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„Ich hoffe, dass ich nur der Erste von vielen bin“

Der israelisch-deutsche Doktorand Ofer Waldman hat an der Freien Universität Berlin und der Hebrew University in Jerusalem die erste Doppelpromotion abgeschlossen

26.06.2020

In zwei Welten zu Hause: Ofer Waldman in Berlin...

In zwei Welten zu Hause: Ofer Waldman in Berlin...
Bildquelle: Natalia Smirnova 

„Sie tun richtig weh, aber sie sind faszinierend“ – so beschreibt Ofer Waldman die Werke von Thomas Brasch. Der DDR-Schriftsteller gehörte zur zweiten Generation deutscher Kommunistinnen und Kommunisten jüdischer Herkunft, die nach dem Zweiten Weltkrieg in die SBZ gelangt sind: auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone wurde im Oktober 1949 die DDR gegründet.

Während die Elterngeneration leitende Positionen im sozialistischen Staat einnahm, war das Verhältnis der Kinder zur DDR oftmals schwieriger. Thomas Brasch wurde 1968 inhaftiert, weil er Flugblätter gegen die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ verteilt hatte. Seinen bekannten Erzählband „Vor den Vätern sterben die Söhne“ publizierte er nach seiner Übersiedlung im Jahr 1976 nach Westberlin.

2015 schlossen die Freie Universität und die Hebrew University das Abkommen über die Doppelpromotion

In seiner im Mai aufgrund der Corona-Pandemie online verteidigten Dissertation „Zwischen Zerbrechen und Beschreiben: Der Dichter und Autor Thomas Brasch als Exponent der 2. Generation zur jüdisch-kommunistischen Remigration in die DDR“ hat Ofer Waldman das Werk Thomas Braschs im historischen Kontext analysiert. Er ist damit der Erste, der von der Freien Universität Berlin und der Hebrew University in Jerusalem gleichzeitig den Doktortitel erhält. Möglich wurde diese Doppelpromotion durch ein Abkommen, das die Universitäten 2015 anlässlich des 50. Jubiläums der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel unterzeichnet haben. Es war zwar keine Voraussetzung, aber Ofer Waldmans Dissertationsthema passt auch inhaltlich zur Partnerschaft der beiden Universitäten.

... und bei Aufnahmen für den Deutschlandfunk in der Jerusalemer Altstadt.

... und bei Aufnahmen für den Deutschlandfunk in der Jerusalemer Altstadt.
Bildquelle: Noam Brusilovsky

„Ich finde es großartig, dass es jetzt, nur fünf Jahre später, die erste abgeschlossene Promotion gibt“, sagt Susanne Zepp. Die Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Freien Universität ist Akademische Koordinatorin der Partnerschaft mit der Hebrew University und hat an dem Zustandekommen des Abkommens von 2015 mitgewirkt.

Die Zusammenarbeit der beiden Hochschulen hat eine noch längere Geschichte als die der Regierungen: erste Briefkontakte gab es schon 1957. Damals gründete sich an der Freien Universität eine Deutsch-Israelische Studiengruppe (DIS), die sich für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel einsetzte. 1963 kam Shlomo Aronson an die Freie Universität, um als erster Israeli in Deutschland zu promovieren. „Die wissenschaftliche Zusammenarbeit hat der Annäherung der beiden Länder den Weg geebnet“, sagt Susanne Zepp.

„Wir gratulieren Ofer Waldman zum erfolgreichen Abschluss seiner Dissertation und sind besonders stolz, da er unser erster Absolvent im Rahmen des Promotionsabkommens zwischen der Freien Universität Berlin und der Hebrew University ist“, sagt Oron Shagrir, Vizepräsident für Internationales an der Hebrew University. „Ofer Waldman ist ein Beweis für die lebendige, strategische und langjährige Partnerschaft zwischen der Freien Universität und der Hebrew University und für ihr Potenzial, gemeinsam eine junge Generation von Forscherinnen und Forschern in Deutschland und Israel auszubilden, die die die Verbindung zwischen unseren beiden Ländern stärken.“

