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Schmusekater und böse Bestien – auf Leinwand und Papier

Was Tiere in der Literatur und im Kino so populär macht

01.07.2013

Als gestiefelter Kater und schlauer Fuchs in Märchen und Fabeln begleiten sie uns seit Kindertagen. Wurden Tierfiguren in Märchen und Fabeln einst noch genutzt, um versteckt Gesellschaftskritik zu üben oder Moral zu vermitteln, so haben sie in der heutigen Literatur einen ganz anderen Stellenwert. In Krimis lösen Schafe Mordfälle, in Thrillern ergreifen Tiere die Weltherrschaft. An Texten lässt sich ablesen, wie stark sich die Mensch-Tier-Beziehung in den vergangenen Jahrhunderten gewandelt hat: Wissenschaftler der Freien Universität untersuchen etwa, was wir aus Tarzan lernen können oder warum fantastische Mischwesen Autoren nicht loslassen.

 

Der Unterdrückung ein Ende setzen und sich der menschlichen Herrschaft widersetzen: Dieser gewagte Traum eines alten Keilers lässt in dem Roman Animal Farm auf einem britischen Bauernhof eine Revolution ausbrechen. Dass am Ende seine Artgenossen in Frack und auf zwei Beinen die anderen Tiere knechten – das konnte ja kein Schwein ahnen.

Ob der Autor George Orwell ahnte, wie sein Roman von 1945 später interpretiert werden würde, ist nicht überliefert. Die Symbolkraft seines Textes war jedenfalls stark genug, dass sein Buch bis heute als Parabel auf die sowjetische Geschichte und die Oktoberrevolution gilt. „Der alte, weise Eber repräsentiert sowohl Karl Marx als auch Lenin“, wird der Roman in der Wikipedia enträtselt. Dass es sich mit Tierfiguren in der Literatur nicht immer ganz so einfach verhält, ahnt man, wenn man Hans Richard Brittnacher, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin, zuhört. Denn in der Weltliteratur wimmelt es geradezu von tierischen Protagonisten.

Mythen, Märchen, Sagen, Drachen und Fabelwesen

Aus Mythen, Märchen und Sagen sind dem Leser Wolf und Geißlein ebenso vertraut wie Fabelwesen, Drachen etwa oder das Einhorn. Literatur-Klassiker wie Rudyard Kiplings Dschungelbuch, Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer oder Rainer Maria Rilkes Gedicht Der Panther wären ohne Tiere nicht vorstellbar. Warum so viele Schriftsteller Tierliebhaber sind, liegt auf der Hand: „Tiere geben Autoren die Möglichkeit, Dinge zu veranschaulichen“, sagt Hans Richard Brittnacher. Sie bieten einen ganzen Zoo an Möglichkeiten: „Tiere sind Spiegelflächen, die dem Leser Raum lassen für eigene Projektionen.“ Einerseits bleiben Tiere auch im literarischen Text Tiere, erläutert der Wissenschaftler. „In anderen Fällen gesteht man ihnen bestimmte menschliche Qualitäten – dummer Esel, schlauer Fuchs – und Emotionen zu.“

Was Autoren mit Tierfiguren bezwecken, wandelt sich im Laufe der Geschichte – auch in Abhängigkeit davon, wie es gerade um das Verhältnis zwischen den Spezies bestellt ist. Vor der Aufklärung etwa macht die Zoologie kaum einen Unterschied zwischen übernatürlichen und natürlichen Tieren. Dass Einhörner nicht existieren, wird erst zu einer akzeptablen These, als die Wissenschaften und das rationale Denken erstarken. Eine Grenze ist jedoch klar gezogen: Der Mensch definiert sich darüber, kein Tier zu sein und sieht sich selbstver-ständlich als überlegen an, sagt Brittnacher. Ein wichtiger Hinweis zum Verständnis der Literatur dieser Zeit. Denn: Wenn Tiere in Texten plötzlich menschliche Züge tragen, hatte das fast immer eine gesellschaftskritische, satirische oder belehrende Komponente.

Charles Darwin sorgte mit seiner Evolutionstheorie für ein Ende der Mythifizierung von Tieren.

