Katastrophe Mensch
Immer wieder suchen Naturkatastrophen den Menschen heim. Aber was daran ist natürlich? Sind diese Unglücke wirklich unvermeidbar? Soziologen der Freien Universität fordern ein radikales Umdenken
02.12.2015
Als Hurrikan „Katrina“ am Morgen des 25. August 2005 erstmals auf Land trifft, sind die Menschen kaum vorbereitet: Erst 48 Stunden zuvor hat sich der Tropensturm vom harmlosen Unwetter zum todbringenden Hurrikan entwickelt und fegt nun mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 130 Stundenkilometern über Florida hinweg. Böen decken Häuserdächer ab, bringen Boote zum Kentern, die Regenmassen lassen die Kanalisationen der Dörfer und Städte überlaufen, in Millionen Haushalten fällt der Strom aus. 14 Menschen sterben.
Der Hurrikan „Katrina“ brachte Boote zum Kentern, deckte Häuserdächer ab, die Wassermassen überfluteten New Orleans, in Millionen Haushalten fiel der Strom aus.
Bildquelle: US Navy-Jeremy L Grisham
An Land schwächt sich der Sturm ab, die Behörden berechnen, dass er auf direktem Weg nach Mississippi und Louisiana ziehen wird und auf dem Weg dorthin weitere Energie verliert. Scheinbar sind die Südstaaten mit einem blauen Auge davongekommen. Doch „Katrina“ hält sich nicht an die Prognose des National Hurricane Center und zieht weiter westwärts auf den Golf von Mexiko hinaus, tankt in den feuchten Luftmassen neue Energie. So entwickelt sich eine Katastrophe, die mehr als 1.000 Menschen das Leben kosten wird. Eine unabwendbare Laune der Natur? Schicksalsschlag? Oder ein Versagen der Behörden? Martin Voss, Professor für Sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung und Leiter der Katastrophenforschungsstelle (KFS) der Freien Universität, erforscht seit Jahren Entstehung, Verlauf und Bewältigungsstrategien von Krisen und Katastrophen. Der Hurrikan „Katrina“ ist für ihn typisches Beispiel dafür, wie Menschen Risiken und Katastrophen selbst produzieren.
Das Mississippi-Ufer birgt Risiken
„New Orleans liegt wie eine Nussschale inmitten von Wasser“, sagt Voss. Im Norden erhebt sich der Lake Pontchartrain, im Süden das Meer und mitten durch die Stadt fließt der Mississippi, der zudem die Stadt über zahlreiche Kanäle mit dem See im Norden verbindet. „Schon die Gründungsväter der Stadt wussten, dass der Ort kaum geeignet ist, Menschen sicheren Wohnraum zu bieten. Sie besiedelten das Mississippi-Ufer allein aus strategischen Motiven – und gingen damit ein kalkuliertes Risiko ein.“ Schon drei Jahre nach der Gründung 1718 steht New Orleans das erste Mal unter Wasser. Doch die Stadt rüstet auf: Immer höhere Dämme folgen den immer neuen Katastrophen. Im 21. Jahrhundert sollen bis zu sieben Meter hohe Flutmauern die Stadt vor Springfluten schützen.
New Orleans wird fast völlig überflutet
Am 29. August 2005 landet „Katrina“ mit 205 Stundenkilometer schnellen Winden auf dem Marschland westlich der Stadt an. Die Deiche des Mississippi halten der Naturgewalt zwar stand, doch die Flutwellen durchbrechen die Wände zweier Kanäle und das Brackwasser aus dem Pontchartrain-See fluten vier Fünftel des Stadtgebiets. „Den zuständigen Behörden war die Gefahr durch solche Tropenstürme durchaus bekannt“, sagt der Soziologe. „Pläne für den Neuausbau der Deichanlagen und Kanäle wurden aber über 30 Jahre hinweg immer wieder verworfen, geändert und zurückgestellt, da man die hohen Investitionskosten scheute. Das ging lange gut. Zu gut, denn dann kam Katrina.“
Voss hat Dutzende solcher Katastrophen untersucht und stieß dabei auf das immer gleiche Muster: Ein Unglück löst die Frage nach der Verantwortlichkeit aus, die Verantwortlichen beschwören die Unvermeidbarkeit der Katastrophe, kündigen Schutzmaßnahmen an, damit sich das Unglück nicht wiederholt, es vergehen Jahre, die Bilder verblassen, Sparzwänge entstehen, die Maßnahmen zum Katastrophenschutz werden hinterfragt. „Nach fünf Jahren sind die Entwicklungspläne meistens wieder auf dem Stand von vor der Katastrophe, und die Menschen werden wieder unvorsichtiger“, sagt Voss. „Deshalb müssen wir Katastrophen durch nachhaltige, global gedachte und kleinräumig umgesetzte Planung bekämpfen.“
