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Europa, deine Nachbarn

Nie wieder Krieg – mit diesem Traum begann die Geschichte der europäischen Einigung.

11.06.2015

Nie wieder Krieg – mit diesem Traum begann die Geschichte der europäischen Einigung. Ein Traum, der für viele Bürger wahr geworden ist: 28 Mitgliedsstaaten hat die Europäische Union heute, allein zwischen 1995 und 2007 kamen 15 neue Staaten hinzu. Doch noch immer ist die Idee zerbrechlich.

Nie wieder Krieg – mit diesem Traum begann die Geschichte der europäischen Einigung. Ein Traum, der für viele Bürger wahr geworden ist: 28 Mitgliedsstaaten hat die Europäische Union heute

Nie wieder Krieg – mit diesem Traum begann die Geschichte der europäischen Einigung. Ein Traum, der für viele Bürger wahr geworden ist: 28 Mitgliedsstaaten hat die Europäische Union heute
Bildquelle: fotolia/bluedesign

Mit dem Fall der Berliner Mauer keimte die Hoffnung, dass Kriege auf europäischem Boden der Vergangenheit angehören. Doch der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat wieder einen blutigen Bürgerkrieg bis an die Grenze der Europäischen Union gebracht. Auch die anhaltende Wirtschaftskrise stärkt die Skepsis der Bürger gegenüber der Brüsseler Politik – und gefährdet den Zusammenhalt. Nach einer Umfrage des Marktforschungsnetzwerks WIN/Gallup fühlen sich 26 Prozent der EU-Bürger „weniger europäisch“ als noch vor einem Jahr, in Griechenland sind es sogar 52 Prozent. Zugleich gewannen bei der Wahl 2014 EU-skeptische Parteien deutlich an Stimmen.

Die Alternative für Deutschland (AfD) erzielte aus dem Stand sieben Prozent und schaffte erstmals den Sprung ins Europaparlament. Parteisprecher Bernd Lucke ging mit Slogans wie „Mut zu Deutschland“ auf Stimmenfang – und sprach sich unter anderem strikt gegen eine Erweiterung der EU durch einen Beitritt der Türkei aus. Auch Abgeordnete anderer Fraktionen wie die der christlich-konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) stehen einer Mitgliedschaft der Türkei und neuen Erweiterungsplänen kritisch gegenüber. Ist Europa an seine Grenzen gelangt?

Osteuropäische Länder haben sich sehr gut integriert

Dieser Frage geht die Politologin Tanja Börzel nach, Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften. Im Rahmen des bis 2016 laufenden Forschungsprojekts MAXCAP untersucht sie die Folgen der letzten EU-Osterweiterung. Das Kürzel MAXCAP steht für „Maximizing the integration capacity of the European Union“. Der durch das 7. EU-Rahmenprogramm finanzierte Forschungsverbund, an dem neben der Freien Universität Berlin acht weitere Partnerinstitute aus ganz Europa beteiligt sind, beschäftigt sich mit vergangenen Erweiterungsrunden, um daraus mögliche Schlüsse für die Zukunft abzuleiten. Eine der ersten Studien analysiert die unterschiedlichen Strategien, die die EU bei den jeweiligen Erweiterungen im Umgang mit den Beitrittskandidaten wählte.

Der Beitritt Polens, Tschechiens, des Baltikums und fünf weiterer Staaten im Jahr 2004 war unter Politikern und Ökonomen umstritten. Es war die bisher größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union. „Man befürchtete, dass mit der erheblichen Zahl neuer Mitgliedsländer die Entscheidungsfindung in der EU immer schwieriger würde“, sagt Börzel. Die Angst vor Lohndumping und Armutszuwanderung nach Westeuropa wurde ebenfalls oft genannt. Sorgen, die sich als unbegründet herausstellen sollten: „Das alles ist nicht eingetreten“, resümiert Börzel.

Europas Nord-Süd-Gefälle

So sind zum Beispiel die EU-Richtlinien zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf – oder auch europäische Hygiene- und Qualitätsstandards wie die Milchverordnung – in den neuen Mitgliedsländern weitestgehend umgesetzt worden. „Ein Ost-West-Gefälle bei der Einhaltung von EU-Recht gibt es nicht“, sagt Börzel. „Ein Nord-Süd-Gefälle schon eher.“ Einer der möglichen Gründe dafür ist, dass bei der Osterweiterung, anders als bei der Süd-Erweiterung in den 1980er-Jahren, vorbereitende Förderprogramme geschaffen wurden, um den Strukturwandel in den neuen Mitgliedsstaaten zu unterstützen. „Die osteuropäischen Länder haben sich jedenfalls sehr gut in die Europäische Union integriert“, so Börzel.

