Springe direkt zu Inhalt

Tierisches Theater

Kriege, Seuchen und Mauerbau prägten die Geschichte der Berliner Veterinärmedizin – aber auch einige Kuriositäten

25.06.2013

Die ehemalige Königliche Tierarzneischule mit Anatomischem Theater wurde von 1789 bis 1790 von Carl Gotthard Langhans im Auftrag von König Friedrich Wilhelm II. entworfen und gebaut.

Die ehemalige Königliche Tierarzneischule mit Anatomischem Theater wurde von 1789 bis 1790 von Carl Gotthard Langhans im Auftrag von König Friedrich Wilhelm II. entworfen und gebaut.
Bildquelle: HU Berlin/Matthias Heyde

Die Geschichte der Veterinärmedizin Berlins ist vor allem eine sehr wechselvolle: Angefangen hatte sie mit einer pferdeheilkundlichen Lehranstalt König Friedrichs I.; sie wurde fortgeführt mit der Errichtung der „Tierärztlichen Hochschule“, später in zwei Stadtteile aufgeteilt durch Krieg und Mauerbau. Heute wird in drei Stadtteil unterrichtet und geforscht: In Dahlem, Düppel und Mitte.

 

Kanonendonner scheute er nicht, der König höchstpersönlich gab ihm Zucker, auch Melonen und Feigen aus der Orangerie. Einmal durfte der Fliegenschimmel-Wallach sogar in den Saal von Sanssouci – wo er allerdings den Fußboden zerstörte und fortan Hausverbot hatte. Condé war das Lieblingspferd Friedrichs des Großen, benannt nach Louis II. de Bourbon, Prince de Condé, einer der bedeutendsten Feldherren des 17. Jahrhunderts. Der König starb 1786, sein Lieblingspferd bekam ein testamentarisch verfügtes Gnadenbrot und lebte noch 18 Jahre. Er erreichte damit fast ein biblisches Alter, denn anders als andere Pferde seiner Zeit hatte es nicht die Äcker pflügen oder Soldaten durch Kanonendonner und Kugelhagel in die Schlacht führen müssen.

Wenn der Alte Fritz das wüsste

Heute steht Condé recht unscheinbar im Flur vor dem Anatomie-Hörsaal des Veterinärmedizinischen Instituts in der Koserstraße in Berlin-Dahlem. Genauer gesagt: seine Knochen. Trotzdem hat er auch heute Zucker in der Nähe. An der Wand gegenüber steht der Süßigkeitenautomat. Mittags gehen die Studenten, Doktoren und Professoren, die im Haus arbeiten oder in der Geschichtswissenschaftlichen Bibliothek, auf dem Weg in die Caféteria des Studentenwerks achtlos an seinem Skelett vorbei. Dabei sind die Überreste Condés Zeugnis einer Institution, deren Anfänge bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen.

Seinen Lebensabend verbrachte das Tier des Herrschers in den Stallungen der „Königlichen Tierarzneischule in Berlin“, die 1790 unter dem Nachfolger Friedrichs des Großen, Friedrich Wilhelm II., gegründet worden war. Nach seinem Tod im hohen Pferdealter von 38 Jahren war Condé ein Zeitzeugnis der Geschichte der Veterinärmedizin in Berlin: Seine Haut wurde gegerbt, ausgestopft und im Kuppelbau der neuen Tierarzneischule samt Zaumzeug und Geschirr ausgestellt. Wenige Jahre später präparierte der Anatom Johann Dietrich Reckleben auch das Skelett.

Statussymbol mit einer Pferdestärke

Schon im 13. Jahrhundert schrieb der aus Deutschland stammende Albrant von Neapel am Hofe Friedrich Barbarossas in einem „Roßarzneibuch“ nieder, wie ein krankes Pferd zu heilen sei. Das Büchlein zählt Koliken und Wurmbefall auf, Geburtskomplikationen und Hufleiden: Der höfische Schmied verzichtet auf die in seiner Zeit übliche Magie und Zauberei und gibt stattdessen praktische Behandlungsanweisungen für 36 Krankheiten.

Das früheste Dokument einer tierheilkundlichen Tätigkeit in Berlin findet sich in den Rechnungsbüchern der Stadt Cölln an der Spree von 1572: Für vier Groschen versuchte damals ein gewisser Andres Rusten, ein Pferd zu heilen – offenbar erfolglos, denn der Eintrag besagt, dass das Pferd am Donnerstag hernach verstarb.

Betrachtet man die ebenso sinnlosen wie tierquälerischen Operationen, die damals als höchste Heilkunst galten, ist dies kaum verwunderlich: Der Aderlass galt als Prophylaxe gegen jedwede Krankheit, Hufleiden wurden behandelt, indem man den Pferden die komplette Hufsohle abriss; bei Druse, einem durch Streptokokken verursachten Katarrh mit Husten und hohem Fieber, schnitten die Rossärzte die Ohrspeicheldrüse auf und streuten Salz, Pfeffer und Heilkräuter in die offene Wunde.