Definitionen von Nachhaltigkeit widersprechen sich
Der Begriff der Nachhaltigkeit beschäftigt Voss schon lange: Seine Magisterarbeit hat er über die Nachhaltigkeit der Entwicklungspolitik geschrieben und ist dabei auf immer neue, teils sich widersprechende Definitionen von Nachhaltigkeit gestoßen: In Deutschland etwa verstehen Politik und Gesellschaft den Begriff „Nachhaltigkeit“ meist so, dass die Entwicklungsmöglichkeit der künftigen Generation erhalten bleibt. Doch damit macht sich die heutige Generation zum Sprecher einer künftigen: Ressourcen schonen, nachwachsende Rohstoffe fördern – eine sehr verengte Sicht, findet Voss. „Mit Biosprit beispielsweise fördern wir Monokulturen. Wer in Berlin Wasser spart, ist mitverantwortlich dafür, dass inzwischen ein großer Teil der Stadt von steigendem Grundwasser bedroht ist. Und wie sich riesige Offshore- Windparks auf das Ökosystem Meer auswirken, ist bislang noch sehr unzureichend erforscht.“ Nachhaltigkeit als Summe aller Effekte, in deren Bewertung alle Menschen einbezogen werden müssen, diese Definition hält der Soziologe für zielführend.
Welchen Anteil hat der Mensch an Katastrophen?
In Bezug auf eine nachhaltige Katastrophenvermeidung plädiert Voss dafür, den Anteil des Menschen an Katastrophenfällen richtig einzuschätzen. „Spätestens seit dem 16. Jahrhundert weiß die Menschheit um die elementaren Gefahren, denen sie auf der Erde ausgesetzt ist: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Unwetter, Fluten und Flächenbrände, soziale und ökonomische Verwerfungen, Krankheiten. Und die Menschen wissen auch, dass Rauchen gefährlich ist, welche Orte besser unbewohnt blieben, weil es dort immer wieder zu Katastrophen kommt. Aber sie nehmen das Risiko in Kauf “, sagt Voss. So ist es für Seismologen keine Frage ob, sondern wann Istanbul, Tokio und Los Angeles vom nächsten großen Erdbeben heimgesucht wird. In San Francisco gelten 2.800 Gebäude bei einem Beben der Stärke 7,1 als einsturzgefährdet. Nur wenige Kilometer westlich von Neapel brodeln unterhalb der Phlegräischen Felder Unmengen von Magma und bedrohen 4 Millionen Menschen, im Großraum der indonesischen Hauptstadt Jakarta sind 26 Millionen Menschen ständig der Gefahr von Flutkatastrophen ausgeliefert, da die Stadt zu 40 Prozent unter dem Meeresspiegel liegt.
Ähnlich dem Tsunami, der Weihnachten 2004 die Küsten in Südostasien verwüstete, könnten Flutwellen nach einem Seebeben auch Städte wie Lissabon, Mumbai oder Tokio heimsuchen.
Bildquelle: iStockphoto.com, james Anderson
Ähnlich dem Tsunami, der Weihnachten 2004 die Küsten Südostasiens verwüstete, könnte eine ähnliche Monsterwelle nach einem Seebeben auch Städte wie Lissabon, Mumbai oder Tokio heimsuchen. Angesichts solcher Fakten vermeidet Voss den Begriff „Naturkatastrophe“ in seiner Arbeit. „Das Schadenspotenzial naturbeeinflusster Prozesse ließe sich minimieren, wenn sich die Menschen kulturell auf bestimmte Gegebenheiten besser vorbereiten und besser reagieren würden“, sagt er. Deshalb spricht Voss von „Kulturkatastrophen“, wenn sich Menschen bewusst in Gebieten ansiedeln, die von den Gewalten der Natur bedroht sind. „Wir können zwar kein Erdbeben verhindern, wohl aber die Schäden, die es verursacht.“ Etwa, indem Bauvorschriften verschärft und unsichere Gebäude abgerissen werden. Wichtiger als der rechtliche Rahmen sind für den Soziologen jedoch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen: Menschen müssen über die für ein sicheres Leben notwendigen Ressourcen verfügen, damit sie nicht gezwungen sind, ihren Lebensunterhalt an den gefährlichsten Orten zu verdienen“. Dabei dürften die Verantwortlichen den Blick aufs Ganze nicht verlieren, um nachhaltig Katastrophen zu verhindern. „Die damit verbundene Komplexität ist groß, aber das sollten wir gerade als Herausforderung sehen, der wir uns zu stellen haben. Hier sind deshalb die Sozial- und Geisteswissenschaften ganz besonders gefordert – und müssen gefördert werden“, so Voss. Mit dem Leitbild Nachhaltigkeit weise die Freie Universität den richtigen Weg.
