Springe direkt zu Inhalt

Alte Mauern, tiefe Gräben

Zum 25. Mal jährt sich der Mauerfall in diesem Jahr. Am Forschungsverbund SED-Staat erforschen Wissenschaftler die Geschichte der DDR und den langwierigen Prozess der Wiedervereinigung

08.10.2014

Am Forschungsverbund SED-Staat erforschen Wissenschaftler die Geschichte der DDR und den langwierigen Prozess der Wiedervereinigung

Am Forschungsverbund SED-Staat erforschen Wissenschaftler die Geschichte der DDR und den langwierigen Prozess der Wiedervereinigung
Bildquelle: photocase/zettberlin http://www.photocase.de/foto/176347-stock-photo-berlin-wiese-gras-mauer-beton-politik-staat

Ob Trabbi oder Sandmännchen: Das Phänomen Ostalgie gibt es in Deutschland seit Jahren. Was vor 1989 noch belächelt wurde, hat plötzlich sogar bei Wessis Kultstatus. Auch Kita und Impfpflicht finden immer mehr Fürsprecher. Wie sich die Wahrnehmung der DDR in der Bevölkerung über die Jahre gewandelt hat, ist nur einer der Schwerpunkte am Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin. Auch Ereignisse und Strukturen aus DDR-Zeiten, die rund ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall noch im Verborgenen liegen, fördern sie durch ihre Recherchen zutage.

„Wende“ – das ist ein Begriff, mit dem sich Klaus Schroeder nicht anfreunden kann. Nein, er hält ihn sogar für grundfalsch als Bezeichnung für die Geschehnisse im Herbst 1989 in der DDR und für alles, was bis hin zur Wiedervereinigung folgte. Der Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat und Professor für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin sieht in der Prägung des Begriffs vielmehr die späte Rache des letzten SED-Generalsekretärs. Nicht nur, weil sich der Begriff bis heute gehalten hat – in den Medien, in den Geschichtsbüchern, in den Köpfen: „Egon Krenz, der den Begriff zwar nicht erfand, aber benutzte, wollte damit ausdrücken, dass es die SED, das Politbüro und er selbst es waren, die eine Wende zum Guten eingeleitet haben“, sagt Schroeder. Ein geschickter politischer Schachzug mit Langzeitwirkung.

Zutreffend sei die Bezeichnung dennoch nicht. Die DDR sei zusammengebrochen – auf dramatische Art und Weise. Der Weg in die Wiedervereinigung erfolgte nach Ansicht des Historikers zwangsläufig: Das Land war schon im Frühjahr 1989 pleite. Die BRD musste bereits zu diesem Zeitpunkt Geld beisteuern, damit Löhne und Renten gezahlt werden konnten. „Die DDR war auf dem Weg in die Anarchie, im negativen Sinne“, sagt Schroeder. Deshalb musste auch die Wiedervereinigung schneller kommen als ursprünglich erwartet, es hätte sonst politisch-gesellschaftliches Chaos gedroht. Wieso sich der Begriff „Wende“ dann trotzdem durchgesetzt hat? Klaus Schroeder hält kurz inne. Darüber lasse sich nur spekulieren, sagt er dann.

Die Bürgerrechtler der DDR sprechen weiterhin aus ihrer Sicht zu Recht von der „friedlichen Revolution“; „Wende“ sei eine vermeintlich neutrale Alternative gewesen. Schroeder stößt auch der Begriff „ehemalige DDR“ sauer auf. „Wieso ehemalig?“, fragt er. „Es gab sie doch wirklich! Mit dem zusätzlichen Adjektiv klingt es nach einer nachträglichen Auslöschung.“ Unverständlich für Schroeder, fielen dem Regime doch auch mehr als 1.000 Menschen an der innerdeutschen Grenze zum Opfer. Etwa 200.000 Personen waren aus politischen Gründen inhaftiert.

Bis heute wird die DDR von einigen verklärt. Studien mit Schülern zeigen, dass sich dieses verklärte Bild mittlerweile in die nächste Generation weitervererbt hat.

Bis heute wird die DDR von einigen verklärt. Studien mit Schülern zeigen, dass sich dieses verklärte Bild mittlerweile in die nächste Generation weitervererbt hat.
Bildquelle: iStockphoto/Kerstin Waurick

Während im Berliner Stadtbild Denkmale und Kreuze an die Mauer-Toten erinnern, ist die Zahl der Opfer entlang der innerdeutschen Grenze bislang nicht im Detail bekannt. Die Forscher sind in einem aktuellen Projekt dabei, die Fälle zu untersuchen und biografisch zu erfassen. Unterstützt werden sie dabei vom Bund und den Ländern Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Hessen

Was hat die Wiedervereinigung gekostet?

