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„Nun wollet ihr wiesen waß wier Esen und Trinken“

Die Historikerin Juliane Graf untersucht Briefe von Menschen, die im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewandert sind – für ihre Arbeit wurde sie mit dem Friedrich-Meinecke-Preis ausgezeichnet

17.03.2020

Juliane Graf wurde für ihre Dissertation mit dem Friedrich-Meinecke-Preis ausgezeichnet.

Juliane Graf wurde für ihre Dissertation mit dem Friedrich-Meinecke-Preis ausgezeichnet.
Bildquelle: Anne Stiller

Die Entwicklung von der agrarischen hin zur industriellen Gesellschaft hat das Europa des 19. Jahrhunderts geprägt. Hungerkrisen nach Ernteausfällen verschlechterten die Situation insbesondere für Menschen, die von der Landwirtschaft leben mussten. Damals setzten viele von ihnen die Idee von einer neuen Existenz in Übersee – genauer: in den USA – in die Tat um. „Wer irgendwie Geld für die Überfahrt aufbringen konnte, stellte sich dem Projekt ‚Auswanderung‘ – ein aus damaliger Sicht extrem waghalsiges Unterfangen“, erklärt Juliane Graf.

Die Historikerin hat im Rahmen ihrer Promotion rund 180 Briefe von Personen, die zwischen den 1850er und 1880er Jahren aus Gebieten der deutschen Kleinstaaten in die USA ausgewandert sind, analysiert. Adressiert waren sie an die daheimgebliebene Verwandtschaft. Für ihre Arbeit wurde Juliane Graf im Dezember 2019 mit dem Friedrich-Meinecke-Preis des Friedrich-Meinecke-Instituts für Geschichtswissenschaft der Freien Universität Berlin ausgezeichnet. Mit dem Preis wird alljährlich eine hervorragende Dissertation in den Geschichts- und Kulturwissenschaften prämiiert, die im selben Jahr an der Freien Universität eingereicht wurde.

„Man schrieb einfach drauf los“

Viele Briefe enthalten Schilderungen alltäglicher Begebenheiten. So auch im Fall von Adelheide Tapert, die ihrer Familie am 22. November 1854 schrieb und von den Essgewohnheiten in ihrer neuen Heimat berichtet: „nun wollet ihr wiesen waß wier Esen und Trinken / ob wier Kardoffel Klöse koch oder Datsch backen wir kochen Klöse / und Schopfebraden auch zu weilen Gänsebraden. in America ist die / Mode des Tages wierd 3 Mal zu äsen da giebts 2 mal Fleisch […]“ Thematisiert werden auch Erlebnisse von der Reise ebenso wie Herausforderungen, mit denen sich die Emigrantinnen und Emigranten konfrontiert sahen.

Für viele Auswanderer sei das Briefeschreiben eine Art Entladung ihrer Gefühle gewesen, sagt Juliane Graf: „Dann schrieb man einfach drauf los.“ Andererseits konnte man mit der Kommunikation über Briefe den Verwandten auch Unangenehmes verschweigen oder Tatsachen beschönigen. Deshalb sei es wichtig, bei der Arbeit mit den Briefen Angaben offizieller Quellen wie Sterbeurkunden und Volkszählungen zu berücksichtigen. Juliane Graf vermutet, dass viele der Ausgewanderten keine Briefe geschrieben hätten, wenn sie nicht emigriert wären, denn bis auf eine Ausnahme habe es sich bei dem Personenkreis, den sie untersucht hat, nicht um Studierte gehandelt. Das lässt sich auch an sprachlichen Merkmalen festmachen: „Die Briefe sind überwiegend in einfacher Sprache verfasst, manche auch im jeweiligen Dialekt der Region, aus der die Verfasserin oder der Verfasser stammte.“

Zwischen Grenzerfahrungen…

Es sei ihr darum gegangen herauszufinden, wie die Emigrantinnen und Emigranten dem Neuen und Unbekannten begegnet seien, betont Juliane Graf. Theoretische Basis ihrer Arbeit war das Forschungsfeld wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Grenzen, der sogenannten border studies.

Zunächst habe sie sich mit der tatsächlichen politischen Grenze auseinandergesetzt, die bei der Einreise in die USA passiert werden musste. Weil die Zahl der Zuwanderer im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter anstieg, wurde zum einen der Einreiseprozess von den zuständigen US-Behörden zunehmend effektiver organisiert; gleichzeitig wurden die zu Beginn des 19. Jahrhunderts geltenden Einreisebestimmungen über den Zeitraum der 1850er bis 1880er Jahre immer strenger.

Zudem befasste sich Juliane Graf mit sozialen und kulturellen Grenzen, sie fragte: „Wie haben die Auswanderer Begegnungen mit Menschen erlebt, die einen anderen kulturellen oder ethnischen Hintergrund hatten als sie selbst?“ Ein Großteil der Briefeschreiber etwa hätte die Sklaverei nicht befürwortet, als weiße Europäerinnen und Europäer seien sie jedoch in einer vorteilhaften Ausgangsposition gewesen. „Das dominante Narrativ der mittellosen Zuwanderer, die es in den USA zu etwas gebracht haben, stimmt natürlich“, sagt die Historikerin. Man dürfe jedoch nicht aus dem Blick verlieren, dass sie in Nordamerika auf eine Gesellschaft gestoßen seien, die die Ureinwohnerinnen und Ureinwohner des Landes systematisch enteignete – ein Umstand, von dem auch die deutschen Zuwanderer letztlich profitiert hätten.

