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„Der Professor der Apokalypse“

Die DHC Lecture von Historiker Jerry Muller zu „Jacob Taubes in Berlin“

07.06.2023

Jacob Taubes (1923–1987) kam 1961 von der Columbia University in New York nach Berlin. Als bedeutender Vertreter des Judentums der Nachkriegszeit baute er an der Freien Universität das erste Institut für Judaistik in Deutschland auf.

Jacob Taubes (1923–1987) kam 1961 von der Columbia University in New York nach Berlin. Als bedeutender Vertreter des Judentums der Nachkriegszeit baute er an der Freien Universität das erste Institut für Judaistik in Deutschland auf.
Bildquelle: Ullstein Bild

75 Jahre Freies Denken in 75 Jahren Freier Universität. Unter dieser Maxime steht im Jubiläumsjahr auch der Vortrag von Jerry Muller im Rahmen der DHC Lectures des Dahlem Humanities Center. Der emeritierte Professor für Geschichte der Catholic University of America widmet sich dabei einer polarisierenden Persönlichkeit des akademischen Lebens der Sechziger- und Siebzigerjahre: Jacob Taubes, dem Gründer des ersten Instituts für Judaistik Deutschlands an der Freien Universität.

Sein Kollege und Freund Jerry Muller interessiere sich als Spezialist für die Geschichte der europäischen Intellektuellenszene insbesondere für die „krummen Wege der westlichen Wissenschaftslandschaft“, leitet Martin Treml den Vortragsabend ein. Jacob Taubes passe da natürlich perfekt ins Bild, findet der Religionswissenschaftler.

„Jacob Taubes war eine ungewöhnliche Erscheinung an der Freien Universität“, setzt auch Jerry Muller seinem Vortrag voran. Mit dem jüdischen Religionsphilosophen hat er sich extensiv beschäftigt und ein Monumentalwerk veröffentlicht: „Professor der Apokalypse. Die vielen Leben des Jacob Taubes“. Er resümiert zunächst dessen Biografie: Taubes wird 1923 in Wien in eine jüdische Intellektuellenfamilie geboren. Er promoviert in Zürich in Philosophie und wird im New York der Nachkriegszeit zum Rabbiner ordiniert. Nach Stationen an der Hebrew University, Harvard, Princeton und einer Berufung zum Professor für Religionswissenschaft an der Columbia University kommt er schließlich 1961 an die Freie Universität, wo er den größten Teil seines beruflichen Lebens verbringt bis zum krankheitsbedingten frühen Tod im Jahr 1978. 

Von New York nach Berlin

Jerry Muller beurteilt dessen Entscheidung für die Freie Universität als „außergewöhnlich“: In den frühen Sechzigerjahren habe es nur etwa 20 000 Jüdinnen und Juden in Deutschland gegeben. Noch dazu habe er sich ohne familiäre Wurzeln in Deutschland lediglich 16 Jahre nach Kriegsende für eine Immigration entschieden. „Taubes war nicht nur Jude, sondern auch studierter Experte des Judentums, in diesem Jahrzehnt einer der wenigen in der gesamten Bundesrepublik“, ist sich der Vortragende sicher. 

Die unabhängige linke Intellektuellenszene West-Berlins habe Jacob Taubes fasziniert. Eine Schlüsselfigur sei die Aktivistin Margherita von Brentano gewesen, damals wissenschaftliche Assistentin an der Fakultät für Philosophie, die Taubes zweite Ehefrau werden würde. Erst in den Fünfzigerjahren wurden an der jungen Hochschule die Institute für Katholische und Evangelische Theologie gegründet. Wissenschaftler jüdischer Herkunft, aber auch die neuen Theologieprofessoren forderten nachdrücklich ein Institut für Judaistik.

Jacob Taubes ist sofort an der Professur interessiert, fordert jedoch einen zusätzlichen Lehrstuhl für Hermeneutik. Er habe nicht nur über das Judentum lehren wollen, sondern auch philosophische Texte, wie zuvor in New York, so Muller. Ohne zweite Habilitationsschrift und deutsche Staatsbürgerschaft wird er schließlich in einem Ausnahmeverfahren an beide Lehrstühle berufen. 

Redner Jerry Muller (rechts) und Moderator Martin Treml: Auf die Frage, wer den Namen Jacob Taubes bereits vor dem Vortrag gekannt habe, meldet sich etwa ein Drittel des Vorlesungssaals.

