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Museum ohne Mauern

Weil jeder Mensch potenzieller Migrant ist: Eine Alumna und Studentinnen der Freien Universität haben ein virtuelles Museum gegründet

01.06.2021

Das DMM-Team: (v. l. n. r.) Suely Torres, Anna Sara Dias Portugal Guimaraes, Laura Gröbner Ferreira, Fernanda Sumita und Mariana Florio

Das DMM-Team: (v. l. n. r.) Suely Torres, Anna Sara Dias Portugal Guimaraes, Laura Gröbner Ferreira, Fernanda Sumita und Mariana Florio
Bildquelle: privat

Wie verändert es Menschen, wenn sie in ein anderes Land ziehen? Darüber reflektieren Ein- und Auswanderer auf der Plattform des digitalen Deutschen Migrationsmuseums (DMM). Die Video-Interviews sollen zeigen, wie vielschichtig der Anteil von Migranten und Migrantinnen am gesellschaftlichen Leben ist. Lange vor Corona hatte Suely Torres, Alumna der Freien Universität Berlin, die Idee eines virtuellen Museums. In Zusammenarbeit mit drei Wissenschaftlerinnen vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität hat sie das Projekt umgesetzt. Im Dezember 2020 ging es erstmals online.

Ein junger Mann sitzt in Berlin auf dem Tempelhofer Feld, zeigt auf das alte Flughafengebäude hinter sich. Nach seiner Flucht aus Syrien im Jahr 2016 hat er dort zwei Jahre gewohnt. Zu acht lebten sie in einer kleinen Kabine. „Vor allem das Warten war anstrengend“, sagt er. Werde ich in Deutschland bleiben können? Werde ich hier studieren dürfen? Wann kann ich mir eine eigene Wohnung suchen?

Geschichten von Einwanderern aus alternativen Perspektiven

Das Video von Ibrahim Al-Hussein ist auf der Internetseite des Deutschen Migrationsmuseums zu sehen, einer Online-Plattform, auf der Menschen über ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Ein-oder Auswandern reflektieren. An konkreten Lebensbeispielen soll hier gezeigt werden, welchen Anteil Migranten und Migrantinnen mit all ihrer Vielschichtigkeit, Arbeit und Kreativität am wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben in Deutschland haben.

Da ist zum Beispiel die brasilianische Künstlerin Luzia Simons, die über die Bedeutung ihres Reisepasses reflektiert, der Maler Henok Getachew aus Äthiopien, der schildert, wie sich seine Kunst in Berlin verändert hat, der bulgarische Schriftsteller Veso Portarsky, der in der deutschen Hauptstadt Inspiration für seine Kurzgeschichten findet. „In diesem virtuellen Museum soll es nicht so sehr darum gehen, geografische Stationen und Wege von Migranten und Migrantinnen nachzuerzählen, sondern darum, was dieser Prozess mit den Menschen gemacht hat“, sagt Suely Torres, die die Idee zu dem Projekt hatte.

Gegen Stereotype anerzählen

Geboren im brasilianischen Recife kam Suely Torres Ende der 1980er Jahre nach Deutschland, studierte Literaturen und Kulturen Lateinamerikas und Brasilianistik an der Freien Universität Berlin. „Mir fiel schon früh auf, dass in der Diskussion über Migration Stereotype des Fremd- oder Andersseins vorherrschten“, sagt sie. Über viele Jahre trug sie die Idee eines Museums mit sich herum, in dem die Geschichten von Einwanderern aus alternativen Perspektiven erzählt würden, denn so einen Ort konnte sie nirgendwo so richtig finden.

Neben ihrer Arbeit als Fotografin und Lehrerin für Portugiesisch spezialisierte sie sich an der Berliner Universität der Künste (UdK) auf das Kuratieren von Ausstellungen. Während eines Forschungsaufenthaltes am Museu da Pessoa in Sao Paulo, ebenfalls ein virtuelles Museum, sammelte sie Kenntnisse über die Umsetzung eines solchen Projektes. Im Rahmen ihres Studiums an der UdK konnte sie zudem an einem Coaching der Direktorin des Martin-Gropius-Bau Berlin teilnehmen, die sie ermutigte, ihre Idee umzusetzen.

Idealer Ort: Internet

Im Jahr 2017 gründete Suely Torres mit drei Kolleginnen von der Freien Universität Berlin das Migrationsmuseum als gemeinnützigen Verein. Im Dezember 2020 ging das Projekt erstmals online.

Die Lateinamerikanistin beschloss, zunächst Menschen aus ihrem Bekanntenkreis für die Online-Plattform zu interviewen. Das waren beispielsweise Adriane Queiroz, Opernsängerin an der Berliner Staatsoper, oder der afrodeutsche Musikhistoriker und Saxofonist Harald Kisiedu, der an der Columbia University (in der Stadt) New York über Jazz als globales Phänomen geforscht hat. Auf der Plattform werden nämlich auch Deutsche, die in die Welt gezogen sind, zu ihren Erfahrungen befragt.

„Wir wollen zeigen, dass jeder Mensch ein potenzieller Migrant ist“, sagt Mariana Florio, die am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin studiert und in dem mittlerweile fünfköpfigen Team des DMM für Übersetzungen und Transkription der Videos in mehrere Sprachen verantwortlich ist. „Die Videos zeigen so unterschiedliche Perspektiven, dass auch meine eigene Sicht auf das Thema Migration ständig dekonstruiert und rekonstruiert wird“, sagt die Masterstudentin.

Museum zum Mitnehmen

Das Internet ist für die Initiatorinnen der ideale Ort für ihr Museum. „ Wir wollen die Erzählungen allen Interessierten zugänglich machen, ohne Öffnungszeiten oder Mauern“, sagt Fernanda Sumita, die an der Freien Universität Berlin Sozial-und Kulturanthropologie studiert. Nur im Netz könne es ein Museum geben, das man jederzeit und von jedem Ort in der Welt betreten kann, zudem könne man es überallhin mitnehmen – auch in Schulen und Universitäten. Demnächst soll es auch barrierefrei werden, damit Blinde und Gehörlose Zugang haben.

Bis jetzt haben die Gründerinnen das Migrationsmuseum selbst finanziert. Nun versuchen sie über Fundraising zusätzliche Mittel zu bekommen.

Langfristig soll aus dem virtuellen Museum eine multimediale Online-Bibliothek als Datenbank zur Migrationsgeschichte werden, in der sich nicht nur Videos, sondern auch Tondokumente, Podcasts, Fotos und Schriftstücke finden. Eine vielseitige Sammlung zur Gegenwart der Ein-und Auswanderung, die auch den Wissenschaften, der Öffentlichkeit und gesellschaftspolitischer Lobbyarbeit zur Verfügung stehen soll.