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Konfliktreiche Erinnerung

Kann gemeinsames Gedenken an den Nationalsozialismus, an den Holocaust und Zweiten Weltkrieg die europäische Identität stärken? So einfach ist es nicht, sagen Historiker der Freien Universität

08.10.2014

Aus Anlass des  40. Jahrestags der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 legten der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan mit Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem Soldatenfriedhof „Kolmeshöhe“ in Bitburg einen Kranz nieder.

Aus Anlass des 40. Jahrestags der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 legten der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan mit Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem Soldatenfriedhof „Kolmeshöhe“ in Bitburg einen Kranz nieder.
Bildquelle: dpa-picturealliance

Der Zweite Weltkrieg ist unbestritten einer der großen Wendepunkte der Geschichte – nicht nur der deutschen. Wie man sich in Europa daran erinnert, ist nach wie vor kontrovers. Dennoch hat sich in vielen Ländern die gesellschaftliche Deutung von Nationalsozialismus, Faschismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg stark gewandelt. Die Historiker Arnd Bauerkämper und Robert Zimmermann forschen über dieses „umstrittene Gedächtnis“.

Als sich im Mai 1985 das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 40. Mal jährte, diskutierten die Deutschen über angemessene Formen des Gedenkens. Ein Ende der „Demutsgesten“ und die außenpolitische Rehabilitierung Deutschlands als gleichwertiger Partner – das waren die Anliegen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Am 5. Mai des Jahres besuchte er gemeinsam mit dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg in der Eifel, auf dem nicht nur Wehrmachtssoldaten, sondern auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind. Die beiden Staatschefs lösten damit einen Sturm der Entrüstung aus. Ihr vorangegangener Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen besänftigte die Kritiker kaum.

Drei Tage später sprach Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor dem Bundestag über das Kriegsende in Europa. Er ermahnte die Deutschen, dass sie nicht durch Verdrängung, sondern nur durch aktives und kritisches Nachdenken über die Geschichte zu sich selbst finden könnten. Bis dahin galt der 8. Mai 1945 im offiziellen Gedenken als Tag der Niederlage. In seiner Rede grenzte sich Weizsäcker von diesem Verständnis ab. Der Tag des Kriegsendes sei auch ein „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ gewesen. Eine Aussage, die das Geschichtsbild der Deutschen nachhaltig veränderte.

Die Erinnerungen an die nationalsozialistische Diktatur, an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg sind von einzelnen Akteuren, Gruppen und von Konflikten geprägt – das ist eine zentrale These von Arnd Bauerkämper, Professor für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Freien Universität. In seiner umfangreichen Studie „Das umstrittene Gedächtnis“ hat er sich mit dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg in 14 europäischen Ländern befasst.

Am Morgen des 5. Mai 1985 gedachten Helmut und Hannelore Kohl sowie Ronald und Nancy Reagan beim Besuch des  Konzentrationslagers Bergen-Belsen der Opfer des Nationalsozialismus.

Am Morgen des 5. Mai 1985 gedachten Helmut und Hannelore Kohl sowie Ronald und Nancy Reagan beim Besuch des Konzentrationslagers Bergen-Belsen der Opfer des Nationalsozialismus.
Bildquelle: Bundesarchiv

Bauerkämper begann das Buch 2008, zu Beginn der Euro-Krise. Wenn in der öffentlichen Diskussion die europäische Identität und die gemeinsamen Erinnerungen betont wurden, habe er dies immer mit Skepsis betrachtet, sagt der Historiker: „Ich habe Vorbehalte, wenn Institutionen wie der Europarat versuchen, eine europäische Erinnerungskultur zu schaffen. Eine Erinnerungsgemeinschaft muss meines Erachtens letzlich von unten wachsen, im Dialog.“ Das funktioniere in Demokratien generell besser als in Diktaturen, weil verschiedene Gruppen sich in den öffentlichen Diskurs einbringen und so die Gedächtniskultur prägen können. Diese zivilgesellschaftliche Verständigung über Grenzen hinweg könnten und sollten Politiker ermöglichen und fördern, auch im Rahmen der EU; der Prozess benötige aber Zeit und Freiraum.

