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Wunderbare Wertschöpfung

Der Soziologe Sérgio Costa und der Rechtssoziologe Guilherme Leite Gonçalves haben die wechselvolle Geschichte des Hafens von Rio de Janeiro erforscht.

15.07.2016

Ein Museum für den Hafen von Rio: Das spektakuläre Gebäude des Stararchitekten Santiago Calatrava soll eine der ärmsten Gegenden der Stadt aufwerten.

Ein Museum für den Hafen von Rio: Das spektakuläre Gebäude des Stararchitekten Santiago Calatrava soll eine der ärmsten Gegenden der Stadt aufwerten.
Bildquelle: picture alliance

Wenn am 5. August in Rio de Janeiro die 31. Olympischen Sommerspiele beginnen, wird auch Rios neue Hafenmeile „Porto Maravilha“ die Aufmerksamkeit der Welt auf sich ziehen: Nicht nur, weil dort zwischen spektakulären Neubauten wie dem „Museu do Amanhã“ nach der Eröffnungsfeier das Olympische Feuer brennen wird, nicht nur weil unweit im Sambódromo die Leichtathletikwettbewerbe ausgetragen werden oder weil am Hafen eine der „Live sites“ der Olympischen Spiele entstehen wird.

Vor allem wird im Blickfeld sein, wie sich Rio zu verwandeln sucht: Ganz bewusst hat die Stadt, dem Beispiel Barcelonas folgend, die Gelegenheit der Olympischen Spiele zu nutzen versucht, um einem vormals vernachlässigten Hafenviertel neues Leben einzuhauchen. Oder wie es in der Sprache der Immobilienbranche heißt: es zu „revitalisieren“.

Das daraus entstandene Projekt „Porto Maravilha“ wurde zeitgleich mit der Vergabe der Spiele an Rio beschlossen, als städtebaulicher Großumbau: Neue Verkehrsnetze sollten entstehen und die alte Stadtautobahn abgerissen werden, neue Infrastruktur geschaffen und neue Museen als Wahrzeichen erbaut, wie das „Museu do Amanhã“, das Museum von Morgen, des spanisch-schweizerischen Star-Architekten Santiago Calatrava. Dazu sollten zahlreiche neue Büro- und Wohnblocks in die Höhe schießen, wobei von letzteren fast alle der Rezession und dem Einbruch des Immobilienmarktes zum Opfer gefallen sind.

Der brasilianische Soziologe Sérgio Costa, Professor am Lateinamerika-Institut und am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin, hat nun zusammen mit seinem Kollegen und früheren Alexander-von-Humboldt-Stipendiaten Guilherme Leite Gonçalves, Professor an der Staatsuniversität Rio de Janeiro (UERJ), die dichte Geschichte des Hafens und des umliegenden Viertels in den Blick genommen. Ihre Studie „Marvellous Value: Metamorphoses of Capital Accumulation in the Harbor Zone of Rio de Janeiro“ wurde in einer ersten Fassung auf dem 33. Congress of the Latin American Studies Association im Jahr 2015 vorgestellt und erscheint demnächst.

Ziel des Forschungsvorhabens sei es ursprünglich gewesen, Formen der Kapitalakkumulation seit der Kolonialzeit und ihre Metamorphosen zu untersuchen, berichtet Costa: „Wir haben dann bald festgestellt, dass der Hafen von Rio dafür ein wunderbarer Untersuchungsgegenstand ist, denn hier kann man vom Merkantilismus bis hin zum Finanzkapitalismus die unterschiedlichen Phasen der Kapitalakkumulation in den vergangenen 300 bis 400 Jahren sehr deutlich beobachten.“

Costa und Leite Gonçalves knüpfen an die Marx’sche Tradition und ihre Fortführungen bis in die zeitgenössische Stadtsoziologie hinein an und analysieren vor allem in Auseinandersetzung mit dem Werk des Geographen und Sozialtheoretikers David Harvey die wechselvolle Geschichte des Hafenviertels als Gegenstand immer neuer Enteignung und Aneignung: Das hatte auch der Bürgermeister von Rio de Janeiro, Eduardo Paes, deutlich illustriert, als er bei der Beschreibung des „Porto Maravilha“ sagte, es handele sich um eine gigantische „Wiederbelebung“ und „Wiederaufwertung“ eines Ortes, an dem bloß noch „demografische Leere“ und Niedergang herrschten.

Costa und Leite Gonçalves beschreiben dieses diskursive Umdeuten eines Orts zum Nicht-Ort und zur Leere als einen wiederkehrenden Prozess, wodurch sich seit dem 17. Jahrhundert immer neue Projekte der Einverleibung begründen ließen. So lassen sich an der Geschichte des Hafens von Rio und des umliegenden Viertels zentrale Aspekte der Geschichte Brasiliens genau wie der des portugiesischen Kolonialreiches ablesen.

Das beginnt damit, dass Rio zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert der weltweit größte Umschlagplatz des transatlantischen Sklavenhandels war: Rund zwei Millionen Menschen aus Afrika wurden dorthin verschleppt und als Sklaven verkauft. Am Ende des 19. Jahrhunderts schließlich entsteht um den Hafen die erste Favela Rio de Janeiros. In der Region siedeln sich ebenfalls zahlreiche Afrobrasilianer an, die durch die Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1888 befreit wurden. Dort erfinden sie schließlich die Sambamusik und pflegen die brasilianische Kampfkunst Capoeira: Also das, womit sich Rio unter anderem während der Sommerspiele der Welt präsentieren wird.

Weitere Informationen

Sérgio Costa, Professor am Lateinamerika-Institut und am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin, Tel.: +49 30 838-55446, E-Mail: sergio.costa@fu-berlin.de