Kann man aus der Geschichte lernen, Herr Bauerkämper?
Wo steht Europa heute? Ein Gespräch mit dem Historiker Arnd Bauerkämper von der Freien Universität Berlin, der seit mehr als drei Jahrzehnten zu Europa arbeitet
03.07.2024
Nach 20 Jahren am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität wurde Professor Arnd Bauerkämper am 19. Juni feierlich in den Ruhestand verabschiedet. In welchem Zustand sieht er den Gegenstand seiner langjährigen Forschung – Europa – heute? Was hat ihn während seiner Laufbahn überrascht? Und was macht er in Zukunft?
Herr Professor Bauerkämper, als Sie als Historiker zu arbeiten begannen, war Europa im Umbruch, der Ostblock löste sich auf, die Sowjetunion brach zusammen. Heute, mehr als 30 Jahre später, scheint Europa erneut auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft.
Anfang der 1990er Jahre waren einige sehr optimistisch. Ich erinnere an Francis Fukuyama, der 1992 sein Buch „The end of history“ veröffentlicht hat. Die Demokratie hat gesiegt, also wird es auch weniger Kriege geben, so dachten manche. Es herrschte ein gewisser Optimismus, der mich wahrscheinlich auch eine Zeitlang beeinflusst hat.
Aber ich habe damals – neben meinen Forschungen zur Geschichte der Zivilgesellschaft – auch die Ursprünge des Faschismus untersucht, und ich habe mich gefragt, inwiefern man das Aufkommen autoritärer und faschistischer Bewegungen und Regime in den 1920er und 1930er Jahren als Reaktion auf die erste Globalisierungswelle verstehen kann, also den starken Anstieg des internationalen Handels und teilweise auch schon des gesellschaftlichen Austauschs vor dem Ersten Weltkrieg. Die stark gewachsene internationale Verflechtung hat zu Beginn des 20. Jahrhundert einige zeitgenössische Beobachter dazu verleitet zu sagen: Eigentlich ist ein Krieg gar nicht mehr möglich, weil er wirtschaftlich so desaströs wäre. Zehn Jahre später begann der Krieg, und zwar ein Weltkrieg.
Und auf das „Ende der Geschichte“ folgte der 11. September und vor zwei Jahren die Rückkehr eines brutalen Angriffskrieges in Europa im Fall der Ukraine. Mich als Laien würde interessieren: Denken Sie, dass wir aus der Geschichte lernen können? Ist es möglich, aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit bleibende Lehren zu ziehen? Oder ist die ganze Aufarbeitung eher eine Art Selbstvergewisserung von uns Heutigen, um besser leben zu können?
Das ist eine wichtige und zentrale Frage. Ich denke nicht, dass wir direkte Folgerungen aus der Geschichte ziehen können oder Handlungsanweisungen. Man kann aber, so meine ich, doch Einsichten gewinnen über gewisse Gefahren, die lauern.
Ich will ein ganz konkretes Beispiel geben: Ich komme gerade aus einer Seminarveranstaltung, in der wir über die Internierung von Zivilisten sprachen, die während der beiden Weltkriege in Großbritannien und den USA als Feindstaaten-Angehörige in Lager gesperrt wurden. Daran sieht man sehr gut, wie in einem Notstand Maßnahmen ergriffen wurden, die weit über das eigentliche Ziel hinausschossen, auch in demokratischen Staaten. Später wurden sie deshalb auch oft bedauert und zurückgenommen.
Was ich damit sagen will: Aus dem Studium eines Prozesses wie diesem können wir eine gewisse kritische Distanz gewinnen, wie überhaupt aus der Einsicht, dass Geschichte kontingent ist, also offen, zum Positiven wie zum Negativen.
Kontingenz heißt, es hätte auch anders kommen können.
Ja, es gibt einen Möglichkeitshorizont und keinen Zustand, der endgültig und einzementiert ist. Geschichte besteht aus Kontinuität, aber auch aus Wandel.
Die Frage der Kontingenz ist auch deshalb wichtig, weil wir als Historiker natürlich versuchen zu verstehen, uns einzufühlen, warum frühere Akteure so handelten, wie sie es taten. Warum hat beispielsweise mehr als ein Drittel der Wähler im Juli 1932 für die NSDAP gestimmt? Dieses historisierende Nachvollziehen führt manchmal dazu, dass man sagt: Sie konnten es halt nicht besser wissen, wodurch man es letztlich rechtfertigt. Aber das muss man dann kontrastieren mit der kritischen Distanz: Es hätte doch auch anders kommen können, und auch die Handelnden hätten anders handeln können (und aus heutiger Sicht auch sollen). Mit dieser Spannung muss man umzugehen lernen.
Wenn man überlegt, wie es anders hätte kommen können, landet man auch schnell bei der Frage, was wichtiger ist: die Strukturen oder die handelnden Menschen?