In Norwegen prägen ehemalige politische Häftlinge die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg

Bauerkämper betont den Unterschied zwischen kollektivem und kommunikativem Gedächtnis, zwischen öffentlicher Erinnerungskultur und privatem Erinnern in Familien und kleinen Gruppen. Wie stark eine Interessengruppe ihre Erinnerungen in den gesellschaftlichen Diskurs – national, aber auch grenzüberschreitend – einbringen kann, zeigt Robert Zimmermann in seiner Dissertation über Häftlingsverbände in Norwegen und Dänemark. Zimmermann ist Doktorand in einem von Bauerkämper geleiteten Forschungsverbund. Er fand heraus, dass besonders in Norwegen das Vermächtnis der ehemaligen politischen Häftlinge noch heute starken Einfluss auf die Erinnerungskultur hat.

In dem skandinavischen Land gab es von 1940 bis 1945 kaum aktiven Widerstand; jedoch widersetzten sich ganze Berufsgruppen der „Gleichschaltung“ durch die nationalsozialistischen Besatzer und ihrer norwegischen Gefolgsleute. So weigerten sich mehr als 90 Prozent der Lehrer, eine Erklärung zu unterschreiben, die sie zu Prinzipien nationalsozialistischer Erziehung verpflichten sollte. „Wer nach Kriegsende aus dem Gefängnis kam, tat das mit dem Duktus des Widerstandskämpfers. Die Häftlinge wurden von der Gesellschaft mit offenen Armen empfangen“, sagt Zimmermann. Von rund 44.000 politischen Gefangenen organisierten sich jedoch nur wenige. Der größte Häftlingsverband hatte nach dem Krieg rund 1.600 Mitglieder.

Die Verbandsmitglieder hatten bisweilen unter Repressalien zu leiden: „Sie wurden als Kommunisten beschimpft, weil viele von ihnen in Sachsenhausen eingesessen hatten“, erläutert der Doktorand. Dies änderte sich, als in den frühen achtziger Jahren eine jüngere Generation Wissenslücken über die deutsche Besatzung Norwegens zeigten und der gesellschaftliche Konsens zu bröckeln begann. Mitglieder des Häftlingsverbandes sprachen nun regelmäßig an Schulen und öffentlichen Einrichtungen über ihre Erlebnisse während des Zweiten Weltkrieges. „Das verbreitete Narrativ von den ‚guten Norwegern’ und den ‚bösen Anderen’ – also den Deutschen – wurde dadurch noch bestärkt“, sagt Zimmermann. Dass der Nationalsozialismus bei vielen Norwegern durchaus Anklang fand – es gab bis zu rund 55.000 Nitglieder der norwegischen Nasjonal Samling, mehr als 5.000 Männer meldeten sich freiwillig zum Dienst bei der Waffen-SS – spielt nach Zimmermanns Recherchen im öffentlichen Diskurs nur eine untergeordnete Rolle.

Anders als in den westeuropäischen Demokratien hatten Interessengruppen in den kommunistischen Ländern Osteuropas nur dann Einfluss auf die Gedächtnispolitik, wenn ihre Erinnerung der offiziellen Politik entsprach. In der DDR etwa gab die SED-Führung vor, wie mit der Vergangenheit umzugehen sei. „Der Antifaschismus war Staatsdoktrin, der Widerstand der Kommunisten gegen den Nationalsozialismus stand im Vordergrund. Die Unterstützung der Nationalsozialisten durch breite Teile der Bevölkerung wurde weitgehend ausgeblendet, nachdem die offensichtlich Schuldigen in den Nürnberger Prozessen und mit der Enteignung von Unternehmern und Großgrundbesitzern bestraft worden waren“, sagt Bauerkämper.