Vor wenigen Monaten war Klaus Schroeder mit einem anderen Thema in den Schlagzeilen: Was hat die Wiedervereinigung gekostet? Dem gesellschaftlichen Mainstream entsprechen seine Thesen nicht immer. Das weiß er – und ist damit zumindest in der medialen Welt eine umstrittene Figur. Journalisten rufen ihn gern an, wenn sie einen kritischen Kommentar zur DDR-Geschichte oder Fakten zum Wiedervereinigungsprozess benötigen. Der Aufschrei vieler Menschen in Ostdeutschland lässt dann in der Regel nicht lange auf sich warten.

Etwa, wenn Schroeder konstatiert, in vielen ostdeutschen Köpfen habe diese „Wende“ noch nicht vollständig stattgefunden. Viele würden die DDR heute immer noch verklärt sehen und seien noch nicht im gesellschaftlichen und politischen System Deutschlands angekommen. Oder wenn er in Studien mit Schülern zeigt, dass sich dieses verklärte Bild mittlerweile in die nächste Generation weitervererbt hat. Doch diese Reaktionen hält er aus: als Wissenschaftler, der mit Fakten dagegenhält. „Vielen Ostdeutschen ist das politische System dieses Landes nach wie vor fremd. Jahr für Jahr sehen sie die DDR positiver, sie hatte noch nie so viele Anhänger wie heute“, sagt er und setzt ein feines Lächeln auf. Was nicht bedeute, dass eine breite Mehrheit der Ostdeutschen je in die reale DDR zurückwolle.

Aber es gibt seinen Befragungen zufolge eine DDR „der Herzen“, eine sozial verklärte DDR, an die die positiven Erinnerungen überwiegen. Wer daran rühre, der gelte schnell als jemand, der nur das Schlechte sehe. So werde etwa das Recht auf Arbeit gelobt, das es im SED-Staat gab, aber die gleichzeitige Pflicht zur Arbeit verschwiegen.

Doch was macht die DDR derart unantastbar? Liegt es daran, dass die Menschen in der DDR gelebt, geliebt, geweint, dass sie geküsst und getrauert haben? Muss sich da nicht Widerstand regen, wenn ein Wissenschaftler mit seiner Kritik auch ihre Biografien vermeintlich entwertet? Nein, sagt Schroeder entschieden. In allen Diktaturen werde gelebt, geliebt und geweint, doch das rechtfertige Diktaturen noch lange nicht. Man müsse nach dem großen Philosophen Habermas System und Lebenswelt trennen. Das politische Strafrecht sei willkürlich gewesen, und damit war die DDR für Schroeder im Kern ein Unrechtsstaat. Nur gelinge diese Trennung vielen Menschen nicht – sie beziehen den Begriff auch auf die Gesellschaft und lehnen ihn daher ab.

Damit seien die Ostdeutschen nicht allein: „Viele Westdeutsche denken genau umgekehrt: Sie halten den Gewinn des Wettbewerbs zwischen den Systemen für ihren eigenen Verdienst und blicken deshalb etwas von oben herab oder gar mitleidig auf Ostdeutsche.“ Auch aus diesem Grund sei eine latente Spannung zwischen Ost und West bis heute in Teilen erhalten. Für einige Forscher ist der Graben in den vergangenen Jahren sogar eher breiter als enger geworden. Dennoch sehen sie Grund zur Hoffnung: 15 bis 20 Jahre werde es noch dauern, bis Ost und West nur noch Himmelsrichtungen sind und das Nord-Süd-Gefälle in Deutschland ein emotionaleres Thema ist als das geteilte Deutschland, schätzt Jochen Staadt, Projektleiter beim Forschungsverbund. Bis dahin hätten auch nachfolgende Generationen die DDR-Sozialisation überwunden.

Was die Zeit der „Wende“ wirklich gebracht hat, darin sind sich die beiden Wissenschaftler einig: Sie habe gezeigt, dass ein Umbruch auch friedlich ablaufen kann. So ließ etwa die Sowjetunion ihre Truppen in den Kasernen, als die Menschen auf die Straßen gingen. „Mit der Aussage von Michail Gorbatschow, dass man nicht eingreifen werde, war über Nacht die gesamte, künstliche Stabilität dahin.“

Bundeskanzler Helmut Kohl hatte die Zeichen der Zeit erkannt: Die Mehrheit der Menschen in der DDR wollte kein neues sozialistisches Experiment, sondern eine Vereinigung mit Westdeutschland.

