hose steigt. Später bilden acht breitbeinig nebeneinander aufgestellte Studierende eine Kläranlage. Die „Mikroplastikkinder“ robben bäuchlings in Slalombewegung zwischen ihren Beinen durch. 

Immer wieder ist Dirler erstaunt über das hohe Maß an Kreativität und die Konzentration, mit der die Kinder dabei sind. „Wenn ich ihnen eine Aufgabe stelle, zum Beispiel, wie Fischschwärme durch Wasser zu schwimmen, macht jeder tänzerisch etwas anderes daraus“, sagt sie. Für die Tanzvermittlerin ist es wichtig, die Kinder eigene Ideen für Bewegungen entwickeln zu lassen. Bei ihr gibt es keine starren Bewegungsmuster, sie setzt auf Improvisation: „Im Tanz ist ein gewisses Maß an Fantasie gefragt, weil die Bewegungen oft abstrakt sind – und genau das kann sich positiv auf kreatives Problemlösen in anderen Bereichen auswirken.“

Lernen ist nicht ausschließlich Kopfsache

Dass das Tanzen im Unterricht das Lernen unterstützt, ist wissenschaftlich belegt: Studien zeigen, dass Lerninhalte, die mit Bewegung verknüpft und mehrfach zusammen wiederholt werden, deutlich länger im Gedächtnis verankert bleiben.

Shake it like a Polaroid picture: Studierende des Pilotkurses bei einer Lernwerkstatt im Berliner Kulturzentrum Podewil

Shake it like a Polaroid picture: Studierende des Pilotkurses bei einer Lernwerkstatt im Berliner Kulturzentrum Podewil
Bildquelle: Aaike Stuart

Auch die Lehramtsstudierenden der Freien Universität sind von dem Projekt überzeugt. „Es gibt viele praktische Anwendungsmöglichkeiten: Vokabeln lernen zum Beispiel oder Satzbau verstehen“, sagt Studentin Sarah. Aus einem Kurs für Mathedidaktik, den der FU-Dozent Johannes Hinkelammert anbietet, wusste die angehende Grundschullehrerin bereits, dass Bewegung auch bei Mengenlehre und Kopfrechnen hilft. Besonders Kinder der 2. Jahrgangsstufe können ein besseres Mengen- und Zahlenverständnis entwickeln, wenn sie den abstrakten mathematischen Konzepten eine körperliche Realität verleihen.

Das Praktische daran: Tanz und Bewegung brauchen kein Equipment, lassen sich spontan in den Unterricht einbauen, und haben sogar den willkommenen Nebeneffekt, dass die Kinder sich mehr bewegen. 

Ginge es nach Sarah, dürfte es im Lehramtsstudium deutlich mehr Raum für Kulturelle Bildung und Bewegung geben. Diesen Wunsch teilen auch ihre Mitstudierenden aus dem Pilotkurs. Besonders schätzen die angehenden Lehrkräfte den Praxisbezug – etwa wenn es um wirksame Methoden für Klassenmanagement geht, die aus ihrer Sicht im regulären Studium oft nicht ausreichend behandelt werden.

Selbstwertgefühl stärken

Neben der Stoffvermittlung steht für An Boekman auch die Entwicklung von Selbstbewusstsein im Vordergrund. „Es ist faszinierend zu beobachten, wie Kinder am Tanz wachsen, und wie das Tanzen zu einem positiven Körper- und Selbstbild verhelfen kann“, freut sich Boekman immer wieder aufs Neue. 2005 hatte die erfahrene Choreografin und Tanzvermittlerin begonnen, im Rahmen der Initiative „TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen“ Bewegungsgruppen zu unterrichten. Dabei spürte sie, dass sie mit dem Tanzunterricht Körperwissen und soziale Interaktion an die Kinder weitergeben konnte.

