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„Nichts bleibt, wie es ist“

Said Aljoumani musste aus Damaskus fliehen – gemeinsam mit dem Islamwissenschaftler Konrad Hirschler erforscht der Bibliothekswissenschaftler an der Freien Universität die bibliophile Geschichte seines Landes

13.08.2020

Gehören zu den wenigen Wissenschaftlern weltweit, die zu der Nutzung von Bibliotheken im mittelalterlichen Syrien forschen: Said Aljoumani (r.) und Konrad Hirschler (l.).

Gehören zu den wenigen Wissenschaftlern weltweit, die zu der Nutzung von Bibliotheken im mittelalterlichen Syrien forschen: Said Aljoumani (r.) und Konrad Hirschler (l.).
Bildquelle: Jonas Huggins

Es ist ein hoch spezialisiertes Thema, an dem Konrad Hirschler arbeitet. Der Professor für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin untersucht, wie im Syrien des Mittelalters Bibliotheken genutzt wurden. Welche sozialen Gruppen besaßen damals Bücher? Wie gestalteten sich Lesekreise? Inwieweit und in welcher Form waren Frauen am kulturellen Leben beteiligt?

„Es gibt auf der Welt nicht viele Menschen, die zu diesem sozial- und kulturgeschichtlichen Thema arbeiten“, sagt Konrad Hirschler. Noch rarer ist die Expertise, um die oft schwer lesbaren Vermerke entziffern zu können, mit denen die Nutzung der Bücher, ihre Stiftung an eine Bibliothek oder ihr privater Besitz dokumentiert wurden.

Auf der Suche nach dem Experten

Said Aljoumani verfügt über diese Expertise. 2012 war Konrad Hirschler in einer arabischsprachigen Publikation auf diesen Namen gestoßen. Doch trotz vieler Bemühungen gelang es ihm nicht, den Kontakt zu dem syrischen Kollegen herzustellen. Vier Jahre später begegnete ihm der Name wieder, diesmal auf der Teilnehmerliste einer Konferenz in Cambridge – doch auch dort war der Wissenschaftler persönlich nicht anzutreffen.

„Said Aljoumani blieb ein Mythos“, erinnert sich Konrad Hirschler. Bis an einem Tag im Frühjahr 2017 in Dahlem das Telefon klingelte – am Apparat: Said Aljoumani. Er fragte Konrad Hirschler, ob er mit ihm zusammenarbeiten könne. Nur wenige Monate später kam er in Berlin an.

2016 war er nach Jordanien geflohen, wo er ein Stipendium des Scholar Rescue Fund erhalten hatte. Der Fund unterstützt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die aus ihrer Heimat fliehen mussten, mit einer Übergangsfinanzierung.

Als 2011 in Syrien der Bürgerkrieg ausbrach, hatte Said Aljoumani gerade seine Promotion in Bibliothekswissenschaften abgeschlossen. Er wurde in die Armee eingezogen, die Teilnahme an der Konferenz in Cambridge wurde ihm verwehrt. Heimatbesuche waren selten. Seine Tochter war einen Monat alt, als er sie zum ersten Mal sah, bei seinem nächsten Besuch zu Hause konnte sie bereits laufen. Viereinhalb Jahre lang war er im Krieg, eine Zeit, die er am liebsten vergessen würde.

Von Syrien über den Libanon und Jordanien nach Deutschland

Im August 2016 gelang Said Aljoumani die Flucht, indem er sich an den Kontrollpunkten der Regierung vorbei über die Grenze in den Libanon schmuggelte. Die letzte Strecke in den Bergen legte er zu Fuß zurück. Vom Libanon aus gelangte er mit dem Scholar Rescue Fund zunächst für ein Jahr an die Universität von Jordanien in Amman. Sein eigentliches Fach, die Bibliothekswissenschaft, existierte dort jedoch nicht. Deshalb nahm er den Kontakt zu Konrad Hirschler auf – er wusste, dass dieser eine seiner Publikationen zitiert hatte – und kam so schließlich an die Freie Universität.

