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Alter ist keine Krankheit

Oder wie Rubinstein es gemacht hat

Hormone gegen Haarausfall, Enzymcremes für straffe Haut und Fitness bis ins hohe Alter: die Anti-Aging-Medizin boomt. Ärzte versprechen kaufkräftigen Kunden eine zweite Jugend, an Nachfrage mangelt es nicht.

Das Motto der Life-Extension-Branche: „Add more years to your life!“ Doch mögliche positive Wirkungen der Hormonbehandlungen sind nicht ausreichend belegt, gesundheitliche Risiken nicht einzuschätzen.

„Eigentlich sollte es heißen: ‚Add more life to your years’“, sagt Prof. Friedel Reischies, Neuropsychologe an der Klinik für Psychiatrie der Charité-Universitätsmedizin Berlin und Mitglied im Leitungsgremium der Berliner Altersstudie (BASE), einer umfassenden Datenerhebung zu Lebensqualität und Gesundheit von knapp über 500 Berlinern im Alter von 70 bis 100 Jahren. Federführend ist das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) unter der Leitung seines Direktors, Prof. Paul Baltes, der die Altersstudie 1989 initiierte und bis heute leitet.

Es gibt ein viertes Alter

Eines der wichtigsten Ergebnisse der Studie: Es gibt ein viertes Alter, das mit etwa 85 Jahren beginnt und in dem Lebensqualität und Gesundheit drastisch abnehmen.
Bis zu 50 Prozent der über 85-jährigen leiden an Demenz, etwa 1 Million Deutsche sind es insgesamt. Nach Schätzungen von Experten werden es bis 2020 doppelt so viele sein. Deshalb fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Kompetenznetz Demenzen, einen Zusammenschluss von 14 universitären Forschungseinrichtungen, die mit Kliniken und niedergelassenen Ärzten zusammenarbeiten.

Frühzeitige Diagnose ist entscheidend

„Entscheidend ist die frühzeitige Diagnose der Krankheit“, sagt Reischies, der im Kompetenznetz ein Projekt zur Frühdiagnose leitet. Denn mit einer rechtzeitigen Therapie lässt sich der Verfall der kognitiven Leistungen wie zum Beispiel Gedächtnisschwund hinauszögern. Mit Tests wie dem Abzeichnen geometrischer Figuren, detaillierten Untersuchungen des Gehirns mit Hilfe der Kernspintomografie und der Suche nach verdächtigen Proteinen in Blut und  Rückenmarksflüssigkeit, die auf eine Demenz hinweisen, wollen die Forscher neue Kriterien für die Diagnose entwickeln.

In einem zweiten Großprojekt des Kompetenznetzes werden medikamentöse Therapiestudien durchgeführt. Isabella Heuser, Leiterin der Klinik für Psychiatrie der Charité, ist für deren zentrale Leitung verantwortlich: „Wir hoffen, durch die frühzeitige Gabe von Medikamenten die Demenzerkrankung hinauszögern zu können.“

Erfolgreiches Alter

„Im vierten Alter offenbart sich die biologische Unfertigkeit des Menschen“, sagt Entwicklungspsychologe Baltes. „Derzeit spricht wenig dafür, dass ein solch hohes Alter in Zukunft zu einem ‚Goldenen Alter’ werden könnte.“ Dennoch hält er das Altern nicht für ein rein biologisches Schicksal. Die Gesellschaft und die Alten können es mitgestalten. Am MPIB wurde durch Baltes das Schlagwort vom „erfolgreichen Altern“ näher untersucht, und er entwickelte mit seinen Kollegen die Theorie der selektiven Optimierung und Kompensation.

Baltes’ Lieblingsbeispiel ist der Pianist Arthur Rubinstein, der noch im Alter von 80 Jahren Höchstleitungen vollbrachte. Dazu schränkte er sein Repertoire erheblich ein – ein Beispiel für Selektion. Er übte seine Stücke häufiger – ein Beispiel für Optimierung. Vor schnellen Passagen verringerte Rubinstein sein Spieltempo; im Kontrast erschienen diese Passagen dann wieder ausreichend schnell: ein Beispiel für Kompensation.

Prof. Friedel Reischies
"Add more life to your years", rät Altersforscher Prof. Friedel Reischies

Man muss aber kein musikalisches Genie sein, um erfolgreich zu altern. „Vorausschauendes Denken, emotionale Besonnenheit und Lebensklugheit“, nennt Baltes die spezifischen Qualitäten der Alten. Auch deswegen fordert er eine stärkere Präsenz der älteren Generation in der Politik. Das Potenzial der „jungen Alten“ wird seiner Meinung nach nicht genügend genutzt.

Auch Demenz ist in vielen Fällen kein unvermeidlicher Schicksalsschlag, erklärt Friedel Reischies.

Man kann sie zwar noch nicht heilen, allenfalls den Verlauf der Krankheit günstig beeinflussen. Und das heißt auch Vorbeugung. Rauchen, schlechte Ernährung, ein dauerhaft außer Kontrolle geratener Blutdruck und schlecht eingestellter Diabetes Mellitus können eine Demenzerkrankung begünstigen. Und was für Muskeln und Knochen gut ist, gilt auch für das Denkorgan: Sport fürs Gehirn. Reischies: „Ideal wäre eine Universität für Senioren, damit die mentalen Aktivitäten im Alter nicht auf der Strecke bleiben.“

Von Dietrich von Richthofen