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Der Archivar ist der Star

Siegward Lönnendonker feiert 80. Geburtstag – der Soziologe hat das „APO-Archiv“ der Freien Universität Berlin gegründet, das größte Archiv zu 1968 und zur sogenannten Außerparlamentarischen Opposition

18.04.2019

Seit 1958 mit der Freien Universität Berlin verbunden: Der Soziologe Dr. Siegward Lönnendonker wurde am 18. April 80 Jahre alt.

Seit 1958 mit der Freien Universität Berlin verbunden: Der Soziologe Dr. Siegward Lönnendonker wurde am 18. April 80 Jahre alt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Eine solche Sammlung gibt es weltweit kein zweites Mal: Das APO-Archiv, das Dokumente, Flyer, Plakate und Objekte von sozialen Bewegungen und vor allem der Außerparlamentarischen Opposition versammelt. Es befindet sich auf dem Campus Lankwitz der Freien Universität. Gegründet wurde es von Siegward Lönnendonker, der am heutigen 18. April 80 Jahre alt wird.

Am Anfang stand eine private Sammlung

Früher war das APO-Archiv ein Privatarchiv, 2004 ist es umgezogen und im Universitätsarchiv aufgegangen. Mittlerweile ist es eine feste Größe auch für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zu den bewegten Zeiten forschen.

Die Geschichte des Archivs begann 1963: Da beschloss Siegward Lönnendonker, die an der Freien Universität Berlin ausliegenden Flugblätter und Informationsschriften der politischen Studentengruppierungen privat zu sammeln. 1958 hatte er begonnen, Physik, Mathematik und im Nebenfach Chemie zu studieren. „Chemie hat mir aber das Genick gebrochen“, sagt Lönnendonker und lacht. Dann habe er die Fächer gewechselt, zu Soziologie, Politologie und Psychologie. Er studierte am Otto-Suhr-Institut, an dem sich die sozialen Bewegungen an der Freien Universität Berlin auf einzigartige Weise formierten.

Der erste Berührungspunkt kam zufällig zustande: „Ich wohnte mit Hubertus Hüppauf zusammen, der zu der Zeit Erster Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) an der Freien Universität war. Durch ihn bin ich Mitglied geworden und wurde gleich zu einer Israel-Reise eingeteilt. Diese Reise hat mich politisch in besonderer Weise sozialisiert“, sagt Lönnendonker.

SDS-Treffen im Wohnzimmer

Seit dem Ausschluss aus der SPD im November 1961 tagte der SDS in Hubertus Hüppaufs Wohnzimmer. Dort vervielfältigte der junge Politologie-Student Lönnendonker die politischen Flugblätter des SDS. Sofort hatte Lönnendonker die historische Bedeutung dieser Schriften erkannt. Er wollte die Sicht der Studierenden und ihr politisches Engagement festhalten – und die Bewertung nicht allein der Staatsanwaltschaft, der Polizei, den Medien und der Politik überlassen. Ein weiterer Zufall machte ihn dann zum Archivar: „Das Institut für politische Wissenschaft der Freien Universität hat eine studentische Hilfskraft gesucht. Ich habe mich beworben und wurde angenommen. Nach zwei Jahren beauftragte mich dessen Leiter, der Soziologie-Professor Otto Stammer, meine private Sammlung offiziell für das Institut fortzuführen.“

In den sechziger Jahren in Berlin sozialisiert

Der Soziologe erinnert sich noch an jenen Moment, als er verstand, dass seine Sammlertätigkeit der Wahrheit zu ihrem Recht verhelfen kann: „Eine Gruppe von Studierenden hatte sich zu einer Demonstration versammelt. In einem Bericht des ‚Tagesspiegels‘ dazu stand, dass 30 Leute teilgenommen hätten. Schon allein auf dem abgebildeten Foto konnte ich 100 Köpfe zählen.“ Die Zeitung habe einfach die offizielle Polizeiangabe übernommen, sagt Lönnendonker.