Charles Darwin sorgte mit seiner Evolutionstheorie für ein Ende der Mythifizierung von Tieren.
Bildquelle: University-College-London-Digital-Collections

In der phantastischen Literatur, einem Forschungsschwerpunkt von Hans Richard Brittnacher, hinterfragen Autoren die Naturgesetze und erörtern damit auch die Möglichkeiten der Wissenschaften. In E. T. A. Hoffmanns Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza von 1814 beispielsweise unterhalten sich zwei Hunde über Kunst und Literatur, „ununterscheidbar von menschlichen Akteuren – ihre Wirklichkeit entspricht völlig der unsrigen“, erzählt Brittnacher.

Fabelwesen, die der Leser zweifelsfrei als unwirklich einstufen kann, sind zu dieser Zeit passé. „Im besten Fall führt das zu einer gewissen Irritation beim Leser, weil er hinter den Sprechern andere Figuren erwartet.“ Erst Darwins Evolutionstheorie und die Erkenntnis, dass Schimpanse und Mensch zu weiten Teilen die gleichen Gene aufweisen, rückt die Verwandtschaft zwischen Tier und Mensch in den Vordergrund.

Mit dem Übergang zur Moderne verankert sich der Gedanke, dass Tiere aussterben können, also „etwas Schützens- und Bewahrenswertes“ in sich tragen, wie Brittnacher sagt. Die sogenannten Animal Studies markieren diesen Trend: In der Tradition der Tierbefreiungsbewegung widmen sich Wissenschaftler aller Fachrichtungen seit den 1970er Jahren interdisziplinär der Rolle von Tieren – für Brittnacher ein Zeichen, dass sich das hochmütige anthropologische Selbstverständnis des Menschen zu relativieren beginnt: Die Wissenschaften sollen daher nicht länger die Ausbeutung und Verwertung tierischen Lebens kritiklos legitimieren. Dass in erfolgreichen Krimis also nicht mehr nur Menschen, sondern auch Schafe oder Erdmännchen ermitteln, ist deshalb eine literaturwissenschaftlich logische Konsequenz.

Riesenhaft verzerrte Wildschweine rächen sich für die Misshandlungen

Auch in der Sparte „Ökohorror“ werden Tiere zu Hauptfiguren. Angesichts Atomtests, verseuchter Umwelt und ausgebeuteter Arten schlägt in diesen Texten die Natur zurück. Riesenhaft verzerrte Ameisen oder Wildschweine suchen die Menschheit heim und rächen sich für die Misshandlungen der vergangenen Jahrhunderte, sagt Brittnacher. „Das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren ist von Beginn an ein prekäres“, ergänzt er, „und die Menschen wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist.“ Anlass genug also, die Schicksalsgemeinschaft literarisch auf neue Art und Weise zu problematisieren.

Dass Tierfiguren unheimlich wirken können, ist für den Wissenschaftler ein weiteres Kriterium, das Autoren ausnutzen. Sobald die Tiere von den biologisch bedingten Verhaltensweisen ihrer Art abweichen, tritt ein Gefühl des Unheimlichen ein. „Ab einem bestimmten Punkt ist es irritierend, wenn Tiere sich nicht ‚verhalten‘, sondern handeln, als ob sie einen freien Willen hätten.“

Dazu kommt es in der Phantastik oder Science- Fiction meist dann, wenn Autoren Erkenntnisse aus den Biowissenschaften literarisch verarbeiten – etwa in Die Insel des Dr. Moreau von H. G. Wells. In dem Roman von 1896 unternimmt ein brutaler Wissenschaftler Kreuzungsversuche mit verschiedenen Tierarten. Auf einem abgeschiedenen Eiland will er aus ihnen menschenähnliche Wesen züchten. Die Tiere begehren jedoch auf. „Wenn Autoren Tieren humane Eigentümlichkeiten mitgeben, wird die selbstverständliche Überlegenheit des Menschen hinterfragt“, erläutert Brittnacher. Gerade das Kino – von King Kong bis zum Weißen Hai – macht sich diesen Effekt zunutze. Allerdings ohne Effekthascherei: Ein guter literarischer Text lasse es schließlich offen, ob die Beunruhigung berechtigt ist oder nicht.