Da die Bundesrepublik außerdem die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches antrat, schob die DDR die Schuld am Holocaust auf sie. Und während in westdeutschen Städten ab Mitte der sechziger Jahre die Studentenbewegung scharfe Kritik an der mangelhaften Aufarbeitung des Nationalsozialismus übte, erstickte die DDR-Führung jeglichen studentischen Protest bereits im Ansatz. Die Studentenführer in der Bundesrepublik kennzeichnete vor allem eine stark ideologische Kapitalismus- Kritik. Sie rückten die sozioökonomischen Strukturen im „Dritten Reich“ in den Blickpunkt, nach individueller Verantwortung fragten sie kaum. „Für sie waren die Ausbeutungsinteressen des Regimes zentral.

Viele von ihnen vertraten die These, dass die Konzentrationslager aus kapitalistischen Beweggründen eingerichtet wurden. Das war ja auch nicht ganz falsch – Firmen wie die IG Farben zum Beispiel hatten eigene Konzentrations- oder Arbeitslager und machten dank der Zwangsarbeiter hohe Gewinne. Aber die Kritiker übersahen die rassenpolotischen Treibkräfte und die einzelnen Täter, die einzelnen Opfer“, sagt Bauerkämper. Doch trotz dieser Defizite seien die späten sechziger Jahre ein wichtiger Wendepunkt in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus gewesen. In der DDR und anderen Ostblock-Ländern kam dieser Wendepunkt hingegen später: Erst nach dem Zusammenbruch des Sozialismus war es möglich, sich öffentlich kritisch mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Als das polnische Fernsehen im vergangenen Jahr den ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ zeigte, entstand dort ein  lebhafte Diskussion über die Beteiligung Polens an den nationalsozialistischen Verbrechen.

Als das polnische Fernsehen im vergangenen Jahr den ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ zeigte, entstand dort ein lebhafte Diskussion über die Beteiligung Polens an den nationalsozialistischen Verbrechen.
Bildquelle: ZDF/David Slama

Der Fokus lag jedoch häufig auf anderen Aspekten als im Westen. So sorgte 2004 die lettische Außenministerin Sandra Kalniete für Aufsehen, als sie in ihrer Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse den Nationalsozialismus und den Kommunismus als gleichermaßen verbrecherisch bezeichnete. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, und einige Begleiter verließen daraufhin den Saal. Man dürfe den Nationalsozialismus, der 48 Millionen Menschen das Leben gekostet habe, nicht mit dem Kommunismus gleichsetzen, sagte Korn hinterher.

Anzeichen einer Annäherung von Ost- und Westeuropa

Doch in der Erinnerung vieler Osteuropäer nähmen die Gulags – die sowjetischen Straf- und Arbeitslager – eine zentralere Rolle ein als die Konzentrationslager, sagt Bauerkämper: „Jüngere Ereignisse sind wichtiger bei dem Versuch, sich national zu finden.“ Es gebe aber auch Zeichen der Annäherung zwischen Ost- und Westeuropa. In Polen zum Beispiel werde auch die Kollaboratoin seit 2000 stärker thematisiert als noch vor einigen Jahren.

Als das polnische Fernsehen im vergangenen Jahr etwa den deutschen ZDF-Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ zeigte, sei eine lebhafte Diskussion über die Beteiligung von Polen an den nationalsozialistischen Verbrechen entstanden. Die Gedenkkultur in Deutschland sieht Bauerkämper derzeit von einer Tendenz zur Selbstkritik geprägt. So lassen seit Anfang der neunziger Jahre viele Institutionen und Unternehmen ihre eigene Rolle in der NS-Zeit von unabhängigen Historiker-Kommissionen untersuchen. Die Deutsche Bank, Volkswagen, Allianz, Karstadt- Quelle, das Auswärtige Amt, die Max-Planck-Gesellschaft und andere stellten sich so ihrer historischen Schuld. Allerdings spielten auch öffentlicher Druck und wirtschaftliche Motive eine Rolle, sagt der Historiker: „Gerade für Unternehmen, die auf den amerikanischen Markt drängten, war es wichtig, auf diese Weise Verantwortung für die eigene Vergangenheit zu übernehmen.“

