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„Philosophische Gedanken konnte er meisterhaft zur Sprache bringen“ – Zum Tod von Peter Bieri

Ein Nachruf von Holm Tetens auf den am 27. Juni im Alter von 79 Jahren verstorbenen ehemaligen Philosophieprofessor der Freien Universität Berlin und Schriftsteller

25.07.2023

Prof. Dr. Peter Bieri (* 23. Juni 1944 in Bern; † 27. Juni 2023 in Berlin). Der Philosoph veröffentlichte unter dem Pseudonym Pascal Mercier Romane.

Prof. Dr. Peter Bieri (* 23. Juni 1944 in Bern; † 27. Juni 2023 in Berlin). Der Philosoph veröffentlichte unter dem Pseudonym Pascal Mercier Romane.
Bildquelle: Peter-Andreas Hassiepen

Wenn Peter Bieri etwas faszinierte und ständig aufs Neue herausforderte, dann war es die Sprache und die Sprachen. Die Sprache war sein Lebensthema. Es war das thematisch einigende Band zwischen ihm als Philosophen, als Romancier und als intellektuellem Essayisten. Immer wieder nannte er eine Leitfrage, die seine Beschäftigung mit der Sprache in den unterschiedlichen Kontexten orientierte: Wie bringe ich etwas angemessen und gut zur Sprache, seien es philosophische Gedanken, sei es das eigene oder das Leben der anderen, sei es die philosophierende Reflexion auf belletristisches Schaffen, um die für Bieri gewichtigsten Kontexte seines Nachdenkens über die Sprache und seines Ringens mit ihr zu nennen.

Philosophische Gedanken konnte er meisterhaft zur Sprache bringen. Vor allem daraus resultierte seine wirklich bemerkenswerte charismatische Wirkung als philosophischer Lehrer auf seine Studenten. Er hat in der Philosophie kleine Meisterstücke philosophischer Artikulation abgeliefert. Dazu zählen besonders seine meisterhaften Einleitungen in zwei von ihm herausgegebenen Aufsatzsammlungen zur analytischen Philosophie des Geistes und zur Erkenntnistheorie. Er entfaltet dort in begrifflicher und argumentativer Klarheit, die noch heute ihres Gleichen sucht, komplexe und kontroverse philosophische Diskussionslagen. Auch in seiner Marburger Antrittsvorlesung, die später zum Aufsatz „Was macht Bewusstsein zu einem Rätsel?“ aus- und umgearbeitet erschienen ist, entfaltet er beeindruckend durchsichtig und begrifflich und argumentativ eindringlich die These, dass phänomenales Erleben nicht naturwissenschaftlich erklärt werden könne.

Bieri, der Lehrstühle für Philosophie in Bielefeld, Marburg und zuletzt an der Freien Universität innehatte, wurde zunächst und für längere Zeit als wichtiger Vertreter und Wegbereiter der Analytischen Philosophie in Deutschland wahrgenommen, einerseits wegen seiner frühen philosophischen Überlegungen in seinem Buch Zeit und Zeiterfahrung und dem Aufsatz „Nominalismus und innere Erfahrung“, andererseits weil er sich hervortat als einer der Sprecher des interdisziplinären Sonderforschungsbereichs „Kognition und Gehirn“ der DFG, der in Deutschland die Kooperation zwischen Philosophen des Geistes, empirischen Neurowissenschaftlern und Psychologen stilbildend etablierte, und weil er eine international besetzte Forschergruppe zur Philosophie des Geistes am ZIF der Universität Bielefeld initiierte und leitete.

Aber schon in dieser Phase eines öffentlich wahrgenommenen Engagements für die Sache der (analytischen) Philosophie hatte er sich selber allerdings unter dem Schutz eines Pseudonyms längst zu neuen Ufern aufgemacht. Er begann, sich immer stärker von der akademischen Welt der Universität im Allgemeinen und von der Universitätsphilosophie unter Einschluss der Analytischen Philosophie im Besonderen zu distanzieren. Er schrieb unter dem Pseudonym Pascal Mercier den Roman „Perlmanns Schweigen“, der im akademischen Milieu spielt und in einer Art Satire oder Groteske einen Wissenschaftler porträtiert, der das Gefühl hat, nichts zu sagen zu haben und daraus auf einer Konferenz die verzweifelte Konsequenz zieht, einem anderen Wissenschaftler dessen Vortragsmanuskript zu stehlen und als eigene Leistung auf der Tagung auszugeben.