Oft waren es Schmiede, Schäfer und Hirten, aber auch Abdecker, Soldaten und Scharfrichter, die sich neben dem Wissen um den Umgang mit ihren gesunden Tieren auch Kenntnisse über gängige Heilmethoden erwarben: Sie sammelten Erfahrungen mit Krankheitsbildern und deren Behandlung und gaben sie von Generation zu Generation an ihresgleichen weiter.

Wegen zu viel Trinkerei geschlossen

Im 17. Jahrhundert gründeten die brandenburgischen Kurfürsten eine pferdeheilkundliche Lehranstalt, die König Friedrich I. allerdings 1711 bereits wieder schloss. Das Fehlverhalten der Eleven, wahrscheinlich alkoholische Exzesse, gefährdeten den Ruf seines Marstalls.

„Diese ersten Versuche, Wissen um die Tierheilkunde weiterzugeben und zu verschulen, sind weit entfernt von einer akademischen Ausbildung“, sagt Privatdozent Martin Brumme, der die Geschichte der Veterinärmedizin in Berlin lehrt. „Es waren einfache, ungebildete Handwerker und Knechte, die die Tiere behandelten. Sie wendeten mündlich überliefertes Wissen an und waren praxisorientiert. Ihr Beruf galt nicht als sonderlich erstrebenswert.“

Eine weitere Wurzel der Tiermedizin liegt in der Seuchenbekämpfung. Im 16. Jahrhundert erließ Kurfürst Johann Georg einen Erlass gegen die „Schmerschaffe“, eine von Milben hervorgerufene Räude bei Schafen; sein Enkel Johann Sigismund kämpfte gegen eine Rinderseuche. „Zwar lag die Leitung der Seuchenbekämpfung bei den Humanmedizinern“, sagt Brumme, „aber die praktische Arbeit verrichteten Abdecker, die unter der Anweisung der Ärzte das befallene Vieh obduzierten.“ Anders als beim Pferd, das als Standessymbol des Adels galt und in der Literatur früh und vielfältig behandelt wurde, tauchen Texte über Nutztiere selten auf. Dabei hatten Schafe, Ziegen und insbesondere Rinder im vorindustriellen Europa eine enorme wirtschaftliche Bedeutung: Sie waren Milchproduzenten, ihr Dung erhöhte den Ertrag der Äcker, und Rinder waren die wichtigsten Last- und Arbeitstiere der Bauern. Und natürlich waren Fleisch und Fett der Tiere ein wichtiger Eiweiß- und Energielieferant für die latent unterernährte Landbevölkerung.

Vorreiter der heutigen Veterinärmedizin: Johann Sigismund (1572 – 1619), Kurfürst von Brandenburg, kämpfte gegen eine Rinderseuche.

Vorreiter der heutigen Veterinärmedizin: Johann Sigismund (1572 – 1619), Kurfürst von Brandenburg, kämpfte gegen eine Rinderseuche.
Bildquelle: Wikipedia/Künstler anonym (Public domain) commons.wikimedia.org/wiki/File%3AJohann_Sigismund_Grunewald.jpg

Mit Wissenschaft gegen Rinderpest

So fällt der Beginn der modernen Tiermedizin auch mit einer Katastrophe zusammen. 1712 beschrieb der Arzt Bernardino Ramazzini aus Padua eine Rinderkrankheit, die seit der Völkerwanderung immer wieder in Europa ausgebrochen war: Die Rinderpest wütete in Südeuropa, im Kirchenstaat bekämpfte der päpstliche Leibarzt Giovanni Maria Lancisi die Krankheit, indem er erkrankte Rinder keulen und die Kadaver mit ungelöschtem Kalk vergraben ließ. Befallene Bestände wurden unter Quarantäne gestellt, eine systematische Fleischbeschau eingeführt. In England wurde man der Seuche 1714 ebenfalls Herr, indem man erkrankte Tiere tötete, ebenso in Frankreich und Preußen.