Kinder der Erika-Mann-Grundschule entdecken tänzerisch, wie Mikroplastik durch die Welt wandert: Es reist von Flüssen ins Meer, durch die Luft in den Boden, aus der Nahrung bis in unser Blut.

Kinder der Erika-Mann-Grundschule entdecken tänzerisch, wie Mikroplastik durch die Welt wandert: Es reist von Flüssen ins Meer, durch die Luft in den Boden, aus der Nahrung bis in unser Blut.
Bildquelle: Aaike Stuart

„Tanzen kann so vieles sein: Die Kinder können dabei Gefühle ausdrücken, Spaß an Bewegung und Musik entwickeln, sich austoben und neue Talente an sich entdecken. Wenn Schülerinnen und Schüler gemeinsam tanzen, kann das den Klassenverband stärken“, erklärt Boekman. „Über die Jahre machen wir die Erfahrung, dass die Kinder von der ersten Klasse an so stolz auf ihr Können sind. Das ‚Ich-kann-Gefühl‘ über Tanz – oder insgesamt über die kreativen Kompetenzen – führt zu Mut, sich an andere Aufgaben heranzutrauen.“

Die Kinder bestätigen diese Beobachtung: „Wenn ich tanze, dann zeige ich, was ich kann“, sagt eine junge Tänzerin. „Mir gefällt, dass man nichts falsch machen kann. Da fühle ich mich so frei“, bemerkt ein anderer und eine dritte fügt hinzu: „Es ist schön, zusammen zu tanzen. Zusammen ist es kräftig.“

Tanz als gleichberechtigte Kunstform

Im Fächerkanon der öffentlichen Schulen sind Musik und Kunst selbstverständlich. Die Tanzkunst ist es nicht. Dabei ist beim künstlerischen Tanz der Prozess das Ziel, nicht die Leistung wie im Sport. Die Aufgabenstellungen erlauben unterschiedliche Lösungswege. „Ausprobieren und Entdecken sind wissens- und persönlichkeitsbildende Erfahrungen, die im Schulunterricht oft zu kurz kommen. Im gemeinsamen tänzerischen Schaffensprozess schulen die Kinder und Jugendlichen ihre Wahrnehmungs- und Kritikfähigkeit“, sagt Boekman.

Sie hofft, durch die Kooperation mit der Freien Universität den Tanz in möglichst viele Schulen tragen zu können. „Das Allercoolste ist, wenn im Workshop bei den Studierenden eine Tür aufgeht und sie selbst Ideen entwickeln, was bei ihnen im Unterricht funktionieren könnte. Diesen Anschub will ich geben.“ Für die Zukunft wünscht sie sich, dass Tanz – wie Musik, Literatur und bildende Kunst – an jeder Schule fest im Lehrplan verankert wird.

An den Kindern in der Erika-Mann-Grundschule ist nach 90 Minuten in der Aula zu erahnen, was das bewirken könnte. Sie lachen und haben sichtlich Spaß, sind aber trotzdem konzentriert bei der Sache, alle machen mit. Und nebenbei haben sie an diesem Vormittag ihr Wissen über die Umwelt erweitert. Ein Student bemerkt: „Die Kinder haben gar nicht bemerkt, wie viel sie gelernt haben.“

Weitere Informationen

Mitmachen
Lehramtsstudierende können sich noch bis zum 14. April für den Kurs „Bewegungsorientierte Unterrichtspraxis und kulturelle Bildung in der Schule“ anmelden. Der Kurs ist offen für Studierende aller Lehramtsstudiengänge der Freien Universität. Einige wenige Plätze sind noch frei. Informationen zur Anmeldung finden Sie auf der Webseite des Projektes „Tandem Tanz und Schule: Kulturelle Bildung in der Lehrkräftebildung“ und im Vorlesungsverzeichnis (Seminar 1222242 und Lernwerkstatt 1222243).

Kontakt
Dr. Bastienne Schulz, Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften, E-Mail: tandemtanz@geisteswissenschaften.fu-berlin.de