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Forschen über den Islam in aller Welt

Seit zehn Jahren bildet die „Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies“ Doktorandinnen und Doktoranden aus

15.10.2018

Auch in Deutschland unterliegt das islamische Leben einem beständigen Wandel. An der Graduiertenschule Muslim Cultures wird dieser Wandel erforscht.

Auch in Deutschland unterliegt das islamische Leben einem beständigen Wandel. An der Graduiertenschule Muslim Cultures wird dieser Wandel erforscht.
Bildquelle: Winfried-Rothermel/picturre-alliance

Im Rahmen eines jeweils dreijährigen Promotionsprogramms von Freier Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin und dem Leibniz-Zentrum Moderner Orient setzen sich Doktorandinnen und Doktoranden mit der Vielfalt und Veränderlichkeit islamisch geprägter Gesellschaften und Kulturen auseinander  – im Fokus stehen dabei auch aktuelle Themen.

Ein Gespräch mit Gudrun Krämer, Professorin für Islamwissenschaft, und Hansjörg Dilger, Professor für Sozial- und Kulturanthropologie, beide Freie Universität Berlin, die die Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies (BGSMCS) als Direktorin und stellvertretender Direktor leiten.

Frau Professorin Krämer, der Islam steht derzeit im Fokus öffentlicher Debatten. Wie erleben Sie als Islamwissenschaftlerin den Diskurs?

KRÄMER: Die Debatte ist an sich nicht neu, sie wird schon seit zwei oder drei Jahrzehnten geführt. Was aber in der Öffentlichkeit beständig zugenommen hat, ist das Interesse am Islam und an den Muslimen in Deutschland und Europa. Man beschäftigt sich heute viel mehr mit dem islamischen Leben hierzulande als noch vor zehn Jahren. Das merken wir auch an der Graduate School.

Inwiefern?

KRÄMER: Wir bekommen viele Anfragen von Journalisten, Verbänden und anderen öffentlichen Institutionen. Mittlerweile kommen dabei auch verstärkt Anfragen aus dem Ausland. Auch in Amerika oder China beginnt man, sich für den Islam in Deutschland zu interessieren.

Gibt es mittlerweile so etwas wie einen „deutschen Islam“?

KRÄMER: Ich würde das nicht so nennen. Viele Muslime würden wohl auch Anstoß daran nehmen, den Islam zu nationalisieren, ganz gleich, ob man dabei von einem deutschen, italienischen oder irakischen Islam spräche. Aber natürlich prägen die hier lebenden Gläubigen den Islam auf ihre Weise. In den vergangenen Jahren sind viele Muslime aus dem Irak, Syrien oder Afghanistan zu den bestehenden Gemeinden gestoßen; daher ist das islamische Leben auch in Deutschland in beständigem Wandel, und das wiederum führt zu Kontroversen. Das zeigt sich auch in unserer Forschung ganz deutlich: Überall auf der Welt ist der Islam enorm vielfältig und unterliegt historischer Veränderung.

DILGER: Diese Vielfalt untersuchen wir an der Graduiertenschule. Wir betrachten dabei nicht die Religion allein, sondern die Einbettung religiöser Praxis und Ideen in gesellschaftliche oder politische Prozesse. In der öffentlichen Debatte wird „der Islam“ zuweilen als Problem gesehen – an der Graduate School kommt die ganze Vielfalt muslimisch geprägten Lebens zur Sprache.

Zu welchen Themen wird bei Ihnen derzeit vornehmlich gearbeitet?

KRÄMER: Wir zeichnen uns durch eine große Bandbreite von Forschungsfragen aus, was die geografische Ausdehnung angeht, aber auch die beteiligten Disziplinen. Im Vordergrund stehen bei uns allerdings Untersuchungen aus der Islamwissenschaft, Sozial- und Kulturanthropologie und Politikwissenschaft. Geografisch bewegen wir uns von Nordamerika bis China, also weit über die Grenzen dessen hinaus, was man gemeinhin als „islamische Welt“ bezeichnet. Unsere Themen reichen von Analysen der Geschichtsschreibung der frühen Neuzeit über islamische Kartografie bis hin zu Untersuchungen über Religionsfreiheit in Indonesien oder eine “islamische” Konsumkultur in Syrien.

DILGER: Die verschiedenen disziplinären Perspektiven erlauben es, Themenstellungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten. Dazu ermutigen wir auch unsere Doktorandinnen und Doktoranden: Wenn man eine Dissertation beispielsweise über islamische Texte verfasst, ist es wichtig mitzudenken, was das für die gelebte Praxis bedeutet. Umgekehrt ist jede religiöse Praxis immer auch historisch bedingt und deshalb abhängig von überlieferten Vorschriften in islamischen Texten.

