Ganz nah und doch so fern
Zum letzten Mal Post aus Großbritannien! Helena Winterhager wird die anregenden, zuweilen kuriosen Erfahrungen ihrer Oxford-Zeit nicht vergessen
26.02.2016
Diesen Anblick werde ich nicht vergessen: Im nasskalten Morgenwetter standen wir vor unserem College-Wohnheim, etwa 40 Gestalten – die einen noch im Pyjama, andere im Bademantel oder T-Shirt, ich selber hatte zum Glück noch rasch meine Daunenjacke übergeworfen. Was so aussehen mochte wie eine verirrte Karnevalstruppe, war tatsächlich nur das übliche Resultat des jährlichen Probe-Feueralarms. Wenn es um das Thema Feuerprävention geht, versteht man hier wenig Spaß und kennt kein Pardon: Wer bei dem Alarm im Zimmer bleibt, muss 50 Pfund Strafe zahlen.
Zu Studienbeginn muss jeder eine einstündige Einführung in „fire safety“ besuchen, in der die simpelsten Regeln der Brandvermeidung als große Weisheiten verkündet werden. Überall, selbst innerhalb der Wohneinheiten, wird fast jede Tür zur „fire door“ erklärt – wobei diese Brandschutztüren so konstruiert sind, dass sie automatisch zuschlagen und, wenn man nicht rücksichtsvolle Nachbarn hat, Tag und Nacht einen Heidenlärm verursachen. Der Gedanke an Lärmschutz spielt keine Rolle, wenn nur die Feuerschutzregeln eingehalten werden.
Gebäudesituation ist problematisch
Diese aus kontinentaler Sicht panische Feuerfurcht hat natürlich auch mit der jahrhundertealten Bausubstanz in einer historischen Stadt wie Oxford zu tun. Die Gebäudesituation stellt sich dabei ohnehin als problematisch dar. Während die Mieten horrend sind und Oxford in dieser Hinsicht als teuerste Stadt in ganz England gilt, muss die Mehrheit der Studierenden sich mit recht einfachen Behausungen begnügen: oft klimatisch und akustisch schlecht isolierte Räume, deren Qualität spürbar hinter dem Wohnniveau zurückbleibt, das man in Mittel- und Nordeuropa gewohnt ist.
Widerspruch bei Standards
Man kann am Beispiel der Wohnverhältnisse – auch das Eisenbahnwesen und Gesundheitssystem könnte man anführen – einen grundsätzlichen Widerspruch illustrieren: Auf der einen Seite gibt es in Großbritannien Bereiche wie die genannten, in denen das Land nicht immer die höchsten Standards der Moderne erreicht. Dem stehen andererseits Bereiche gegenüber, in denen die Gesellschaft fortschrittlicher und innovativer erscheint als bei uns. Die hochentwickelte Digitalisierung könnte man hier nennen oder die politische Debattenkultur und das stärker ausgeprägte Bewusstsein für Gleichstellungsfragen sowohl im Hinblick auf Frauen als auch Minderheiten.
Was in Erinnerung bleiben wird
Nicht zuletzt solche Kontraste machen für mich den Reiz der Englanderfahrung aus: Man lebt in einer der unseren ganz ähnlichen und zugleich doch – was manche Dinge betrifft – auch fremden, andersartigen Welt. So weitet sich der eigene Horizont und über den akademischen Ertrag hinaus, der natürlich mit einem Studium in Oxford verbunden ist, gewinnt man auch für das persönliche Leben ganz neue Perspektiven.
Mindestens bis Ende Juni wird meine Zeit in Oxford noch dauern. Was vor allem in Erinnerung bleiben wird, ist die pulsierende, fächerübergreifende Gemeinschaft, die ich im College genieße, das unglaublich reiche Angebot an intellektuell anregenden Veranstaltungen und der unüberbietbare internationale Austausch – eine Erfahrung, die ich allen nur wünschen kann.