Springe direkt zu Inhalt

Neandertaler im Harz verzierte Knochen bereits vor mehr als 50.000 Jahren

Fund aus der Einhornhöhle in Niedersachsen wirft neues Licht auf die kognitiven Fähigkeiten unseres letzten Vorfahren / Forschungsprojekt mit Beteiligung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Freien Universität Berlin

Nr. 150/2021 vom 04.08.2021

Funde eines Forschungsteams in einer Höhle in Niedersachsen legen nahe, dass es sich beim Neandertaler nicht um einen primitiven Vormenschen handelt, wie dies seit der Entdeckung erster Fossilreste im 19. Jahrhundert allgemein vermutet wird. Das Team des Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege veröffentlichte in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft Unicornu fossile e. V. (Dr. Ralf Nielbock), der Freien Universität Berlin und weiteren Institutionen einen Artikel in der Fachzeitschrift „Nature Ecology and Evolution“ über einen neuen Fund aus der Einhornhöhle im Harz. Diese darin dokumentierte Entdeckung liefert entscheidende Hinweise auf die geistigen Fähigkeiten des genetisch nächsten Verwandten des modernen Menschen, des Homo sapiens. Die Kompetenz des Neandertalers zur Herstellung effektiver Werkzeuge und Waffen ist zwar lange nachgewiesen, aber konnte er auch Verzierungen, Schmuck oder gar Kunst anfertigen? Dieser Frage konnte das Forschungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Thomas Terberger vom Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege auf den Grund gehen.

Im Rahmen des Projekts, das seit 2019 durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur geförderte wurde, gelang es erstmals, im verstürzten Eingangsbereich der Einhornhöhle gut erhaltene Kulturschichten aus der Zeit des Neandertalers zu erschließen. Unter den erhaltenen Jagdbeuteresten stellte sich ein unscheinbarer Fußknochen als Sensation heraus.

Nach der Entfernung der anhaftenden Sedimente zeigte der Knochen ein winkelartiges Muster aus sechs Kerben. Grabungsleiter Dr. Dirk Leder erkannte rasch, dass es sich nicht um Schlachtspuren, sondern eindeutig um eine Verzierung handeln muss. Zusammen mit Dr. Raphael Herrmann von der Universität Göttingen führte er Experimente mit Fußknochen von Rindern durch. Sie zeigen, dass der Knochen wohl zunächst gekocht werden musste, um das Muster anschließend mit Steingeräten in etwa 1,5 Stunden in die aufgeweichte Knochenoberfläche zu schnitzen.

Mit Hilfe von Dr. Matthias Hüls vom Leibniz-Labor der Universität Kiel konnte der verzierte Knochen mit der Radiokarbonmethode auf ein Alter von mehr als 51.000 Jahren datiert werden. Damit ist es erstmals gelungen, ein vom Neandertaler verziertes Objekt mit dieser Methode verlässlich zu datieren. Bislang waren einige Schmuckobjekte aus der Zeit der letzten Neandertaler in Frankreich bekannt. Diese etwa 40.000 Jahre alten Funde werden jedoch von vielen Forschenden als Nachahmungen angesehen, denn zu dieser Zeit hatte sich bereits der moderne Mensch in Teilen Europas ausgebreitet. Aus etwa zeitgleichen Höhlenfundstellen des modernen Menschen auf der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg sind Schmuckobjekte und kleine Elfenbeinskulpturen überliefert.

Gabriele Russo von der Universität Tübingen konnte mit Unterstützung des Roemer- und Pelizaeus-Museums Hildesheim bestimmen, dass der verzierte Fußknochen von einem Riesenhirsch (Megaloceros giganteus) stammt. Es ist nach Ansicht des Forschungsteams kein Zufall, dass der Neandertaler den Knochen eines eindrucksvollen Tieres mit riesigen Geweihschaufeln für seine Schnitzerei ausgewählt hat.

Das hohe Alter des Neufundes aus der Einhornhöhle zeigt den Ergebnissen zufolge zudem, dass der Neandertaler – bereits Jahrtausende vor dem Homo sapiens in Europa – in der Lage war, Muster auf Knochen selbstständig herzustellen und wohl auch mit Symbolen zu kommunizieren. Dies spreche für eine eigenständige Entwicklung der kreativen Schaffenskraft des Neandertalers. Der Knochen von der Einhornhöhle repräsentiere somit das älteste verzierte Objekt Niedersachsens und einen der bedeutendsten Funde aus der Zeit des Neandertalers in Mitteleuropa.

An der Freien Universität Berlin wurden am Institut für Geographische Wissenschaften unter Leitung von Dr. Philipp Hoelzmann die Fundschichten sedimentologisch, geochemisch und mineralogisch untersucht und daraus die Ablagerungsdynamik der Sedimente abgeleitet. „Die Sedimente der Einhornhöhle mit den darin eingebetteten fossilen Resten stellen ein äußerst wertvolles Klima- und Umweltarchiv dar, da Ablagerungen mit derartig gut erhaltenen Knochen für die Zeitscheibe des Neandertalers äußerst selten sind“, betont der Wissenschaftler.

Niedersachsens Wissenschaftsminister Björn Thümler zeigte sich erfreut über die Ergebnisse: „Die niedersächsische Archäologie sorgt immer wieder für Befunde und Funde, die unsere Geschichte neu schreiben. Dank der Fundstelle in Schöningen haben wir jüngst erfahren, dass der Homo heidelbergensis hoch entwickelte kognitive und technologische Fähigkeiten hatte. Dank der Fundstelle am Harzhorn wurde bekannt, dass die römische Armee im 3. Jh. n. Chr. tief in die germanischen Gebiete eingedrungen war und sie trotz Hinterhalt lebendig wieder verlassen konnte. Nun haben die Forschungen in der Einhornhöhle ergeben, dass schon die Neandertaler vor Ankunft der modernen Menschen aufwendig zu erstellende Zeichen erzeugten und hinterließen: wieder einmal eine weitreichende neue Erkenntnis, die unser Bild der Vorzeit gründlich revidiert. Dafür danke ich allen am Forschungsprojekt beteiligten von Herzen.“

Weitere Informationen

Kontakt an der Freien Universität Berlin

Dr. Philipp Hoelzmann, Institut für Geographische Wissenschaften an der Freien Universität Berlin, Telefon: 030 / 838-70635, E-Mail: philipp.hoelzmann@fu-berlin.de

Publikation

D. Leder/ R. Hermann/ M. Hüls/ G. Russo/ P. Hoelzmann, R. Nielbock/ U. Böhner/ J. Lehmann / M. Meier / A. Schwalb/ A. Tröller-Reimer/ T. Koddenberg, and T. Terberger, A 51,000 year old engraved bone reveals Neanderthals' capacity for symbolic behavior. Nature Ecology & Evolution. DOI: https://doi.org/10.1038/s41559-021-01487-z
www.nature.com/articles/s41559-021-01487-z 

Pressebilder

https://denkmalpflege.niedersachsen.de/aktuelles/nachrichten/der-neandertaler-als-kunstler-vorfahre-verzierte-knochen-vor-uber-50-000-jahren-202141.html 

Weitere Informationen zur Einhornhöhle

https://denkmalatlas.niedersachsen.de/viewer/objekte/einhornhoehle/