Ich würde das die Spannung zwischen Strukturen und Individuen nennen. Um das Beispiel der „Machtergreifung" der Nationalsozialisten" zu nehmen: Sie war in gewisser Weise vorgeprägt oder zumindest vorgezeichnet, weil die Spielräume sich durch die Schwächung der Demokratie im Übergang zu Präsidialkabinetten, zu immer autoritäreren Regierungen ab 1930 immer mehr verengt hatten.
Doch zugleich hätte selbst im Januar 1933 Hitler noch vermieden werden können. Man denke daran, wie kurz vor der Ernennung Hitlers durch Reichspräsident Hindenburg Alfred Hugenberg von der konservativen DNVP, der als Koalitionspartner der Nationalsozialisten die Ernennung Hitlers unterstützen wollte, noch am 30. Januar 1933 vorübergehend seine Zustimmung verweigerte, weil er fürchtete, dass die NS-Führung dann schnell Neuwahlen ausrufen würden, in denen seine Partei unterzugehen drohte. Hugenberg saß zusammen mit den anderen künftigen Ministern im Vorzimmer des Reichspräsidenten Hindenburg und diskutierte, bis Staatssekretär Otto Meissner in den Raum kam und drängte: Man dürfe doch den alten Herrn nicht länger warten lassen! Woraufhin Hugenberg zustimmte; der Rest ist bekannt.
Was ich damit sagen will: Im Einzelnen bedarf es des Handelns von ganz bestimmten Personen und Konstellationen, manchmal auch ganz zufälligen, um zu erklären, welchen Gang die Geschichte genommen hat; aber das sollte nicht davon ablenken, dass diese Personen natürlich ohne die größeren Strukturen, in die sie eingebettet sind, nicht handeln.
Wie sehen Sie als Historiker die Zukunft Europas?
Historiker sind keine guten Propheten. Aber was wir tun können, ist, durch einen Rückgriff auf die Geschichte deutlich machen, woher gewisse Konflikte und Spannungen rühren. In Europa ist das zum Beispiel die Spannung zwischen der zunehmenden europäischen Integration und den Regierungen der weiterbestehenden Nationalstaaten. Ich denke, die Gefahr einer nationalistischen und rechtsradikalen Reaktion auf die europäische Integration oder Globalisierung ist durchaus gegeben.
Mich hat überrascht, wie stark diese Reflexe offenbar sind, die da immer wieder mobilisiert werden können: „Wir müssen unser Land verteidigen gegen die EU-Bürokraten, die uns zu diesem oder jenem zwingen wollen“.
Das war untergründig immer da. Und es gab und gibt ja durchaus auch Regierungen, die für Maßnahmen, die unpopulär sind, auf eine populistische Art die Europäische Union verantwortlich gemacht haben, selbst wenn sie eigentlich diese Politik selber befürwortet hatten. Dieses „Verstecken" ist geeignet, Europa als Idee und die Europäische Union zu schädigen. Auch sehen wir derzeit, dass die Abstimmungsprozesse in der EU als Staatenbund schwierig bleiben, langwierig, und mit Rückschlägen verbunden, und dass dann, wenn die Menschen sich auch noch durch und Unsicherheit Krisen bedroht fühlen, der Ruf nach schnellen, vermeintlich klaren Lösungen laut wird.
Ich würde – auch als Historiker, aber mehr noch als Staatsbürger – für ein Stück weit Gelassenheit und auch Geduld plädieren: Heute würde man wohl „Resilienz" dazu sagen. Kann die Geschichte nicht die Einsichten vermitteln, dass manche Probleme Folgen einer längerfristigen Entwicklung sind, die man nur zum Teil beeinflussen kann? Obwohl wir als Bürgerinnen und Bürger natürlich dazu beitragen können und müssen, dass die Entwicklung in eine Richtung geht, die uns verträglich ist, unsere Freiheiten verteidigt und unser Zusammenleben befördert, müssen wir auch lernen, mit Entwicklungen umzugehen, die wir im Einzelfall weder wollen noch begrüßen. Aber das ist jetzt wirklich als Staatsbürger gesagt und nicht mehr nur als Historiker, obwohl man beide Rolle nicht scharf voneinander trennen kann.
Letzte Frage: Sie nehmen Ihren Abschied als Lehrender, nicht als Forscher: Womit werden Sie sich in Zukunft beschäftigen?
Mich beschäftigt schon länger die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in der Geschichte. Daraus ist mein Buch über die Internierung von Zivilisten in den beiden Weltkriegen entstanden.
Daran knüpft meine derzeitige Forschung über den Terrorismus gegen die zivile Luftfahrt und die Entwicklung einer europäischen und internationalen Sicherheitspolitik an. Die speist sich aus demselben Interesse: Wie weit darf und sollte Sicherheitspolitik angesichts einer Bedrohung, in diesem Fall durch terroristische Anschläge auf den Flugverkehr, gehen? Europa ist kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund, aber trotzdem hat sich unter den Regierenden seit den 1970er Jahren sukzessive und sehr allmählich die Einsicht verbreitet, dass man den zunehmend international agierenden Terroristen nur durch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei dessen Abwehr begegnen kann.
Die Fragen stellte Pepe Egger