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Der Invalidenfriedhof in Berlin

Ein fast vergessener Ort

Bis 1945 wusste jeder Berliner, wo der Invalidenfriedhof liegt. Zwangsläufig. Schulklassen gingen dort hin, Berliner promenierten durch die Geschichte, angezogen von preußischer Tradition und militärischen Staatsbegräbnissen. Das war 1945 vorbei.

Friedrich II. hatte nicht weit von der Charité 1747/48 für alte und verwundete Soldaten das Invalidenhaus und zugleich den Friedhof am nördlichen Stadtrand des damaligen Berlin gegründet, um den unversorgten Veteranen der Armee das übliche Los des Bettelns zu ersparen. Die Gegend wurde „Sahara“ genannt, dort wuchs nichts als Sand. Stattdessen wuchs der Friedhof.

Seit einer Kabinettsordre Friedrich Wilhelms III. von 1824 sollten dort die „Nobilitäten der Armee“ beigesetzt werden. Der Invalidenfriedhof war aber nie nur deutscher ‚Heldenfriedhof’, er war lange Zeit auch Zivilfriedhof. Von den über 30000 Bestattungen zwischen 1750 und 1950 waren jedoch 18 000 Soldaten, darunter elf Generalfeldmarschälle und Generaloberste, sieben preußische Kriegsminister, neun Admirale und rund 250 Generäle. Das machte den Friedhof zu einer Stätte „preußisch-deutschen Ruhms“, zum „Ehrenhain“ und schließlich zum Nazifriedhof. Eine Mischung aus Arlington, preußischer Kremlmauer und Walhall – und doch sehr berlinisch dank der alten Bäume, ein Friedhof als romantischer Park. Mitten zwischen Mietshäusern und Industrieanlagen des 19. Jahrhunderts.

Lebten die Biographien der dort Liegenden auf, man stünde auf einem Schlachtfeld der preußisch-deutschen Geschichte, vor einem Geisterkrieg der Uniformträger, in einem Gemenge von Gehorsam, Soldatenehre und Verbrechen.

1945 wurde das Nazireich ausgelöscht. Die Alliierten verlangten eine Entnazifizierung der Grabstellen. Die nationalistischen und Nazigrabsteine verschwanden. Nach dem Krieg gab es auf dem Invalidenfriedhof noch 3000 Gräber inmitten einer wüsten Ruinengegend. Die umliegende Stadt war hier selbst zum Friedhof geworden. Und nur langsam änderte sich dieses Stadtbild. Durch die politische Teilung der Stadt 1948 lag der Friedhof genau an der Grenze zu Westberlin, die der Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal bildete. 1951 wurde der Friedhof geschlossen. Als 1961 die Mauer gebaut wird, wird der Friedhof zum Sperrgebiet, quer über die Gräber zieht sich die Mauer und der so genannte Todesstreifen mit Drahtzaun, Hundelaufstrecke, Patrouillenweg und Hintermauer.

Die Hinterhöfe der Geschichte fördern oft mehr Wahrheit zutage als der Schauseite lieb ist. Der Invalidenfriedhof ist solch ein Hinterhof. Während auf der Straße Unter den Linden vor der Neuen Wache nach ihrer Umwidmung durch die DDR-Führung zum ‚Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus’ (1960) das Stasiregiment der Nationalen Volksarmee ab 1969 im preußischen Stechschritt paradiert und auf makabre Weise am unpassendsten Ort Preußens Erbe aufzunehmen scheint, zeigt der Umgang mit dem Invalidenfriedhof eine andere Seite im Umgang mit Preußen. Von den 3000 Grabstellen auf dem Gelände finden sich beim Fall der Mauer keine 300 mehr. Die Gräber stören die Sicht- und Schusslinie, die Denkmäler wurden tonnenweise abgetragen oder vandalisiert.

Das künstlerische Zentrum der erhaltenen Teile des Friedhofs bildet Schinkels Grab für General von Scharnhorst. Das Grabdenkmal von 1824 zeigt ein sparsames Pathos. Ein klassizistischer Hochsarkophag aus Carrara-Marmor ruht auf zwei glattflächigen Rechteckpfeilern, obenauf ein ruhender Löwe von Christian Daniel Rauch, ein Bronzeguss aus der königlichen Eisengießerei von 1828. Scharnhorst war der Reorganisator des preußischen Heeres nach 1806 und General der Befreiungskriege, der mit dem ebenfalls hier liegenden Boyen das preußische Söldnerheer in ein Volksheer verwandelte, das Adelsprivileg im Offizierskorps abschaffte und die Landwehr organisierte. Scharnhorst wurde in der Schlacht bei Großgörschen 1813 verwundet und starb bei Prag. In ihm verbinden sich soldatisches und freiheitliches Denken. Bis in die jüngste Vergangenheit wurde er zum vielberufenen und missbrauchten Vorbild preußischer Soldatentradition.