Viele Bücher haben einen Kater

Tiercharaktere sind für den Literaturwissenschaftler ein Reservoir, aus dem Autoren bis heute schöpfen. Manche Tiere kommen deshalb auch öfter vor – etwa Kater. Er stellt im Gestiefelten Kater ebenso die Hauptfigur wie in E. T. A Hoffmanns Kater Murr (1819). Sogar in Walter Moers Fantasy-Romanen der 2000er Jahre gibt es Kater. Dabei macht sich jeder Autor die Figur auf eigene Weise zunutze. Das bewährte Fabelschema ermöglicht etwa Hoffmann, die Bildungsideen seiner Zeit zu kommentieren, während der Kater Behemoth in Michail Bulgakows Meister und Margarita als eine Art Hofnarr des Teufels für den Humor verantwortlich ist. Behemoth steht aber noch in einer weiteren Tradition: Er kann sowohl die Gestalt eines Menschen als auch die des Katers annehmen.

Wenn sich menschliche Charaktere in Tiere verwandeln oder umgekehrt, so ist dies häufig ein Rückgriff auf Mythologie und Volkssagen. Schon im Märchen verwandeln sich Knaben in Rehe oder Prinzessinnen in Schwäne. Manchmal bleibt die Verwandlung aber auch unvollendet. Es entstehen Mischwesen irgendwo zwischen Mensch und Tier. „Der Werwolf etwa hat sich im Laufe der Zeit von der Angstfigur zu einem Sympathieträger entwickelt“, sagt Hans-Richard Brittnacher im Hinblick auf die erfolgreichen Twilight-Romane von Stephanie Meyer. Die Tierfiguren ermöglichen es Autoren also auch, mit den vielschichtigen und individuell unterschiedlichen Erwartungen der Leser zu spielen.

Stücke aus dem Affenzirkus

Als eines der bekanntesten Wesen zwischen den Spezies gilt Tarzan aus den Fortsetzungsromanen von Edgar Rice Burrough, die mit Tarzan of the Apes 1914 ihren Auftakt nahmen. Darin löst sich ein Menschenkind, das von Affen aufgezogen wurde, wieder von seiner tierischen Familie und dem Dschungel.Er steht zwischen der freien Natur und der Zivilisation, ist gleichzeitig Kletterkünstler und Sprachtalent. „Tarzan sieht etwas und übernimmt es“, erläutert Mira Shah, Komparatistin am Cluster „Languages of Emotion“ der Freien Universität. Mit dieser typischen Affeneigenschaft gelingt es der Figur paradoxerweise, zum Lord aufzusteigen. Aus diesem Grund hält Mira Shah den Roman für „subversiv“, auch wenn sich im Text viel koloniales Gedankengut in Bezug auf Tiere und Eingeborene bemerkbar mache.

Wie Affen in Texten dargestellt und mit welchen Gefühlen sie verbunden werden, untersucht Mira Shah im Rahmen ihrer Doktorarbeit über die „Rhetorik der Primatologie“. Der Vergleich biografischer, oftmals gefühlsbetonter Texte großer Affenforscherinnen und fiktionaler Affenfiguren liegt dabei nahe. Denn die Primatologie des 20. Jahrhunderts wirkte auf die Literatur wie ein Katalysator: „Der Affe wird in diesen Jahren plötzlich wertvoll, weil wir Menschen uns Aufschlüsse über uns selbst versprechen“, sagt Shah. Dass Wissenschaftler Tieren Zeichensprache beibringen und dadurch eine rudimentäre Art der Verständigung belegen, sieht die Doktorandin als geeigneten Ausgangspunkt für literarische Gedankenexperimente. In dem dystopischen Roman Der Planet der Affen von Pierre Boulle aus den frühen 1960er Jahren etwa hat sich das Machtverhältnis zwischen Affen und Menschen umgekehrt.

Affen werden Popkultur, von King Kong bis „Unser Charlie“

Selbst den Gorilla – als King Kong noch Sinnbild brutaler Gewalt – haben Forscherinnen und Forscher als flüchtendes, familienbezogenes Wesen entdeckt. Längst sind Affen zum popkulturellen Phänomen geworden. Nicht zuletzt Serien wie „Unser Charlie“ belegen, dass Affen als unsere sympathischen Verwandten gesehen werden, wie Mira Shah sagt.