Ein Ergebnis, das überzeugten Europäern Hoffnung macht: Wäre gar ein gemeinsamer Handelsraum zwi schen Lissabon und Wladiwostok in Zukunft denkbar, von dem Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos sprach? Die Historikerin Gertrud Pickhan vom Osteuropa- Institut der Freien Universität Berlin hält das angesichts der eisigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen derzeit für einen fernen Wunschtraum. „Aus geografischer und historischer Sicht aber gehört auch Russland zu Europa“, sagt sie. Schon im 18. Jahrhundert öffnete Peter der Große das Zarenreich, das bis zum Uralgebirge der europäischen Topografie zugeordnet wird, nach Westen. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Russland, Deutschland und Österreich waren bis zur Oktoberrevolution und der Machtübernahme durch die kommunistischen Bolschewiki 1917 eng. „Aber auch die Revolution selbst hat eine bedeutende Rolle im Europa des 20. Jahrhunderts gespielt“, sagt Pickhan. „Russland ist aus der europäischen Geschichte nicht wegzudenken.“

Wie weit das Europa der Zukunft reichen kann, ist eine Frage, die sich dagegen nicht eindeutig beantworten lässt. Die Europäische Union ist ein Projekt, das seit seinem Start im Wandel begriffen ist. In den Gründungsverträgen sind die Grenzen dieses Projekts nicht festgelegt. Dort werden nur gemeinsame Werte festgelegt, etwa Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit oder der Schutz von Minderheiten.

Die Politologin Tanja Börzel betont, dass darüber hinaus weitere Kriterien über die erfolgreiche Integration potenzieller Beitrittsländer entscheiden. Wie etwa die Aufnahmefähigkeit der EU-Institutionen. „Wenn kleine Länder wie Makedonien der EU beitreten, wäre das kein Problem“, sagt sie. „Wenn aber ein großer Staat wie die Türkei von heute auf morgen Mitglied würde, könnte das europäische Parlament den Ansturm neuer Abgeordneter gar nicht verkraften.“ Grundlegende Reformen der EU-Institutionen wären in so einem Fall unabdingbar.

Die Wurzeln der europäischen Idee

Wichtiger als die EU-Institutionen seien jedoch seine Bürger, sagt Börzel, und „die Menschen mitzunehmen und für Europa zu begeistern. Dabei hakt es besonders.“ Manche EU-Kritiker bemängeln, dass es den Nationalstaaten bei der EU-Erweiterung vor allem um eines geht: um Geld. Tatsächlich begann die Geschichte der europäischen Integration 1951 mit der Gründung eines Wirtschaftsverbandes, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch Montanunion genannt. Der zollfreie Handel mit den beiden Gütern brachte den sechs Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs einen wichtigen Aufschwung.

Sechs Jahre später wurden in Rom zwei weitere Wirtschaftsverbände gegründet: die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und die Europäische Atomgemeinschaft. Gemeinsam gelten die drei Bündnisse als Grundgerüst, aus dem sich 1992 mit den Verträgen von Maastricht die Europäische Union bildete. Doch die wirtschaftliche Zusammenarbeit war schon in den Anfangsjahren vor allem Mittel zum Zweck, meint Börzel. „Hier konnten sich die Regierungen schnell auf gemeinsame Ziele einigen, für die man zusammenarbeitet.“ In der Außen- und Verteidigungspolitik lagen die Vorstellungen zu weit auseinander – und zwar über Jahrzehnte.

Auch wenn im Vertrag von Maastricht 1992 erstmals politische Ziele als Leitlinien der europäischen Integration genannt wurden, blieben die Außen- und Innenpolitik weiterhin der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit vorbehalten. „Wohlstand, Frieden und Freiheit waren dennoch immer gemeinsame Wurzeln der europäischen Idee“, sagt Börzel. Sucht man nach diesen Wurzeln, muss man in den Geschichtsbüchern noch weiter zurückblättern – bis ins Jahr 1923. Damals gründete der japanisch-österreichische Schriftsteller und Historiker Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi die „Paneuropa-Union“, die den Gedanken eines freiwilligen Bundes freier und gleichberechtigter Staaten in Europa vertrat.

Nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges fand die Idee von Coudenhove-Kalergi über die Landesgrenzen hinweg viele Unterstützer, darunter prominente Intellektuelle und Politiker wie Albert Einstein, Charles de Gaulle oder Konrad Adenauer. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg machten die Politiker ernst: 16 Monate nach Kriegsende forderte der damals abgelöste britische Premier Winston Churchill in einer Rede vor der Zürcher Universität, die „Vereinigten Staaten von Europa“ zu schaffen. Diese Idee von einem politischen Bündnis begeisterte die Jugend – und bildete die Grundlage für das geeinte Europa.

Mehr Leidenschaft für Europa

Von Begeisterung für Europa scheinen die Europäer im Moment weit entfernt. Nicht nur die ökonomische Schlagseite der Europäischen Union wird den Politikern in Brüssel angelastet, auch übermäßige Bürokratie und Intransparenz. Bis heute ist die Gurkenverordnung, nach der eine EU-Gurke eine maximale Krümmung von zehn Millimetern auf zehn Zentimeter aufweisen darf, ein Symbol für den Regelwahn – und sorgt seit 25 Jahren für Gelächter. Gleichzeitig beklagen Kritiker ein Demokratiedefizit in Europa, da Gesetze bis heute vom EUMinisterrat gemacht werden. Tanja Börzel hält dagegen: „Bei dieser Kritik ist viel Populismus im Spiel.“ Im Laufe der europäischen Integration sei auch das europäische Parlament gestärkt worden. Zwar könnten die Abgeordneten Gesetzesvorlagen nicht initiativ einbringen, sehr wohl aber verhindern. Wenn es nach Tanja Börzel geht, braucht Europa vor allem eines: mehr Politiker, die sich für Europa einsetzen und dafür streiten. Ganz in der Tradition der Aufklärung – einer alten europäischen Idee.

Am 2009 gegründeten Jean Monnet Centre of Excellence The EU and its Citizens der Freien Universität Berlin erforschen sieben Wissenschaftler die Entwicklung der europäischen Integration. Das Team, das sich aus Politologen, Juristen, Soziologen und Kommunikationswissenschaftlern zusammensetzt, legt den Fokus auf das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und deren Einwohnern. Geleitet wird das Projekt von der Politologin Tanja Börzel. Neben der reinen Forschung hat sich die Initiative zum Ziel gesetzt, die Öffentlichkeit in ihre Arbeit mit einzubeziehen. Eine Übersicht zu vergangenen und zukünftigen Veranstaltungen gibt es unter www.polsoz.fu-berlin.de.

Die Expertinnen

Prof. Dr. Tanja A. Börzel


Tanja A. Börzel ist Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration und Inhaberin eines Jean Monnet Lehrstuhls an der Freien Universität Berlin. Nach ihrer Promotion am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz forschte und lehrte sie in der Max- Planck-Projektgruppe Recht der Gemeinschaftsgüter in Bonn und der Humboldt-Universität zu Berlin. 2003 folgte sie dem Ruf auf eine Professur für Internationale Politik und Europäische Integration an der Universität Heidelberg, bevor sie 2004 an das Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin wechselte. Gemeinsam mit Professor Thomas Risse leitet sie die Kollegforschergruppe „Transformative Kraft Europa? Die Diffusion von Ideen“ und koordiniert seit 2013 das Kooperationsprojekt Maximizing the Enlargement Capacity of the European Union.

Kontakt
Freie Universität Berlin
Otto-Suhr-Institut für Politik- und Sozialwissenschaften
E-Mail: europe@zedat.fu-berlin.de

Prof. Dr. Gertrud Pickhan


Gertrud Pickhan studierte Geschichte, Slawistik und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Münster, Wien und Hamburg. Nach ihrer Promotion war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Aufbau des Deutschen Historischen Instituts Warschau beteiligt. Anschließend wechselte sie als Stellvertreterin der Gründungsdirektorin an das Simon- Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig. Nach ihrer Habilitation folgte der Ruf an die Technische Universität Dresden. Seit 2004 ist Gertrud Pickhan Professorin für Geschichte am Osteuropa- Institut der Freien Universität Berlin. Im Zentrum ihrer Forschungen steht die historische Kulturlandschaft Ost- und Ostmitteleuropas.

Kontakt
Freie Universität Berlin
Osteuropa-Institut
E-Mail: pickhan@zedat.fu-berlin.de