Er ist überzeugt: In Berlin hätten in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre viele Politiker, der Verfassungsschutz und bei den Medien vor allem die Springer-Presse großes Interesse daran gehabt, die Studierenden zu diskreditieren oder sogar zu kriminalisieren. Der Soziologe erinnert sich an ein Beispiel, als der Schah von Persien West-Berlin besuchte. Am 2. Juni 1967 demonstrierten Studierende morgens vor dem Schöneberger Rathaus gegen den Besuch. Mitglieder des persischen Geheimdiensts wurden in zwei Bussen herangefahren und begannen sofort, ohne jede Vorwarnung mit Holzlatten auf die Studierenden einzuschlagen. Die Berliner Polizei habe einfach weggeschaut, sagt Lönnendonker.

Während der Demonstration am Abend vor der Deutschen Oper Berlin wurde der Student Benno Ohnesorg von dem Polizeiobermeister Karl-Heinz Kurras erschossen. Ohnesorg hatte Germanistik und Romanistik an der Freien Universität studiert. Seine Erschießung löste wochenlange Massendemonstrationen in West-Berlin und der Bundesrepublik aus. In den folgenden Monaten traten der Polizeipräsident, der Innensenator sowie der Regierende Bürgermeister von West-Berlin, Heinrich Albertz, zurück.

Im Archiv: Briefe, Aktionsschriften und Masken

Vor dem Untersuchungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses sagten zwei Polizisten aus, dass der Student Fritz Teufel einen Stein geworfen habe. Der SDS und der Allgemeine Studentenausschuss (AStA) gründeten aufgrund ihrer negativen Erfahrungen mit dem politischen Senat einen eigenen Untersuchungsausschuss, befragten Passanten und Zeugen, sammelten Beweise und kamen zu einem ganz anderen Ergebnis. „Der studentische Untersuchungsausschuss fand heraus, dass Teufel zum Zeitpunkt des Steinwurfes 100 Meter von der angeblichen Steinwurfstelle entfernt war. In diesem Fall wurde Teufel freigesprochen, die beiden Polizeibeamten wurden nicht belangt“, sagt Lönnendonker.

Heute könne man all die Dokumente in seinem Archiv einsehen. Auch Briefe, Aktionsschriften und Masken, die die Studierenden bei den Protesten trugen, befinden sich im Archiv. Unter den Schätzen seien außerdem die Micki-Maus-Hefte, die Lieblingslektüre der Kommune I, ebenso wie ein Foto des früheren Berliner CDU-Fraktionsvorsitzenden Klaus-Rüdiger Landowski beim Schlagen einer Mensur auf dem Paukboden und die Konterfeis von Marx und Engels auf Naturseide, ein Geschenk der Ost-Berliner chinesischen Botschaft für die Hausaltäre der „lieben Genossen im imperialistischen Westen“, wie Lönnendonker aufzählt.

Studentenschaft beklagte das „Beschweigen“ der Nazizeit

Eines der wichtigsten Themen der politisierten Studentenschaft war die fehlende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Dass die Bundesrepublik sich fast ausschließlich mit dem Wirtschaftswunder beschäftigte und die Vergangenheit mit der Verpflichtung zu einer künftigen Kollektivverantwortung abgetan wurde, war für sie eine nicht annehmbare Basis für eine demokratische Gesellschaft.

„Über die Verbrechen der Nationalsozialisten – und die unserer Väter im Zweiten Weltkrieg – wurde in den Familien und Institutionen nicht gesprochen.“ Das „Beschweigen“ der jüngsten deutschen Geschichte habe erst die Studentenbewegung Anfang der sechziger Jahre gebrochen. Die Freie Universität wurde dabei zum Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Faschismus und dem Massenmord an den europäischen Juden. Das Jahr 1968 war dann der Höhepunkt der Revolte, als viele Studentinnen und Studenten für eine Demokratisierung der Gesellschaft auf die Straße gingen und Rudi Dutschke kämpferische Reden hielt.