Ursprünglich wurden auch den Affen noch ganz andere Rollen zugestanden: Sie sind dem Menschen vor allem als exotische Unterhaltungskünstler bekannt. Durch seine Fähigkeit, den Menschen nachzuahmen, bietet sich der Affe auch als literarische Reflexionsfigur an. „Vor allem zur Zeit der Aufklärung ist der Orang- Utan eine beliebte Figur, mit der der Erziehungs- und Bildungsdiskurs satirisch kritisiert wird etwa in den Novellen und Erzählungen von E. T. A. Hoffmann und Wilhelm Hauff.“ Differenzierter werden die Affenfiguren in der Literatur nur allmählich, beobachtet Mira Shah. Zum Beispiel ist die tatsächliche Artenvielfalt lange Zeit unbekannt. Der jeweilige Stand der Wissenschaft zeigt sich auch in Texten, die unter dem Einfluss der Kreuzungsversuche stehen, die bis in die 1930er Jahre unternommen wurden. „Man fragte sich, was für eine Kreatur entstehen würde und welche körperlichen und geistigen Eigenschaften sie haben würde“, sagt die Doktorandin.

Eine der eindrucksvollsten Affenfiguren taucht für sie in einem Jugendwerk des französischen Schriftstellers Gustave Flaubert auf. Quidquid volueris von 1837 handelt von Djalioh, einem Mischwesen, einer Kreuzung aus Mensch und Affe, das aus Liebe zum Mörder wird. „Anhand der Figur wird sehr stark thematisiert, was es heißt, zwischen den Arten zu stehen, innerlich zerrissen zu sein.“ Diese emotionale Herangehensweise Flauberts unterscheidet die Figur Djalioh von früheren Affencharakteren. Der Autor nimmt auf diese Weise bereits ein Stück weit den Gesinnungswandel vorweg, der später mit Darwins The origin of species von 1858 eintreten sollte. „Die Genese des Menschen aus dem Affen wird in dieser Zeit zu einem Thema“, erläutert Mira Shah. Dass diese Nähe heute als Verwandtschaft gesehen wird, ist für Mira Shah nicht zuletzt Verdienst der Primatologie: „Den Wissenschaftlerinnen ist es gelungen, Tiere als emotional wertvolle Partner darzustellen.“

Zumindest für die Schriftstellerriege gilt die Nähe zum Tierreich wohl schon lange als ausgemacht: In Schriftsteller-Tier-Lexika, sogenannten Bestiarien, übertragen Autoren ihren Kollegen bereits seit dem 17. Jahrhundert mit spitzer Feder tierspezifische Charaktereigenschaften. Zuletzt versuchte sich daran Franz J. Raddatz mit seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Dort taucht das „Panzernashorn Böll“ oder die „verirrte Möwe Jelinek“ auf, ebenso wie Daniel Kehlmann als Schmetterling und Günter Grass als Fisch. In der Literatur ist der Mensch dem Menschen eben bisweilen nicht nur Wolf.

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher

Prof. Dr. Hans Richard Brittnacher
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Mira Shah

Mira Shah
Bildquelle: privat

Hans Richard Brittnacher

Hans Richard Brittnacher studierte in Marburg und Berlin, war Lektor in Italien und hatte Gastprofessuren inne in Wien, Bern und Amerika. 1994 promovierte er, 2000 folgte die Habilitation mit „Erschöpfung und Gewalt. Opferphantasien in der Literatur des Fin de siècle“. Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Imagologie des Zigeunertums und des Vagabundismus, Phantastische Literatur, Literatur und Kultur des Goethezeitalters und des Fin de siècle sowie die Geschichte des Lesens. Seit 2003 ist der Professor an der Freien Universität. E-Mail: brittnacher21@aol.com

Mira Shah

Mira Shah studierte bis 2009 Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Theater- und Kulturwissenschaft, Gender Studies und Englische Philologie an der Freien Universität und der Humboldt- Universität. Seither war sie bis Oktober 2012 am Cluster „Languages of Emotion“ wissenschaftliche Mitarbeiterin und unterrichtet nun an der Universität Bern das Seminar „Affe, Text, Affekt – Affenfiguren in der Literatur“. Ihre Doktorarbeit ist Teil des Forschungsprojekts „Die Affekte der Forscher“, das seine Arbeit im Juli 2013 aufnehmen wird. E-Mail: mira.shah@fu-berlin.de