Ein neuer Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte

„Beide Universitäten, die Betreuerin und der Betreuer meiner Arbeit, beide Disziplinen, beide Städte haben sich sehr gut ergänzt“, sagt Ofer Waldman. In Berlin betreute der Literaturwissenschaftler Jürgen Brokoff seine Promotion, in Jerusalem die Historikerin Yfaat Weiss. An der Freien Universität belegte der Doktorand Seminare zu DDR-Literatur und -Geschichte und verbrachte viel Zeit in Archiven. Allein der Aufenthalt in Berlin habe ihm geholfen, sagt Ofer Waldman: „Thomas Brasch war Berliner. In seiner Stadt zu leben und mit Zeitzeugen zu sprechen, war unabdingbar.“

An der Hebrew University, der ältesten Universität Israels, habe er nicht nur eine ausgezeichnete Ausbildung erhalten, sondern auch seine spezifisch israelische Perspektive auf das Thema gewonnen. „Ich hätte diese Arbeit anders geschrieben, wenn ich aus Bonn oder München gekommen wäre“, sagt Ofer Waldman.

Der außerdeutsche Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte ist ihm wichtig. Die Biografie von Thomas Brasch sei eine Herausforderung für bisherige Darstellungen des deutsch-jüdischen Gesprächs, in dem das Narrativ der Bundesrepublik dominiere. „Es gab aber nicht nur Günter Grass, Marcel Reich-Ranicki, Daniel Cohn-Bendit und Michel Friedman, sondern auch Thomas Brasch, Barbara Honigmann und Jurek Becker“, allesamt DDR-Autorinnen und -Autoren jüdischer Herkunft.

Diese sämtlich als Dissidentinnen und Dissidenten oder als desillusioniert darzustellen, sei verkürzt, sagt Waldman: „Sie sind in einem Staat aufgewachsen, den ihre Eltern mitaufgebaut haben, als Antwort auf den Faschismus. Es lag also zunächst nah, sich ein Stück weit mit diesem Staat zu identifizieren.“ Doch zugleich wurden sie auch Opfer staatlicher Repressionen: Thomas Brasch wurde 1968 von seinem eigenen Vater an die Staatssicherheit ausgeliefert: „Jahre später schreibt er seinem Vater, er stehe zu seiner Tat, verstehe aber auch, weshalb er deshalb ins Gefängnis gehen musste“, sagt Ofer Waldman. „Das ist keine Desillusionierung, das ist Tragik.“

Berlin ist zur Wahlheimat geworden

Susanne Zepp ist überzeugt, dass die Möglichkeit der Doppelpromotion die Verbindungen zwischen der Freien Universität und der Hebrew University vertiefen und stärken wird. „Eine Promotion ist ein wichtiger Meilenstein in der intellektuellen Biografie einer jungen Wissenschaftlerin oder eines jungen Wissenschaftlers“, sagt die Romanistin. „Man fühlt sich der Universität, an der man promoviert hat, besonders verbunden.

Ofer Waldmans Lebensweg ist geprägt vom interkulturellen Austausch. Als ausgebildeter Musiker spielte er als Hornist zunächst im arabisch-israelischen West-Eastern Divan Orchestra, das der Dirigent Daniel Barenboim und der Literaturwissenschaftler Edward Said 1999 gegründet haben. 1999 war auch das Jahr, in dem Waldman zum ersten Mal nach Berlin zog; dort studierte er an der Hochschule der Künste und spielte im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Heute wohnt er mit seiner Familie in einem kleinen israelischen Städtchen. Eine seiner Töchter wurde kurz vor Beginn seiner Promotion geboren und geht nun bald in die erste Klasse.

Etwa eine Woche pro Monat verbringt Ofer Waldman in seiner Wahlheimat Berlin, wo er als freier Autor für den Deutschlandfunk arbeitet und sich bei israelischen Menschenrechtsorganisationen, wie beispielsweise dem New Israel Fund Deutschland, engagiert.

Seine Biografie, sagt Ofer Waldman, sei ohne die Kooperation der beiden Universitäten eine andere gewesen. „Der Austausch schafft sehr enge Verbindungen jenseits von Regierungskonsultationen und schönen Sonntagsreden über die deutsch-israelische Freundschaft“, sagt Ofer Waldman. „Ich hoffe sehr, dass ich nur der Erste von vielen bin, der eine Doppelpromotion abschließt.“