Seit den siebziger Jahren Chronist der Freien Universität

In den 1970er Jahren wuchs Lönnendonkers APO-Archiv immer weiter an. Zeitzeugen übergaben Dokumente, Artefakte und Objekte. An der Freien Universität bekam der mittlerweile promovierte Soziologe die Stelle eines Wissenschaftlichen Mitarbeiters am Institut für politische Wissenschaft mit dem Arbeitsauftrag, in regelmäßigen Abständen Chroniken zur jungen Geschichte der Freien Universität Berlin zu publizieren.

„Für die Herstellung des ersten Bandes der Chronik zum 25. Geburtstag der Freien Universität hatten Tilman Fichter und ich nur einen Monat Zeit“, sagt Lönnendonker. Das Archiv steht offen für alle, die sich über die Zeit informieren oder über sie schreiben wollen. Der Mann, der sich selbst als Achtundsechziger bezeichnet, sagt, dass die Studentenbewegung viele wichtige Diskussionen ins Rollen gebracht habe – so sei etwa die neue Frauenbewegung aus der innerverbandlichen Revolte der Frauen im SDS – einem Referat der Studentin der Filmhochschule, Helke Sander, und durch einen Tomatenwurf der ehemaligen studentischen Vertreterin im Akademischen Senat, Sigrid Rüger – initiiert worden.

APO-Archiv seit 2004 Teil des Universitätsarchivs

Aber er benennt auch negative Einflüsse und Folgen, die sich in den vielen gesammelten Briefen und Dokumenten offenbaren: etwa die Radikalisierung von Teilen der Studentenschaft oder die Frage nach der Rechtfertigung von Gewaltanwendung als Mittel des Protestes. Unter den Studierenden, die Gewalt verherrlichten und als probates Einsatzmittel akzeptierten, waren auch jene, die später die „Rote Armee Fraktion“ gründeten, in den Untergrund abtauchten und in Deutschland Angst, Schrecken und Terror verbreiteten. Auch der gewaltvolle Umgang Studierender mit als „faschistisch“ denunzierten Professoren lässt sich nicht bestreiten. Dennoch sei die überwiegende Bilanz positiv, betont Lönnendonker. Sein Archiv spricht Bände darüber. „Diese Tatsache wollen aber nicht alle akzeptieren“, sagt er. Es gebe immer noch zahlreiche Mythen und Falscheinschätzungen über die Einflüsse von 1968.

Siegward Lönnendonker ist 2004 in den Ruhestand getreten. Seitdem ist „sein“ APO-Archiv Teil des Universitätsarchivs, das von Birgit Rehse geleitet wird. Mittlerweile ist das Archiv auf 672 Regalmeter angewachsen, rund drei Millionen Seiten Dokumente. Etwa 30 Meter davon nehmen die 200.000 Seiten SDS-Akten ein. Die promovierte Leiterin des Archivs wacht mit ihrem Team über die Bestände, gibt Auskünfte, beantwortet Anfragen und achtet darauf, dass das Erbe von Lönnendonker fortgesetzt wird, der weiterhin als ehrenamtlicher Mitarbeiter im APO-Archiv tätig ist. „Das Tolle am APO-Archiv ist, dass es die Innensicht der Beteiligten zeigt. Wir sind bei der Geschichtsschreibung der 1968er-Bewegung dank Herrn Lönnendonker nicht so festgefahren wie eine Behörde“, sagt die Archivarin. In Zukunft soll das Archiv weiter professionalisiert werden: „Wir sind dabei, die Bestände zu digitalisieren“, sagt Birgit Rehse. So soll gewährleistet werden, dass die vielen Nutzerinnen und Nutzer, die das Archiv besuchen, die historisch einmaligen Dokumente leichter auswerten können.