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Kommunikationswissenschaftlerinnen: Journalismus im Krieg verlangt von Medienschaffenden enormes Verantwortungsbewusstsein

Kommunikationswissenschaftlerinnen Dr. Anna Litvinenko, Prof. Dr. Margreth Lünenborg und Prof. Dr. Carola Richter analysieren bisherige Berichterstattung des Kriegs in der Ukraine und stellen Empfehlungen vor

Nr. 030/2022 vom 14.03.2022

Eine Berichterstattung im Krieg und über die Konfliktparteien erfordert nach Einschätzung von Kommunikationswissenschaftlerinnen der Freien Universität Berlin ein überaus hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein. Diesem würden Medienschaffende in Deutschland überwiegend gerecht, doch gebe es auch ethische Defizite und Unachtsamkeiten in der Berichterstattung. Dr. Anna Litvinenko, Expertin für osteuropäische und russische Medien, Prof. Margreth Lünenborg, Professorin für Journalistik und Prof. Dr. Carola Richter, Professorin für Internationale Kommunikation, stellten am Montag in Berlin ihre Beobachtungen der Veröffentlichungen und Informationen seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine am 24. Februar vor und mahnten zu noch mehr Besonnenheit der Medienschaffenden. So sehen die Wissenschaftlerinnen zunehmend die Gefahr, dass ein antirussisches Feindbild die Berichterstattung präge, über das pauschal alle Russinnen und Russen verunglimpft würden. Individuen dürften jedoch nicht für Staatshandlungen verantwortlich gemacht werden. Vermieden sollten nach Einschätzung von Professorin Carola Richter zudem ein von Kriegsrhetorik geprägter „Waffenjournalismus“, bei dem militärstrategische Überlegungen, Heldenstilisierung und der Fokus auf Gewinnen/Verlieren im Vordergrund stünden. Stattdessen sollten das Suchen nach diplomatischen Lösungen und die negativen Auswirkungen des Krieges für die Zivilgesellschaft in beiden Ländern in den Fokus rücken. Auch hier gebe es Defizite in der Berichterstattung.

Die Forscherinnen rieten, neben der Berichterstattung zu den aktuellen Ereignissen in stärkerem Maße historische und geopolitische Entwicklungen und Kontexte aufzuzeigen. Diese erleichterten es dem Publikum, die aktuelle Situation zu verstehen. Eine Auseinandersetzung mit der Auflösung des Warschauer Pakts und der NATO-Osterweiterung rechtfertige nicht Verständnis für den Angriff auf die Ukraine, doch werde das Wissen über die geopolitischen Entwicklungen in der Region erweitert. Dies sei notwendig, um politische Reaktionen und Strategien der Länder zugunsten von Friedensmaßnahmen einordnen zu können.

Dr. Anna Litvinenko betonte, Medienschaffende müssten die Informationswege in Russland und in der Ukraine kennen, um die jeweilige Nachrichtengebung verstehen und die Bildung einer öffentlichen Meinung im Land einschätzen zu können. Hilfe können dabei bereits etablierte Regional-Netzwerke bieten, etwa n-ost oder Dekoder. Auch das Ausmaß und die Wirkungen von Zensurmaßnahmen sollte jederzeit mitbewertet werden, hier sei eine Zusammenarbeit mit Organisationen wie Reporter ohne Grenzen hilfreich, wie die Wissenschaftlerinnen weiter erläuterten.

Die Forscherinnen betonten, dass die sorgfältige Recherche und Verifikation bei unübersichtlicher Quellenlage insbesondere im Krieg unabdingbar seien. Alle Informationen, gerade dann, wenn sie von beteiligten Kriegsparteien stammten, müssen besonders sorgsam überprüft und kritisch eingeordnet werden mit dem Ziel, eine Instrumentalisierung des eigenen Mediums im Propagandakrieg zu vermeiden. Dazu gehöre die Stärkung des Zwei-Quellen-Prinzips und des Primats der Richtigkeit vor Schnelligkeit – be first, but first be right. Ressourcen zum Faktencheck und zur Überprüfung von Informationen sollten uneingeschränkt zur Verfügung stehen, unterstrichen die Forscherinnen. Auch Bilder und Videos aus Social-Media-Plattformen sollten erst dann wiedergegeben werden, wenn sie verifiziert werden konnten. Sie erzielen unmittelbare Wirkung, auch wenn sie als „nicht unabhängig bestätigt“ gekennzeichnet werden. „Das Bild verfängt, der einordnende Halbsatz verfliegt“, gibt Prof. Margreth Lünenborg zu bedenken. Diesem Umstand müssten sich Medienschaffende jederzeit bewusst sein.

Die Wissenschaftlerinnen warnten davor, dass im Zuge des Krieges in der Ukraine Geflüchtete gegeneinander ausgespielt würden. Es sei kontraproduktiv, wenn in der Darstellung von ukrainischen Flüchtlingen und solchen aus Ländern wie Afghanistan oder Syrien Unterschiede gemacht würden. „Es darf keine Flüchtlinge erster und zweiter Klasse geben“, erklärte Professorin Margreth Lünenborg. Medienschaffende müssten jederzeit deutlich machen, dass Mitgefühl allen Opfern von Krieg und Vertreibung gelte.

Kontakte für Interviews

  • Dr. Anna Litvinenko, wiss. Mitarbeiterin, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
    Schwerpunkte: osteuropäische und russische Medien, mediale Situation in Russland, Zivilgesellschaft und russisch-ukrainische Beziehungen
    E-Mail: anna.litvinenko@fu-berlin.de
  • Prof. Dr. Margreth Lünenborg, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
    Schwerpunkte: Journalistik, Medien und Migration
    E-Mail: margreth.luenenborg@fu-berlin.de
  • Prof. Dr. Carola Richter, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
    Schwerpunkte: Internationale Kommunikation; Auslands- und Kriegsberichterstattung; Medien und Flucht
    E-Mail: carola.richter@fu-berlin.de

Positionspapier:

https://www.polsoz.fu-berlin.de/kommwiss/arbeitsstellen/internationale_kommunikation/News/Verantwortungsvoller-Journalismus-im-Krieg.pdf

Weitere Forschende der Freien Universität Berlin zum Krieg in der Ukraine:

https://www.fu-berlin.de/presse/expertendienst/aktuell/2022/angriff-russlands-auf-die-ukraine.html