In anderen deutschen Staaten, in Österreich, Spanien, Polen und Schweden verbreitete sich die Tierseuche in Windeseile und bedrohte den Kontinent. In einigen Regionen raffte sie mehr als drei Viertel des Bestands hinweg, insgesamt etwa 200 Millionen Rinder. Zum Vergleich: Heute leben in der gesamten Europäischen Union gerade einmal rund 90 Millionen Rinder. Die Erfahrung mit der Seuche und die Prinzipien der Aufklärung ebneten der Wissenschaft die Bahn, und man beschloss, zunächst 1762 in Lyon, später in Wien, Turin, Padua und Kopenhagen Tierarzneischulen zu eröffnen; so sollte die Heilkunst bei Pferden, Rindern und Ziegen auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt werden. In Berlin wollte der Königliche Leibarzt Andreas Cothenius um 1770 Friedrich den Großen überzeugen, ebenfalls eine „Vieharzneischule“ zu errichten, um Amtsärzte für die Bekämpfung von Viehseuchen ausbilden zu lassen. Doch der „Alte Fritz“, ansonsten Tierfreund durch und durch, hatte kein Geld für derartige Neuerungen, und so blieb es seinem Neffen Friedrich Wilhelm II. vorbehalten, 1790 die Berliner Tierarzneischule einzuweihen.

Im Mittelpunkt des königlichen Interesses stand indes nicht die Gesundheit von Rindern und Schafen, sondern die Einsatzbereitschaft seiner Kavallerie. Tatsächlich spielte in der Mitte des 18. Jahrhunderts das Pferd eine immer größere Rolle im Güter- und Personenverkehr, der sich vom Wasser aufs Land verlagerte: Die neuen Postgesellschaften unterhielten ein zunehmend dichteres Netz von Landwegen, das auch Kutschfahrer und Reiter nutzten.

Zur Weiterbildung nach Paris

Um den Wissensvorsprung anderer Schulen aufzuholen, schickte der neu ernannte Oberstallmeister und Leiter der „école vétérinaire“, Graf von Lindenau, den Mediziner Johann Georg Naumann gemeinsam mit dem Schmied Johan Wilhelm Krum zur Ausbildung an die führende Tierarzneischule Alfort bei Paris. Als beide zurückkehrten, hatte der Architekt Carl Gotthard Langhans eine Zootomie, einen Präpariersaal, Krankenställe, eine Apotheke, eine Schmiede, einen botanischen Garten und ein Laboratorium errichtet – genauso wie Naumann, der zum Professor berufen wurde, dies aus Paris berichtet hatte. Der Chirurg Georg Friedrich Sick vervollständigte das Trio und war von 1790 an für Anatomie, Chirurgie und Seuchenlehre zuständig. Er hatte sein Handwerk in Wien gelernt und legte eine erste anatomische Sammlung an, in die auch das Skelett Condés aufgenommen wurde.

„Bis ins 18. Jahrhundert gab es allenfalls Tierheilkundige“, sagt Veterinärmedizinhistoriker Brumme. „Erst mit Sick und Naumann begann man in Berlin, tierärztliche Fragestellungen zu entwickeln und zu erforschen.“ Dass dabei ein Chirurg als Handwerker, ein Mediziner als Intellektueller und ein Schmied als Mann mit praktischer Erfahrung eingebunden wurde, hatte sich in anderen Städten schon bewährt.

1952 gründete die Freie Universität ihre eigene tiermedizinische Fakultät, die Urkunde überreichte ein US-amerikanischer General dem damaligen Leiter der Fakultät, Professor Erwin Becker.

1952 gründete die Freie Universität ihre eigene tiermedizinische Fakultät, die Urkunde überreichte ein US-amerikanischer General dem damaligen Leiter der Fakultät, Professor Erwin Becker.
Bildquelle: Veterinärmedizin/Freie Universität Berlin

Das gesamte 18. Jahrhundert hindurch war die Pferdeheilkunde Dreh- und Angelpunkt der Berliner Tierarzneischule. Die Ausbildung erhielt Struktur. 1819 kam Ernst Friedrich Gurlt an die Schule und entwickelte die Grundlagen der vergleichenden Anatomie der Haustiere. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts prägten Pathologen und Histologen den Ruf der Berliner Tierarzneischule, mit Christian Gerlach und Robert von Ostertag erlangte die Einrichtung auf dem Gebiet der Lebensmittelhygiene eine weltweit führende Rolle. Johann Wilhelm Schütz gelang es, den Erreger der Druse zu isolieren. Die letzten Jahre des Wilhelmismus prägte Reinhold Schmaltz, ein Traditionalist, der das Pferd – „edelstes aller Tiere“ – als Leitunterrichtsobjekt verteidigte, während andere Universitäten längst den leichter zugänglichen Hund vorzogen.

Ein Hort des Konservatismus und völkischer Studenten

Die Studenten dieser Zeit waren meist soziale Aufsteiger aus dem ländlichen Raum, zudem Offiziere aus dem Bürgertum. „Der Beruf des Tierarztes bot den Metzgersöhnen und Großbauernsprösslingen die Chance eines akademischen Abschlusses. Entsprechend ihrer Herkunft waren die Tiermediziner ein Hort des Konservativismus“, sagt der Historiker.

