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„Ich bin in Lehre und Forschung immer meinen eigenen Weg gegangen“

Das Theaterstück „Mathematische Spaziergänge mit Emmy Noether“ erinnert an die herausragende Wissenschaftlerin / Uraufführung am 4. Juni anlässlich einer Tagung an der Freien Universität

31.05.2019

Mit dem Theaterstück „Mathematische Spaziergänge mit Emmy Noether“ erinnert die Freie Universität an die erste Mathematikerin, die in Deutschland habilitiert wurde.

Mit dem Theaterstück „Mathematische Spaziergänge mit Emmy Noether“ erinnert die Freie Universität an die erste Mathematikerin, die in Deutschland habilitiert wurde.
Bildquelle: Sandra Schüddekopf

„Ich möchte wünschen, dass nachdrücklich betont werden möchte, dass es sich bei Frl. Noether vorerst um eine Ausnahme handelt“, steht im Habilitationsgutachten für Emmy Noether (1882 – 1935) aus dem Jahr 1915. Obwohl die damalige Männerdomäne der Wissenschaft noch nicht bereit war, ihre Tore für Professorinnen zu öffnen, waren sich mehrere Fachvertreter in Göttingen einig, man müsse für die brillante Algebraikerin von der Regel abweichen. Dennoch bedurfte es dreier Anläufe, zweier Habilitationsschriften und einer Revolution, bevor diesem Ansinnen der Fakultät seitens des Ministeriums gefolgt wurde. Emmy Noether war die erste Mathematikerin, die in Deutschland habilitiert wurde. Sie setzte auch fachlich Maßstäbe und hatte einen großen Wirkungskreis: Emmy Noether gilt als Begründerin der modernen strukturellen Algebra, bis heute sind die Noether-Theoreme von großer Bedeutung für die Physik. Bereits Ende der Zwanzigerjahre wurde von der Noether-Schule gesprochen.

Die Freie Universität nimmt das hundertjährige Jubiläum ihrer Habilitation zum Anlass, in einem szenischen Porträt an die Mathematik-Pionierin zu erinnern. Das Theaterstück „Mathematische Spaziergänge mit Emmy Noether“ wird anlässlich einer Fachtagung zu Ehren der Wissenschaftlerin an der Universität öffentlich uraufgeführt. Veranstaltet wird die Konferenz von dem Berliner Exzellenzcluster MATH+, der Zentralen Frauenbeauftragten der Freien Universität Mechthild Koreuber und dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Nicht nur aus mathematischer und physikalischer Perspektive, sondern auch vom wissenschaftstheoretischen und historischen Standpunkt aus soll dabei die Bedeutung der Algebraikerin beleuchtet werden. „Im Zuge der Tagung ist es uns ein Anliegen, dass wir Emmy Noether in unterschiedlichster Weise medial würdigen“, betont Mechthild Koreuber, selbst promovierte Mathematikhistorikerin.

Schauspielerin Anita Zieher lässt Emmy Noether auf der Bühne lebendig werden.

Schauspielerin Anita Zieher lässt Emmy Noether auf der Bühne lebendig werden.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Vorbild „KERNFRAGEN – Gedenken an Lise Meitner“

Die Frauenbeauftragte brachte das Projekt auf den Weg, nachdem sie im vorigen Wintersemester die Inszenierung „KERNFRAGEN – Gedenken an Lise Meitner“ besucht hatte, eine Initiative von Heinz-Eberhard Mahnke, Honorarprofessor am Fachbereich Physik. Die Freie Universität arbeitete dabei mit der Wiener Gruppe „portraittheater“ zusammen. Das Stück habe sie sehr beeindruckt, sagt Koreuber. „Einerseits, weil darin die Physikerin Lise Meitner so lebendig wurde, aber auch, weil die Produktion wissenschaftlich ausgezeichnet war.“ Deshalb habe sie nun das Theaterstück über Emmy Noether angestoßen. Ermöglicht wird die Produktion durch die finanzielle Unterstützung der Freien Universität, der Humboldt-Universität, der Technischen Universität sowie der Universitäten Bielefeld, Erlangen-Nürnberg, Göttingen und Mainz.

„Wir möchten Personen, die eine besondere Rolle in der Gesellschaft gespielt haben, einem breiten Publikum künstlerisch vorstellen“, erläutert Sandra Schüddekopf, die zuständige Regisseurin und Dramatikerin des portraittheaters, die an der Freien Universität Theaterwissenschaft und Nordamerikastudien studiert hat. „Auf diese Weise wollen wir vor allem außergewöhnliche Frauen in der Öffentlichkeit sichtbarer machen.“

Ein Theaterstück entsteht

Wie geht man bei der Entwicklung eines Bühnenporträts vor? Zunächst trafen sich Mechthild Koreuber und David Rowe, Professor für Mathematikgeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, mit Sandra Schüddekopf und Anita Zieher vom portraittheater, um in einem Brainstorming über herausragende Elemente aus Noethers Leben und Werk nachzudenken und ihre Bühnentauglichkeit zu diskutieren.