Redner Jerry Muller (rechts) und Moderator Martin Treml: Auf die Frage, wer den Namen Jacob Taubes bereits vor dem Vortrag gekannt habe, meldet sich etwa ein Drittel des Vorlesungssaals.
Bildquelle: Jennifer Gaschler

Vertrauensperson der Achtundsechziger-Bewegung

Muller charakterisiert den Rabbiner als „Verbindungsmann zur weiten Welt der Wissenschaft über die Grenzen Deutschlands hinaus“. Neben seinem Kosmopolitismus habe er einen Wissensschatz an kulturellen Bezügen mitgebracht, betont er. „Taubes machte die Studierenden mit Texten von Sigmund Freud und Walter Benjamin bekannt und Wissenschaftlern, die er persönlich kannte, wie Liberalist Leo Strauss, Sozialkritiker Herbert Marcuse oder Essayistin Susan Sontag.“ 

„Interdisziplinäres Denken war eine Grundlage seiner Wissenschaft“, unterstreicht Muller. Auch deshalb sei Taubes schnell in Deutschland zu einer „Person der Öffentlichkeit weit über die jüdische Gemeinschaft hinaus“ geworden, etwa als Berater und Lektor des Suhrkamp Verlags oder Korrespondent von Zeitschriften. Sein Lehrstil sei antihierarchisch und sehr zugänglich gewesen, mit einer eher lockeren Einstellung zu akademischen Richtlinien, so Muller. 

„Wenig überraschend“ wird Taubes zu einer Vertrauensperson der Achtundsechziger-Bewegung und deren Wortführern wie Rudi Dutschke. „Als Religionswissenschaftler hat er über die Geschichte apokalyptischer Bewegungen promoviert, über radikale Änderungen der bestehenden Ordnung. Nun erlebt er eine Zeitenwende in Dahlem live mit.“ Taubes sei darüber enthusiastisch gewesen. Als die Revolutionäre in Flugblättern zur Brandstiftung in Kaufhäusern aufrufen, gehört er zu den Professoren, die ein entlastendes Gutachten verfassen. Er argumentiert, es handle sich um keine reale Aufforderung zu Gewalt, sondern reine Provokation. Er lädt seinen Freund, den bekannten Marxisten Herbert Marcuse, als Gastprofessor nach Berlin ein, und moderiert dessen Diskussion im vollbesetzten Audimax über „Moral und Politik in der Überflussgesellschaft“. 

Fachbereich 11, „Philosophie und Geisteswissenschaften“, dem Jacob Taubes zunächst als Dekan vorsteht, wird zu einem „Zentrum radikal linker Lehre“, erzählt Muller. Flugblätter werden im Institut für Hermeneutik reproduziert, Wissen in marxistisch-leninistischer Literatur für viele Seminare vorausgesetzt. 

Keine akademischen Tabus

Schnell erhält der Fachbereich den Ruf, ausschließlich „ideologischen Radikalismus“ zu lehren. Bekannte Wissenschaftler wie der Philosoph Jürgen Habermas lehnen die Einladung Taubes ab, man spricht von der „Freien Universität unter Hammer und Sichel“. Taubes bleibt öffentlich Unterstützer der Rebellion, privat kritisiert er seine Studentenschaft aus „dogmatischen, vulgären Leninisten“. Seine Skepsis kritisieren wiederum andere Kolleginnen und Kollegen, nicht zuletzt seine Ehefrau. Der an bipolarer Depression erkrankte Jacob Taubes erleidet einen Nervenzusammenbruch und unterzieht sich einer Elektroschocktherapie in New York.

Die Protestbewegung zerfällt in dieser Zeit in Untergruppen, die Lage beruhigt sich. Jacob Taubes wird nach seiner Rückkehr erneut zum „Brückenbauer zwischen Ländern, Disziplinen und Ideen“, beurteilt Muller: In seinem bekannten Hermeneutik-Colloquium bringt er Professoren und Nachwuchswissenschaftler zusammen ebenso wie verschiedenste Fachrichtungen. Intellektuelle wie Jacques Derrida bringt er an die Freie Universität. Originell habe Taubes Querverbindungen erstellt, fasst Muller zusammen, habe keine akademischen Tabus gekannt und sich etwa mit Apostel Paulus und dem umstrittenen NS-Philosophen Carl Schmitt zugleich beschäftigt. 

„Als Jacob Taubes 1978 an Krebs stirbt, hat er seit seiner kaum rezipierten Dissertationsschrift im Jahr 1947 keine eigenständige Publikation mehr veröffentlicht“, schließt Jerry Muller. Taubes habe das gerne öffentlich anders dargestellt, ebenso, wie er sehr frei mit dem Urheberrecht von Gedankengut umgegangen sei. Er sei auch berüchtigt dafür gewesen, in seiner Arroganz Wissen lieber zu erfinden, als zuzugeben, etwas nicht zu wissen. Und dennoch hätten sich zu dieser schillernden Figur viele intellektuelle Koryphäen hingezogen gefühlt, ebenso wie einst die Achtundsechziger-Revolutionäre aus der Studierendenschaft.