Bundeskanzler Helmut Kohl hatte die Zeichen der Zeit erkannt: Die Mehrheit der Menschen in der DDR wollte kein neues sozialistisches Experiment, sondern eine Vereinigung mit Westdeutschland.
Bildquelle: Bundesregierung/Christian Stutterheim

Andere Aspekte sehen Schroeder und Staadt im Vergleich eher als „Nägel am Sarg“ des untergehenden Staates: den erloschenen Glauben an die Zukunft des real existierenden Sozialismus etwa, die darniederliegende Wirtschaft, den Freiheitswillen der Bürger und das Rumoren im ganzen Ostblock. „Von der europäischen Einigung im Westen ging ein starker Sog aus. In Polen war eine nichtkommunistische Regierung gewählt worden, Ungarn war auf dem Weg aus dem Ostblock heraus dem Internationalen Währungsfonds beigetreten“, sagt Jochen Staadt. Die Rolle der westdeutschen Medien wollen die Wissenschaftler dabei nicht überbewertet wissen. Die These liege zwar nahe, dass die DDR-Bürger auf die Straßen gingen, weil das relativ weit verbreitete Westfernsehen und -radio den Wunsch nach Freiheit und Konsum angeregt habe.

Doch dagegen spricht laut Schroeder und Staadt, dass die Wiege des Umbruchs im Ostblock eher in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei lag als ausgerechnet in der DDR. Männer wie Václav Havel in der Tschechoslowakei träumten längst von einer Zivilgesellschaft nach westlichem Muster, ebenso die Polen, während die DDR-Opposition überwiegend einen reformierten, demokratischen Sozialismus und mehr Ökologie verlangten. Doch dafür war die Mehrheit ihrer Landsleute nicht wirklich zu haben: Sie wollten kein neues sozialistisches Experiment, sondern wünschten einen schnellstmöglichen Anschluss an Westdeutschland. Der damalige Kanzler Helmut Kohl habe das begriffen und trotz berechtigter Warnungen von Ökonomen dafür den Weg bereitet. Und was bleibt heute von der DDR? Nur der grüne Pfeil an der Ampel, der das Rechtsabbiegen bei Rot erlaubt? Viele Ost-, aber auch Westdeutsche werden nicht müde zu betonen, dass es einiges mehr gegeben habe, das zu prüfen und zu übernehmen sich gelohnt hätte – vom Schulsystem über die medizinische Versorgung bis zu sozialen Einrichtungen.

Klaus Schroeder widerspricht: „Ich glaube, man konnte damals nicht mehr übernehmen. Die Ostdeutschen wollten leben wie die Westdeutschen, aber kaum ein Westdeutscher wollte leben wie die Ostdeutschen“, sagt er. Zwar habe das medizinische System durchaus gute Seiten gehabt, wie etwa die Impfpflicht oder generell die Prävention. Aber um entsprechende Einrichtungen flächendeckend zu tragen, hätte die westdeutsche Medizin verstaatlicht werden müssen. Auch die Kitas hätten jenseits der ideologischen Dimension aufgrund ihrer flächendeckenden Verbreitung natürlich Vorbildfunktion gehabt. Aber die Strukturen ließen sich im Westen eben nicht von heute auf morgen umsetzen. Nach und nach akzeptiert worden sei aber das Konzept der Polikliniken: Es hat in den heutigen Ärztehäusern eine Entsprechung gefunden.

Die Ostdeutschen wollten leben wie die Westdeutschen, aber kaum ein Westdeutscher wollte leben wie die Ostdeutschen.

Die Ostdeutschen wollten leben wie die Westdeutschen, aber kaum ein Westdeutscher wollte leben wie die Ostdeutschen.
Bildquelle: photocase/Beddi http://www.photocase.de/foto/103217-stock-photo-pkw-schriftzeichen-buchstaben-dresden-leipzig-museum

Erst nach Jahrzehnten findet nun also langsam zusammen, was zusammen gehört. Zu lange hatte die von der Sowjetunion und der SED gewollte Trennung gedauert. Auch in der Bildung. Das hat der Forschungsverbund in den vergangenen Jahren unter anderem anhand von Zeitzeugenberichten aus den Reihen ehemaliger Studierender der Freien Universität dokumentiert: Diese erlebten das Auseinanderdriften beider Staaten in den Jahren vor dem Mauerbau unmittelbar mit. Die Universität spielte schließlich eine besondere Rolle in all den Wirren: Nicht nur, dass sie seit 1948 als Gegenstück zur damals zunehmend kommunistisch geprägten Humboldt-Universität gegründet wurde, es studierten auch sehr viele Studenten aus dem Ostteil der Stadt in Dahlem.