Das künstlerische Zentrum des Friedhofs: Schinkels Grab für General von Scharnhorst. Foto: von Richthofen

Fünf Schritte von Scharnhorsts Grab entfernt liegt Schlieffen, der Chef des preußischen Generalstabs vor dem Ersten Weltkrieg, der Meisterstratege, der 1905 den deutschen Angriffsplan auf Frankreich entwickelte und die halbe und falsche Durchführung seines Plans im Weltkrieg 1914 nicht mehr erlebte. Der Kriegsplan machte Deutschland zum Aggressor. Ein Völkerrechtsbruch, der Überfall auf das neutrale Belgien, bedeutete den Militärs wenig gegenüber dem Vorteil eines Überraschungsangriff auf Frankreich mit überwältigender Truppenüberlegenheit von Norden her. Der Zweck heiligt die Mittel. Militärisch ‚genial’, politisch letal, – die Wurzel von Preußens Untergang im Zeichen des Militarismus.

Neben Schlieffen liegt Freiherr Werner von Fritsch. Eine Grabplatte mit Namen und Jahreszahlen, 1880 – 1939. Ohne Rang und Amt. Man geht daran vorüber und erinnert sich nicht.

Fritsch wurde noch vom Reichspräsidenten Hindenburg gegen Hitlers Wunsch zum Chef der Heeresleitung ernannt und später zum Oberbefehlshaber des Heeres. 1937 spricht Hitler vor seinen Oberbefehlshabern zum ersten Mal Klartext: Er will den Krieg. Fritsch will den Aufstieg Deutschlands, aber nicht den Krieg: Er widerspricht Hitler mit militärischen und strategischen Argumenten. – Wie kann Hitler Krieg führen mit einem Oberbefehlshaber, der den Krieg nicht will?

Die Gestapo kennt sich da aus. Der Oberbefehlshaber wird zu Hitler bestellt. Hitler konfrontiert in der Reichskanzlei Fritsch mit einer Akte, die den Oberbefehlshaber des Heeres als Homosexuellen bezichtigt, der es mit Strichjungen treibt. Fritsch widerspricht empört. „Da lässt Hitler aus einem anderen Raum einen Mann eintreten und fragt ihn, ob er in Fritsch denjenigen wieder erkenne, von dem in seinen Aussagen die Rede sei. Ohne zu zögern bestätigt dieser die Frage Hitlers. Fritsch gibt sein Ehrenwort, dass alles, was dieser Mann vorgetragen habe, vollständig erlogen sei. Hitler nimmt das Ehrenwort nicht an und gibt damit zu erkennen, dass er einem Lumpen mehr glaubt als dem Oberbefehlshaber des Heeres“. Hitler weiß zu diesem Zeitpunkt sehr wohl, dass sein Kronzeuge ein vielfach mit Zuchthaus vorbestrafter Erpresser ist, der bei der Gestapo in Haft sitzt. Fritsch wird entlassen. Aber er tritt nicht einfach zurück, er verlangt den Prozess vor dem Kriegsgericht. Hitlers Kronzeuge wird als Lügner entlarvt, Fritsch wegen erwiesener Unschuld freigesprochen. Aber Hitler denkt nicht daran, Fritsch zu rehabilitieren und als Oberbefehlshaber wieder einzusetzen, – er übernimmt selbst die unmittelbare Befehlsgewalt über die Truppen.

Das Ende von Fritsch zeigt preußischen Irrwitz. Der ehemalige Oberbefehlshaber des Deutschen Heeres, im Generalsmantel mit roten Steifen, fast 60-jährig, als Stoßtruppteilnehmer im Fronteinsatz. Ein absurder Gedanke. Fritsch setzt ihn 1939 vor Warschau um. Die Kugel trifft ihn, er verblutet. Das Bubenstück der Nazis endet im Staatsbegräbnis. Die Ehre wird zur Farce. Der Grabstein Fritschs sagt von alledem nichts. Aber er wird zum Stein des Anstoßes für das Gedächtnis.

Die über den Friedhof verstreuten Gräber sind Puzzleteile eines Bildes von Preußen und seines Untergangs im Nazireich; denn hier liegt auch Reinhard Heydrich, der Leiter der Gestapo und Chef des Reichsicherheitshauptamts, eine der fürchterlichsten SS-Gestalten des Dritten Reichs Sein Grab wurde 1945 eingeebnet.

Türmte man die verlorenen Grabsteine übereinander zu einer Pyramide, man erblickte ein Mahnmal für die militärische Vergangenheit Deutschlands. Das heutige Erscheinungsbild des Friedhofs, eine Art Grashalmschau mit Grabsteininseln, ist eine Einladung zum Nachdenken. Aber keiner kommt. Das Militärische interessiert, so scheint es, niemanden mehr, jedenfalls nicht in Berlin.