Auch in anderen europäischen Staaten wird seit dem Ende des Kalten Krieges die Frage der Mittäterschaft neu gestellt. So diskutierten etwa die Schweizer darüber, weshalb ihre Banken Depot- und Kontenvermögen jüdischer Holocaust-Opfer über Jahrzehnte stillschweigend einbehalten konnten. Eine andere Tendenz im Umgang mit dem Nationalsozialismus sei die Verallgemeinerung der Verbrechen. „Der Holocaust wird als Beispiel für andere Massenmorde gesehen. Nach den Krisen der neunziger Jahre – vor allem den Kriegen in Jugoslawien und dem Völkermord in Ruanda – hieß es, die Staatengemeinschaft habe nicht genug getan“, sagt Bauerkämper.

Bei der Stockholmer Holocaust-Konferenz im Jahr 2000 gingen Regierungschefs aus aller Welt gemeinsam mit Historikern und Pädagogen der Frage nach, wie man die Erinnerung an den Holocaust nutzen könne, um gegen Rassismus und Intoleranz vorzugehen. In der Folgezeit entstanden neue Bildungsprojekte. Andere Genozide wie der Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs wurden stärker diskutiert. 2005 erklärten die Vereinten Nationen schließlich den 27. Januar zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust.

So nähern sich die Erinnerungspraktiken in den Ländern Europas einander ein Stück weit an. Für eine positive Identitätsbildung seien sie jedoch wenig geeignet, sagt Bauerkämper – dafür seien die nationalen Debatten zu unterschiedlich. Die Universalisierung des Holocaust betrachtet er ebenfalls skeptisch: Zwar sei es verdienstvoll, auch andere Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. Jedoch dürfe man die Einzigartigkeit des Mordes an Millionen Juden und überhaupt die besonderen Merkmale der einzelnen Genozide nicht aus dem Blick verlieren.

Die Wissenschaflter

Univ.-Prof. Dr. Arnd Bauerkämper
Arnd Bauerkämper ist seit 2009 Professor für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Freien Universität Berlin. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit der Geschichte Großbritanniens im 19. und 20. Jahrhundert, dem Faschismus in Europa, der Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie der Demokratie, Philantrophie und Zivilgesellschaft in Westdeutschland im transatlantischen Bezugsverhältnis zu den USA. Aktuelle Forschungsprojekte sind derzeit: „Philanthropische Gesellschaften und Zivilgesellschaft im grenzüberschreitenden Bezugsverhältnis. Geben und Empfangen in Deutschland von 1945 bis 1990“ (in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Gregory R. Witkowski, IUPUI, Indiana) und „Sicherheit und Menschenrechte in Europa im 20. Jahrhundert“.

Kontakt: Freie Universität Berlin Friedrich-Meinecke-Institut E-Mail: baue@zedat.fu-berlin.de

Robert Zimmermann



Robert Zimmermann studierte Neuere und Neueste Geschichte, Politikwissenschaft und Geografie an der TU Dresden und dem Agder University College Kristiansand. Seit 2011 arbeitet er an seinem Dissertationsvorhaben „Die Gefangenschaft als Legitimation? Erinnerungspraktiken von Häftlingsverbänden in Dänemark und Norwegen in transnationaler Perspektive nach 1945“ (gefördert durch die Stipendienfonds E.ON Ruhrgas im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft) bei Prof. Dr. Arnd Bauerkämper. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit Erinnerungsgeschichte, digitaler Geschichtswissenschaft sowie der Zeitgeschichte Norwegens und Dänemarks.

Kontakt: Freie Universität Berlin Friedrich-Meinecke-Institut E-Mail: robert.zimmermann@fu-berlin.de