In den fünfziger Jahren, als die Mauer noch nicht stand, aber die Sektorengrenzen schon schwerer zu passieren waren, stellten die Ostberliner noch ein Drittel der Studierenden an der Hochschule. Mit dem Mauerbau waren sie plötzlich abgeschnitten und vom Studium ausgeschlossen. Doch längst hatten sich Freundschaften gebildet, und so halfen viele Kommilitonen ihren Mitstudierenden bei der Flucht nach West-Berlin, erläutert Jochen Staadt.

Die Bespitzelung reichte bis ins Privatleben

In einem weiteren Projekt haben die Forscher im Frühjahr den Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf die Westberliner Polizei untersucht: Die Polizei zählte demnach zu der am intensivsten bewachten Berufsgruppe im freien Teil der Stadt. Als „Stasi-Streetview“ bezeichnen die Wissenschaftler die bis ins Private hineinreichende Überwachung von mehr als 16.000 Beamten – etwa 80 Prozent der damaligen Beschäftigten im Polizeidienst. Bereits in den frühen siebziger Jahren habe das MfS über eine umfassende Personalkartei der Westberliner Polizei verfügt, so das Ergebnis von Schroeder und Staadt. Demnach gelang es der Stasi sogar, in das polizeiliche Informationssystem einzudringen und dort eigene Abfragen einzuspeisen.

Mit welchem Zweck? „Die genaue Kenntnis des Personals, der Gebäude und der Ausrüstung der West-Berliner Polizei blieben für eine Stunde X von Bedeutung, falls West-Berlin in die Verfügungsgewalt der Sowjetunion und der DDR geraten würde“, erläutert Schroeder. Besatzungspläne des MfS wurden mit der Nationalen Volksarmee und der Volkspolizei bis in die späten achtziger Jahre immer wieder auf den neuesten Stand gebracht. Nicht selten gilt der Forschungsverbund SED-Staat heute als Feind der sozialistischen Diktatur und der Ostalgie. Pauschal für alle ihre Wissenschaftler gilt dieses Bild aber nicht, betont Jochen Staadt.

Die eigene Vergangenheit der Forscher beeinflusse durchaus, wie hart sie mit der DDR ins Gericht gehen: Während die Westdeutschen eher vorsichtig Missstände bemängelten, seien aus dem Osten geflohene Kollegen oftmals unnachgiebige DDR-Kritiker. Manche konnten erst durch die Wende Abitur und Studium nachholen, die Welt sehen und frei forschen, ergänzt Schroeder – und da hat der Leiter des Forschungsverbunds dann doch einmal „Wende“ gesagt. Die Anführungszeichen allerdings, die spricht er immer mit.

Die Wissenschaftler

Prof. Dr. Klaus Schroeder

Klaus Schroeder ist Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin sowie Wissenschaftlicher Leiter und Mitbegründer des Forschungsverbundes SED-Staat. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit der Deutschen Teilungsgeschichte, der Geschichte der DDR, dem Wiedervereinigungsprozess, Extremismus und Sozialstaat. Für fundiert war er somit der richtige Ansprechpartner, als es unter anderem um die Frage ging, warum für Klaus Schroeder die Wende eigentlich gar keine war, sondern ein Zusammenbruch und eine friedliche Revolution. Kontakt: Freie Universität Berlin Forschungsverbund SED-Staat E-Mail: kschroe@zedat.fu-berlin.de


Dr. Jochen Staadt

Jochen Staadt ist Germanist, Politikwissenschaftler und Projektleiter des Forschungsverbundes SEDStaat an der Freien Universität. Für fundiert konnte er erläutern, warum der Mauerfall ohne die Umbrüche in Polen und Ungarn kaum möglich gewesen wären. Jochen Staadt ist unter anderem Redaktionsmitglied der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat und er forscht neben vielen Themen auch zu den Opfern des DDR-Grenzregimes. Kontakt: Freie Universität Berlin Forschungsverbund SED-Staat E-Mail: j.staadt@fu-berlin.de