Etwas mehr als die Hälfte unserer Promovierenden kommt aus dem Ausland – und zwar aus ganz unterschiedlichen Regionen der Welt, etwa aus asiatischen oder afrikanischen Ländern. Das schafft ein besonderes Klima und prägt auch die Diskussionen: Wenn wir etwa über postkoloniale Ansätze sprechen, fließen neben der westlichen Sicht auf die Welt auch die aus den verschiedenen Herkunftsländern der Doktoranden ein.

Wie wird das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit an der Graduate School gelebt?

KRÄMER: Wir stellen uns Anfragen und suchen den Austausch. Viele unser Doktorandinnen und Doktoranden sind sehr daran interessiert, die öffentliche Debatte mitzugestalten und nehmen dazu regelmäßig Stellung, etwa in eigenen Blogs.

Dort wird ja oftmals kritisch über den Islam debattiert – wie werden die Studierenden bei der Kommunikation mit der Öffentlichkeit unterstützt?

DILGER:  Viel lernen die Doktorandinnen und Doktoranden, wenn sie Ausstellungen, Filmvorführungen oder öffentliche Vorträge organisieren – auch voneinander. Auch von ihren Betreuerinnen und Betreuern erhalten sie Unterstützung und von der Geschäftsstelle der Graduiertenschule in Bezug auf Öffentlichkeitsarbeit. Aber wir diskutieren ebenso darüber, welche Inhalte wir zur öffentlichen Debatte beisteuern und wie man mit Hasskommentaren und negativem Feedback umgeht.

Wie blicken Sie nach zehn Jahren auf die bisherige Arbeit zurück?

DILGER: Die Güte der Ausbildung an der Graduate School lässt sich auch daran bemessen, dass unsere Absolventinnen und Absolventen zum allergrößten Teil gute berufliche Positionen gefunden haben. Viele sind in der Wissenschaft tätig, andere in politischen Institutionen, im Kulturbereich, in den Medien oder bei Stiftungen. Viele, die für ihre Promotion aus dem Ausland zu uns gekommen sind, haben in Deutschland Fuß gefasst und sind geblieben.

KRÄMER: Auch für mich hat sich das Konzept der Graduiertenschule eindeutig bewährt. Es ist uns gelungen, eine lebendige Schule zu schaffen, die auch international in ein weites Netz eingebunden ist, bei uns sind äußerst gelungene Doktorarbeiten entstanden. Sehr profitiert haben wir von den Postdoktoranden – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach der Promotion – und anderen Forschenden, die bei uns zu Gast waren. Besonders fruchtbar ist die Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Leibniz-Zentrum Moderner Orient.

DILGER:  In der Graduiertenschule sind die verschiedenen Institutionen mit ihren jeweiligen thematischen und regionalen Schwerpunkten seit Jahren eng zusammengewachsen: Am Leibniz-Zentrum Moderner Orient stehen die arabische Welt – aber auch verschiedene Teile Afrikas – im Mittelpunkt, bei den Kolleginnen und Kollegen der Humboldt-Universität liegt der Fokus auf Zentral- und Süd- bzw. Südostasien. An der Freien Universität gibt es einen Forschungsschwerpunkt zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie zum östlichen und südlichen Afrika. Gemeinsam ist uns allen auch ein Interesse an Europa und Migrationszusammenhängen.

Wie wird es weitergehen?

DILGER:  Wir wollen in den nächsten Jahren verstärkt Dynamiken von Diversität und Differenz in den Blick nehmen. Uns wird die Vielfalt innerhalb des Islam mit seinen verschiedenen Traditionen beschäftigen, aber auch das Zusammenleben von Musliminnen und Muslimen mit Angehörigen anderer Religionen wie dem Christentum, Judentum oder Hinduismus. Wie hängt religiöse Diversität mit gesellschaftlichem Wandel zusammen? Solchen Fragen wollen wir uns theoretisch und mit Blick auf die Rolle von Texten, Praktiken und Objekten – historisch und gegenwartsbezogen – stellen.

KRÄMER: Insgesamt bricht für uns eine neue Ära an. Es ist bedauerlich, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft beschlossen hat, die Graduate School im Rahmen der Exzellenzstrategie – dem Nachfolgewettbewerb der Exzellenzinitiative – nicht mehr zu fördern. Dadurch endet 2019 unsere bisherige institutionelle Absicherung. Wir konnten jedoch Mittel in beachtlichem Umfang von der Einstein-Stiftung Berlin, der Gerda Henkel Stiftung und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst gewinnen, und das Präsidium der Freien Universität und der Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften haben uns zudem zugesagt, unsere Geschäftsstelle für mindestens fünf weitere Jahre zu finanzieren. Für den Jahrgang 2018/19 konnten wir dank der eingeworbenen Mittel neun Promotionsstipendien vergeben und freuen uns nun auf die weitere Arbeit!

Die Fragen stellten Dennis Yücel und Nina Diezemann.