Brief von Friedrich Ehlers an seine Schwiegereltern in Ribnitz, Mecklenburg-Schwerin; datiert ist er auf den 25.01.1850. Friedrich Ehlers wanderte 1849 mit seiner Frau Caroline nach Cincinnati, Ohio aus. Er war der Schwager von Henriette Burmeister.

Brief von Friedrich Ehlers an seine Schwiegereltern in Ribnitz, Mecklenburg-Schwerin; datiert ist er auf den 25.01.1850. Friedrich Ehlers wanderte 1849 mit seiner Frau Caroline nach Cincinnati, Ohio aus. Er war der Schwager von Henriette Burmeister.
Bildquelle: Forschungsbibliothek Gotha, NABS, I. Serie Nordamerika, B, Serie Burmeisters-Ehlers

… und neuen Möglichkeiten

Besonders in Erinnerung geblieben ist Juliane Graf Henriette Burmeister, die mit ihrem Verlobten nach Amerika ausgewandert war. Nach ihrer Ankunft hatten die beiden gleich geheiratet. Als sich herausstellte, dass der Mann trank und gewalttätig war, verließ ihn Henriette Burmeister mit den gemeinsamen Kindern. Mit kleineren Jobs verdiente sie eigenes Geld, lernte Englisch und wurde dadurch unabhängig. In den Briefen an ihre Verwandten werde deutlich, dass die junge Frau diese Zeit als Emanzipationserlebnis empfunden habe, erklärt Juliane Graf: „Auch als sie später wieder heiratete, war es ihr stets wichtig, als ‚self made woman‘ wahrgenommen zu werden.“ Eine Entwicklung, die in ihrer alten Heimat zu dieser Zeit vermutlich nicht möglich gewesen wäre.

Im Anhang: Pflanzensamen und Vokabellisten

Das Briefeschreiben diente nicht nur dem Austausch von Erfahrungen, auch Materielles fand seinen Weg über den Atlantik. „Wer den deutschen Grünkohl vermisste, bekam von seiner Familie Grünkohlsamen zugeschickt.“ Der Transfer verlief auch in die umgekehrte Richtung: Hatten Auswanderer eine besondere Klee-Sorte gefunden, mit der sich das Vieh hervorragend füttern ließ, schickten sie einige Pflanzen nach Deutschland – damit die Verwandtschaft den Klee zu Hause verfüttern konnte.

„Einem anderen Brief“, sagt Juliane Graf, „war eine Vokabelliste beigelegt, um der Familie zu zeigen, welche Fortschritte man in der fremden Sprache gemacht hat.“ In der Korrespondenz erwähnte Fotografien hat Juliane Graf nicht gefunden: „Vermutlich haben die Menschen in Deutschland, an die die Briefe adressiert waren, die Bilder herausgenommen, eingerahmt oder anderswo aufbewahrt.“

Durch die mitgeschickten Objekte seien die Briefe mehr als nur Selbst-Zeugnisse ihrer Verfasserinnen und Verfasser, erläutert Geschichtsprofessor Bernd Sösemann vom Friedrich-Meinecke-Institut. Durch die multidimensionale Auswertung sei ein besonderes Stück deutsch-amerikanische Beziehungsgeschichte geschrieben worden. „Mit ihrer Arbeit unterstreicht Juliane Graf die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Interaktionen zwischen Deutschland und den USA.“ In der gegenwärtigen Phase brüchiger werdender politischer Beziehungen zwischen den beiden Ländern sei dies nicht zu unterschätzen, sagt der Historiker, der Vorsitzender der Friedrich-Meinecke-Gesellschaft ist.

Fragen, die bis in die Gegenwart reichen

Obwohl sie den Blick wissenschaftlich auf die Vergangenheit richtet, beschäftigt Juliane Graf sich im Rahmen ihrer Arbeit auch mit aktuellen Fragestellungen. „Die Wahrnehmung von Deutschland als sogenanntem Einwanderungsland ist vergleichsweise jung“, erklärt sie. Mit dieser Feststellung einher gingen Fragen über die Herkunft von Immigrantinnen und Immigranten, über ihre Motive, nach Deutschland zu kommen, und nicht zuletzt über Auswirkungen, die eine Zuwanderung von Menschen aus anderen Teilen der Welt auf die deutsche Gesellschaft hat.

„Solche fundamentalen Fragen tauchen immer wieder auf – ganz gleich, ob man aktuelle Migrationsprozesse oder solche des 19. Jahrhunderts betrachtet“, sagt die Historikerin. Zwar hätten sich Art und Infrastruktur der Kommunikation grundlegend verändert – im 19. Jahrhundert schrieben die Menschen Briefe, während sie heute Live-Videos und Sprachnachrichten versenden. Eines aber sei epochenunabhängig: das Bedürfnis, kommunizieren und sich austauschen zu wollen.

Weitere Informationen

  • Die Briefe, die Juliane Graf untersucht hat, stammen aus der Nordamerika-Briefsammlung (NABS), die Bestandteil der Deutschen Auswandererbriefsammlung Gotha (DABS) ist. Ebenfalls zur DABS gehört die Bochumer Auswandererbriefsammlung (BABS), die in den 1980er Jahren unter der Leitung des Historikers Professor Wolfgang Helbich an der Ruhr-Universität Bochum entstanden ist. Als Folge der deutschen Teilung enthält die BABS lediglich Briefe, die auf dem Gebiet und zur Zeit der ehemaligen Bundesrepublik gesammelt werden konnten.
  • Nach der Wiedervereinigung entstand in den 2000er-Jahren unter der Leitung von Professorin Ursula Lehmkuhl in Kooperation mit der Forschungsbibliothek Gotha die NABS, die einen regionalen Sammelschwerpunkt in den Gebieten der Neuen Bundesländer hatte.