Wie bedeutsam die Mathematikerin war, das weiß kaum jemand besser als Mechthild Koreuber, denn sie hat über „Emmy Noether, die Noether-Schule und die moderne Algebra“ promoviert. „Emmy Noether hat eine ganz neue Denkweise gegründet, bei der Strukturen im Zentrum stehen. Das war insofern bedeutsam, weil man vorher meist mathematische Objekte betrachtet hatte, also etwa Zahlen, Funktionen, Flächen, Punkte. Noether hat abstrakte mathematische Begriffe wie etwa Ideal, Gruppe oder Körper in den Mittelpunkt der Forschung gestellt und sie präzisiert. Nun ließ sich erkennen, in welcher strukturellen Beziehung die Objekte zueinander stehen.“ Heute ist diese Perspektive in der Mathematik selbstverständlich, fügt Koreuber hinzu, doch in den Zwanzigerjahren sei Noethers Herangehensweise mit großer Skepsis betrachtet worden. „Doch war ihre Bedeutung bald so groß, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler speziell nach Göttingen kamen, um bei ihr zu studieren“. Noethers Konzepte, entwickelt in der Algebra, wurden von ihren Schülern auch auf andere mathematische Disziplinen wie die Geometrie oder Topologie übertragen. Mit 41 Jahren erhielt die Wissenschaftlerin den Professorentitel und ein Jahr später erstmals für ihre Lehrtätigkeit ein Entgelt, einen Ruf auf einen Lehrstuhl bekam sie nie.

„Was mich beeindruckt, dass Noether jegliche Klischees über introvertierte Mathematiker widerlegt“, sagt Sandra Schüddekopf. „Sie war lebensfroh, gerne in der Natur, veranstaltete Feste für ihre Studierenden und hatte einen fast mütterlichen Umgang mit ihren Doktorandinnen und Doktoranden“. Ihre Theatergruppe interessiere stark, mit den Vorstellungen und Erwartungen des Publikums zu spielen und gängige Erzählmuster aufzubrechen. Über das Rollenvorbild der Mathematikerin gerade für junge Frauen waren sich die Beteiligten der Theaterproduktion schnell einig. „Ich bin in Lehre und Forschung immer meinen eigenen Weg gegangen“, lautet ein spätes Zitat von Emmy Noether.

Auf das erste Treffen folgten mehrere Gespräche zwischen den Universitätsangehörigen und den Theatermacherinnen, besprochen wurde dabei etwa, wie mathematische Forschung denn theatral gezeigt werden kann. Den Text für das Stück schrieben schließlich Sandra Schüddekopf, die auch Regie führt, und Schauspielerin Anita Zieher, die Emmy Noether auf der Bühne verkörpert. Die Mathematikhistoriker prüften das Stück auf wissenschaftliche Korrektheit.

Das Team (v.l.): Sandra Schüddekopf, Mechthild Koreuber, Anita Zieher und David Rowe.

Das Team (v.l.): Sandra Schüddekopf, Mechthild Koreuber, Anita Zieher und David Rowe.
Bildquelle: Jennifer Gaschler

Mathematik darstellen

„Mathematik ist für ein Publikum, das nicht vom Fach ist, eine Fremdsprache“, beschreibt Schüddekopf, „und diese mussten wir erst einmal übersetzen“. So suchten sie nach Verbindungen zwischen der Biografie und der Forschung. Der Erhaltungssatz beispielsweise sei ein physikalisches Prinzip, das Noether mit den mathematischen Symmetrien verbunden habe. „Wir fragten uns, was eigentlich von der Wissenschaftlerin bis heute erhalten geblieben ist und warum?“ Es gehe in der Mathematik auch oft um die Schönheit. Noether etwa habe davon gesprochen, wenn es ihr gelang, eine komplizierte Fragestellung nach langer Beschäftigung in eine klare Form oder einen Beweis zu fassen. „Das ist eine Kategorie, die ich als Künstlerin verstehe.“

„Unser Theaterstück soll ohne Vorwissen verständlich sein und dabei vielleicht auch die Scheu nehmen, sich mit komplexer Mathematik zu befassen. Darum steht die Person Emmy Noether im Vordergrund“, sagt Koreuber. Allerdings gibt es wenige Korrespondenzen und Aufzeichnungen der Wissenschaftlerin, die nicht mathematischen Inhalts sind. Deshalb schrieben Schüddekopf und Zieher in Absprache mit dem gesamten Team allgemeinverständliche Dialoge und einen Monolog auf Basis einer Recherche in den Dokumenten. Archivarische Vorarbeit leisteten Koreuber und Rowe bereits durch frühere Veröffentlichungen. Die Gespräche und „mathematischen Spaziergänge“ zwischen der Algebraikerin und ihren Schülerinnen und Schülern werden in einer Film-Ebene zu sehen sein. Anita Zieher blickt unterdessen auf der Bühne als Emmy Noether auf ihr Leben zurück.

Die Bedeutung der Noether-Schule vergleicht Mechthild Koreuber mit derjenigen einer „kulturellen Bewegung“. Die Mathematikprofessorin habe Generationen junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler inspiriert. Damit seien nicht nur ihre neuen methodischen Konzepte weltweit verbreitet worden, sondern auch der Beweis erbracht, dass Frauen die gleichen Fähigkeiten zu abstraktem mathematischem Denken besitzen wie Männer. Ein Satz, wie er 1915 im Habilitationsgutachten für Emmy Noether stand, wäre heute undenkbar.