So ist es kaum verwunderlich, dass in der Weimarer Republik national-konservative und völkische Studenten das Institut prägten. Schon 1931 zog der Nationalsozialistische Studentenbund die Strippen, als es unter den Studenten zu Unruhen kam, weil der sozialdemokratische Direktor des Pathologischen Instituts Nöller als wissenschaftlichen Mitarbeiter Kurt Obitz eingestellt hatte. Obitz war aktives Mitglied des seperatistischen Masurenbunds und hatte ein polenfreundliches Gedicht veröffentlicht.

Als Hitler an die Macht gekommen war, wurde Nöller beurlaubt. Die kommenden zwölf Jahre der Berliner Tiermedizin prägte Wilhelm Krüger, SA-Mitglied und von 1935 an Rektor der Universität. Den direkten Kontakt zur Reichsführung vermittelte ihm sein Kollege Friedrich Weber, der 1923 am Hitler-Ludendorff-Putsch beteiligt war und mit dem „Führer“ fast ein Jahr in Festungshaft gesessen hatte. Schon 1934 wurde Weber zum „Reichsführer der Deutschen Tierärzte“ ernannt und arbeitete als leitender Beamter im Reichsinnenministerium für die Interessen seiner Kollegen: Bereits am 1. April 1933 trat ein neues Tierschutzgesetz in Kraft, das die Hausschlachtung ohne tierärztliche Fleischbeschauung ebenso verbot wie das Schächten. Wissenschaftlich untersuchten die Berliner Veterinäre während des Zweiten Weltkrieges vor allem Fragen zur Konservierung von Fleisch und Wurst.

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele Gebäude der Veterinärmedizin zerstört – die „Alte Zootomie“ war eines der ersten, in dem wieder gelehrt wurde. Doch die Teilung Berlins spiegelte sich auch in der Entwicklung der Tiermedizin wider: 1948 wurde im Westen der Stadt die Freie Universität gegründet, 1950 schlossen sich 200 an der Humboldt-Universität immatrikulierte Studenten der neu gegründeten „Notgemeinschaft der Veterinärmedizin“ an, zwei Jahre später gründete die Freie Universität eine tiermedizinische Fakultät.

Damals lebten noch mehrere Tausend Pferde und Rinder in der Stadt. Die Kliniken der neuen Fakultät wurden in der Domäne Dahlem untergebracht und im ehemals königlichen Gutshof Düppel, auf dem nach dem Krieg die US-Armee ihre Reiterstaffel stationiert hatte.

Wer in West-Berlin Tiermedizin studierte, hatte Vorlesungen in Schleswig-Holstein

Bezeichnend für die Zeit Berlins als Frontstadt des Kalten Krieges ist die Gründung der Tierärztlichen Ambulanz Schwarzenbek: Weil es in West-Berlin seit den frühen 1970er Jahren an Tierbeständen für die praktische Ausbildung fehlte, unterhielt die Freie Universität seit 1979 eine Außenstelle rund 260 Kilometer von Dahlem entfernt: Eine alte Großtierpraxis wurde aufgekauft, und die Studenten aus Kreuzberg, Steglitz und Charlottenburg lernten in Schleswig-Holstein, wie Kühe besamt, Kälber entbunden und Schweine geimpft wurden.

Nach der Wende entschied die Berliner Landesregierung, anders als bei der Humanmedizin, die Veterinärmedizin voll einer der beiden Universitäten anzugliedern und die beiden Fakultäten binnen fünf Jahren zu fusionieren. Seitdem wird an den drei Standorten in Mitte, Dahlem und Düppel geforscht und gelehrt. Nur Condé ist bislang noch nicht an seinen alten Platz in der Zootomie zurückgekehrt: Das Gebäude wird seit seiner Renovierung 2012 vom Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik als Vortrags- und Veranstaltungsstätte genutzt. Und so wird Condé wohl noch etwas länger in der Koserstraße stehen, direkt gegenüber dem Automaten mit den Süßigkeiten.

Der Experte für die Geschichte der Veterinärmedizin

PD Martin F. Brumme

PD Martin F. Brumme
Bildquelle: privat

PD Martin F. Brumme

Wer spannende Details aus der Geschichte der Veterinärmedizin erfahren will, ist bei Dr. Martin F. Brumme genau richtig: Der Privatdozent lehrt Geschichte der Veterinärmedizin in Berlin und forschte etwa zur Tiermedizin im Nationalsozialismus. Unter anderem publizierte er zur historischen Entwicklung des Berufsstandes oder zur Geschichte der Tierschutzbewegung. In der Deutschen Veterinärmedizinischen Gesellschaft ist er stellvertretender Leiter der Fachgruppe „Geschichte der Veterinärmedizin“.

E-Mail: mbrumme@its.jnj.com