In diesem ersten Roman ist schon das wichtigste Motiv von Bieris Absetzbewegungen von der Universitätsphilosophie präsent: der Vorwurf, dass die begriffliche und argumentative Klarheit zum Selbstzweck mutieren könne und dadurch vor allem die existenzielle Dimension der philosophischen Fragestellungen systematisch verfehlt werde. Man redet zwar, hat aber eigentlich nichts zu sagen, ein typisches und wichtiges Problemmotiv bei Bieri. Später hat er das in einem viel diskutierten Aufsatz unter dem Titel „Was bleibt von der analytischen Philosophie?“ auch metaphilosophisch reflektiert. Dort sieht Bieri die Analytische Philosophie in der Gefahr, die logische Raffinesse in der Explikation der Begriffe und in der Konstruktion und Rekonstruktion der Argumente zu bezahlen mit einer Belanglosigkeit der inhaltlichen Fragestellungen und Antwortversuche.

Im Zuge dieser Absetzbewegung von der Universitätsphilosophie zog er immer artikulierter Konsequenzen, die auf einer komplexen Kernthese basieren: Für Antworten auf die existenziellen Grundfragen, wer man ist, wer man sein will, wer man sein sollte, muss man wesentlich seine Phantasie und Einbildungskraft mobilisieren und ausbilden, und das wiederum verlangt auch und vor allem die Sprache der immer auch fiktiven Erzählung und des Romans. Diese These hat Bieri in Essays philosophisch ausgearbeitet und reflektiert, selber in seinen Romanen ausprobiert und vor allem in seinem letzten großen philosophischen Essay „Das Handwerk der Freiheit“ auf das Philosophieren selber angewendet.

Die eben formulierte Kernthese, dass man sich und sein Leben auch mithilfe literarischer Texte zur Sprache bringen müsse, hat er dargelegt und entwickelt in drei Vorlesungen, die unter dem Titel „Wie wollen wir leben? veröffentlicht worden sind. Er bedient sich hier einer wunderbar einfachen Sprache. Zu nennen sind aber auch seine Abhandlung „Wie wäre es, gebildet zu sein?“, in der er die bildungstheoretische Dimension seiner Zentralthese ausarbeitet, und schließlich „Eine Erzählung schreiben und verstehen“ und „Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde“.

Bieri dachte nicht nur philosophisch im Sinne seiner Kernthese über Literatur nach, er schrieb vor allem selber Romane. Auf Perlmanns Schweigen folgte der Roman Der Klavierstimmer. Im Zusammenhang mit der Veröffentlichung dieses Romans lüftete er das Geheimnis des Pseudonyms „Pascal Mercier“, schrieb aber auch seine weiteren Romane als Pascal Mercier, seine übrigen Texte als Peter Bieri. Mit seinem dritten Roman Nachtzug nach Lissabon erreichte Bieri weltweit eine Millionenleserschaft, er wurde zum Bestseller-Autor. Der Roman wurde auch erfolgreich mit internationaler Besetzung verfilmt. Es folgten noch die Novelle Lea und der Roman Das Gewicht der Worte, die aber an den Erfolg des Nachtzug nicht anschließen konnten. Die professionelle Literaturkritik beurteilte Bieris Romane höchst unterschiedlich.

Bei aller Kritik und Skepsis gegenüber bestimmten Spielarten der Philosophie und bei allem Vorrang des eigenen literarischen Schaffens vor den Tätigkeiten eines Philosophieprofessors ist Bieri der Philosophie doch auch treu geblieben. Das beweist einmal mehr sein Buch „Das Handwerk der Freiheit“, das unter philosophischen Sachbüchern selber so etwas wie ein Bestseller geworden ist. In diesem Buch vertritt er die These, dass Freiheit mit Bedingtheit dessen, was wir wollen, verträglich sei, weil unbedingte Freiheit in einer Welt ohne Bedingungen eine unverständliche Vorstellung sei. Das Handwerk der Freiheit wendet seine Kernthese zur Rolle von Phantasie und Einbildungskraft insofern an, als Bieri sowohl inhaltlich als auch in der Metareflexion vor allem an Dostojewskis Roman Schuld und Sühne zeigen will, wie wir unseren wahren, unseren eigentlichen Willen nur entdecken können, indem wir die Macht, die zufällige Bedingtheiten über uns haben, in der Phantasie und unserer Einbildungskraft relativieren, begrenzen und überwinden können.

Die Absetzbewegung von der Universität und der akademischen Philosophie, die bei Bieri eine entscheidende ihn prägende Lebensbewegung war, ging nicht völlig geräuschlos und konfliktlos vonstatten. Bieri fühlte sich öfters missverstanden und nicht hinreichend gewürdigt von Kollegen. Aber er hat es auch Kollegen nicht immer leicht gemacht. Jedoch hat etwas anderes viel mehr Gewicht für die bleibende Erinnerung an ihn. Der Respekt vor dem Toten gebietet es, nur eine Frage zu stellen, und verbietet es, über die richtige Antwort zu spekulieren: War sein ja explizit programmatischer Rückzug in die literarische Artikulation der eigenen Phantasien und Vorstellungen auch ein Weg in die Einsamkeit? Peter Bieri ist am 27. Juni kurz nach seinem 79. Geburtstag gestorben.