Im Sommer 2018, nach einem weiteren Jahr, in dem er mit den Widrigkeiten der Visumsbürokratie zu kämpfen hatte, konnte seine Frau mit den beiden Kindern nachziehen. In Berlin wieder vereint zu sein – „das war das Paradies“, sagt Said Aljoumani.

Die Familie hat sich gut eingelebt: Die Kinder, inzwischen acht und zehn Jahre alt, haben in der Schule Freunde gefunden; deren Eltern liehen ein Auto und packten mit an, als die Aljoumanis innerhalb Berlins umzogen.

Gemeinsame Arbeit an einem Buch

Said Aljoumani, der zwischenzeitlich ein Stipendium der Philip Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung erhalten hatte und jetzt von der Einstein Stiftung Berlin als Einstein Guest Researcher gefördert wird, ist glücklich, sich wieder seiner Forschung widmen zu können.

Durch die gemeinsame Arbeit zu Freunden geworden: Seit 2017 arbeiten die Historiker Said Aljoumani (r.) und Konrad Hirschler (l.) am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität zusammen.

Durch die gemeinsame Arbeit zu Freunden geworden: Seit 2017 arbeiten die Historiker Said Aljoumani (r.) und Konrad Hirschler (l.) am Institut für Islamwissenschaft der Freien Universität zusammen.
Bildquelle: Jonas Huggins

Das Institut für Islamwissenschaft sei für ihn wie eine Familie und Konrad Hirschler längst ein enger Freund, sagt er.

Derzeit schreiben die beiden Historiker gemeinsam an einem Buch über einen Damaszener Wissenschaftler aus dem 15. Jahrhundert. Nebenbei versuchen sie, den Kontakt zu syrischen Wissenschaftlern wiederaufzubauen.

Said Aljoumani arbeitet zudem daran, zehntausende mittelalterliche Bibliotheksdokumente zu erschließen, auf denen festgehalten wurde, wann, wo und von wem Bücher gemeinsam gelesen wurden.

Es braucht viel Erfahrung mit arabischen Handschriften, um die Vermerke zu entziffern, die Leser und Leserinnen im Mittelalter in die Bücher geschrieben haben. Dieses faszinierende Material für die Alltagsgeschichte des Buches haben Hirschler zufolge bisher nur wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angefasst, „weil es Grundlagenforschung ist, deren Ergebnisse zunächst schwer publizierbar sind“.

Mit dem Kopf immer wieder in Damaskus

„Die Zusammenarbeit mit Said Aljoumani ist eine der fruchtbarsten, die ich je mit einem Wissenschaftler hatte“, sagt der Professor. Das habe auch damit zu tun, dass die beiden eine ganz unterschiedliche Ausbildung genossen haben. Arabischsprachige Publikationen zur mittelalterlichen Geschichte setzten häufig den Schwerpunkt auf die Erschließung neuen Materials, während in englischsprachigen Publikationen der Fokus tendenziell auf argumentativen Diskussionen liege. „Wenn man die beiden Forschungstraditionen zusammenbringt, können davon alle nur profitieren“, sagt Said Aljoumani.

Natürlich vermisse er Damaskus. Schon als er während seiner Promotion – damals in Kairo und noch vor dem Krieg – angefangen hatte, sich intensiv mit der Geschichte seiner Heimatstadt zu beschäftigen, habe er sie auf ganz neue Weise kennen und lieben gelernt. In Berlin sei er durch seine Arbeit mit dem Kopf immer wieder in Damaskus.

Ein tatsächlicher Besuch ist undenkbar. Selbst als seine Mutter im Sterben lag, war eine Rückkehr unmöglich. „Das ist sehr, sehr schwer“, sagt Said Aljoumani. Auch die nähere Zukunft werde für Syrien hart werden. Doch auf lange Sicht zeigt sich der Wissenschaftler verhalten optimistisch. „Damaskus hat schon viele Kriege und Katastrophen erlebt und sich immer wieder erholt“, sagt er. „Als Historiker weiß man, dass nichts bleibt, wie es ist.“