Springe direkt zu Inhalt

Sisyphos´ Dementi

und andere Mythenkorrekturen

Mythen sind traditionelle Geschichten, die sich grundsätzlich dadurch auszeichnen, dass sie immer wieder erzählt werden können und bis auf den heutigen Tag immer wieder erzählt werden. Sie existieren nicht, wie heilige Texte, in einer geschützten, unveränderten Form, sondern immer nur als Variation.

Hans Ulrich Treichels Sisyphos-Gedicht bietet eine besonders radikale Form der Variation eines der bekanntesten Mythen der Antike. Im Grunde handelt es sich nicht mehr um eine Variation. Sisyphos´ Dementi ist vielmehr eine Korrektur der Mythos von Sisyphos, der als Buße für seinen Versuch, den Tod zu überlisten, von den Göttern dazu verdammt wird, einen gewaltigen Felsbrocken auf einen Berg zu rollen und diese sprichwörtlich gewordene Arbeit nie zu Ende bringen kann, weil der Stein ihm immer dann, wenn er ihn fast auf die Kuppe des Berges gewälzt hat, wieder entgleitet und in die Ebene zurückrollt. Treichels Sisyphos dementiert nacheinander alle drei Grundelemente der Geschichte, die den Mythos vom Steinwälzer definieren: Der Berg ist kein Berg; der riesige Stein war schon bald ganz klein und ist seit Jahren ganz verschwunden; und der schwitzende schuftende Sisyphos des Mythos sitzt gut rasiert und mit gebügeltem Hemd und dementiert alles, was man über ihn erzählt: „Alles andere ist falsch.“

Treichel überschreitet damit eine Grenze, die Aristoteles in der Poetik der kreativen Arbeit am Mythos gesetzt hat, wenn er feststellt, dass der Dichter die mythische Tradition zwar umgestalten dürfe, ja solle, um die höchste tragische Wirkung zu erzielen, sich aber davor hüten müsse, den Mythos „aufzulösen“. Klytaimnestra müsse immer von Orest umgebracht werden. Gemeint ist offenbar, dass die zentralen, gleichsam definitorischen Elemente bzw. Konstellationen eines Mythos nicht verändert werden können, ohne dass der Mythos seine Identität verliert. Eben diese Elemente, die den narrativen Kern des Mythos bilden, sind in Treichels Gedicht ebenso ‚korrigiert’ wie in Kafkas berühmter Erzählung vom Schweigen der Sirenen. Der Gesang der Sirenen ist – wie die sprichwörtliche Verwendung des Sirenengesangs zeigt – das zentrale Element des Sirenenmythos. „Und tatsächlich“, heißt es pointiert bei Kafka, „sangen, als Odysseus kam, die Sirenen nicht.“


Der Autor, Bernd Seidensticker, ist Professor am Institut für Klassische Philologie. Foto: von Richthofen

Christa Wolfs Kassandra, die den zentralen Helden der Ilias zum Vieh degradiert, zeigt, dass es eine zweite Form der Mythenkorrektur gibt, die den narrativen Kern unberührt lässt, dafür aber zentrale Figuren einer mythischen Geschichte anders darstellt und bewertet oder die traditionelle Bedeutung eines Mythos ins Gegenteil verkehrt: Nicht mehr Achill, der stärkste und schönste aller Helden, bis ins 18. Jahrhundert Vorbild aristokratischer Erziehung, sondern „Achill das Vieh!“. Solche semantischen Korrekturen ändern gleichsam das Vorzeichen eines Mythos. Das markanteste Beispiel für eine Korrektur, die den Mythenkern nicht stofflich, sondern semantisch berichtigt, bietet Camus’ Interpretation des Sisyphos, der im Verlaufe seiner reichen Rezeptionsgeschichte von der Antike bis ins 20. Jahrhundert immer als bestrafter Büßer oder als Sinnbild menschlichen Leidens erscheint. Auch Camus ändert nichts an der Geschichte, doch formuliert er die pointierte Gegenthese: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ Der Mythos bleibt völlig unverändert; aber seine Deutung wird ins Gegenteil verkehrt.

Narrative und semantische Mythenkorrekturen sind keineswegs ein modernes Phänomen. Sie finden sich bereits in der archaischen griechischen Literatur und sind seither ein zwar kleiner, aber besonders interessanter Teil der reichen abendländischen Rezeptionsgeschichte des griechischen Mythos.