Vom Wald in die Welt des 21. Jahrhunderts
Die Idee der „Nachhaltigkeit“ stammt vom königlichsächsischen Kammerrat Hans Carl von Carlowitz, der in seiner „Sylvicultura oeconomica“ die Idee der Nachhaltigkeit erstmalig in einem Buch über die Forstwirtschaft formulierte: Er empfahl den Förstern, nur so viele Bäume zu fällen, wie gleichzeitig nachgepflanzt würden. „Das verlangt schon mehr, als heute oft aus dem Begriff gemacht wird. Bei vielen Problemen unserer Zeit ist die Frage nach der Nachhaltigkeit eben eine komplexere“, sagt der Soziologe. In der Entwicklungshilfe gibt es viele Beispiele dafür, dass ein zu einfacher Nachhaltigkeitsbegriff Probleme verstärkt, anstatt sie zu lösen. Auch müssen die Umstände vor Ort genau erfasst werden. In Nigeria etwa kümmern sich westliche Entwicklungshelfer um die Etablierung „nachhaltiger Fischerei“, um die Bestände im Guinea- Becken zu erhalten. „Dass viele Probleme vor Ort durch die europäische Fischereipolitik verursacht wurden, wird dabei ausgeblendet, wäre jedoch für eine wirklich nachhaltige Lösung des Problems unabdingbar“, sagt Voss. In Guatemala verschütten vulkanische Schlammlawinen, sogenannte Lahare, immer wieder Dörfer und Städte. Ein Schutzdamm, den westliche Helfer errichteten, sollte den Schutt um die Siedlungen herumführen. Was die Hilfsorganisationen nicht bedachten: Baumaterial ist für die meisten Menschen vor Ort ein unbezahlbarer Schatz. Also trugen sie den Deich nach und nach ab, um ihre Häuser auszubessern.
Tsumnami-Messgeräte wurden Beutegut
Nach dem Tsunami in Südostasien 2004 bauten die Anrainerstaaten des Indischen Ozeans mithilfe von Spendengeldern ein Netz aus Seismometern, Meeresspiegelmessgeräten und Bojen auf, die nahezu in Echtzeit die Folgen von Seebeben berechnen sollen. So sollen die betroffenen Küstenregionen rechtzeitig gewarnt werden. „Doch die ausgelegten Bojen sind vermehrt zum Ziel von Piraten geworden, da die Messgeräte eine Vielzahl von Edelmetallen enthalten“, sagt Voss. „Und ein zentrales Problem ist nicht gelöst: Wie bringt man die Warnungen zu den Menschen?“ Dass „Masterpläne zur Katastrophenvermeidung“ so selten funktionieren, habe noch einen menschengemachten Grund. „Die Akteure verfolgen Eigeninteressen, auf die individuell eingegangen werden muss“, sagt der Soziologe.
Der Klimawandel als individuelles Problem
Sein Team hat anhand einer Studie die Auswirkungen des Klimawandels auf die Bewohner der Alpenregion untersucht. „Alpine Naturgefahren im Klimawandel“ (ANIK) heißt das Projekt. „Es hat sich gezeigt, dass klimawissenschaftliches Verständnis im Alltag der Menschen kaum eine Rolle spielt“, sagt Voss. Für jeden Menschen ist Klimawandel etwas ganz Individuelles. Für Verantwortliche des Bergtourismus bedeutet Klimawandel vor allem: mehr Schneekanonen. Für die Katastrophenschutzbehörden stehe hingegen der Lawinenschutz der Täler im Vordergrund, der ständig getestet werden müsse. „Die eigentlichen Probleme, insbesondere die durch unseren Lebensstil verursachte Emission klimaschädlicher Treibhausgase, werden von den Menschen ausgeblendet. Und dass der Klimawandel vor allem veränderte Lebensweisen erfordert, kommt bei den Menschen als Botschaft nicht an, zumal zentrale Player wie beispielsweise VW als schlechtes, nur den eigenen, kurzsichtigen ökonomischen Interessen folgendes Vorbild alle Motivation untergraben. Es setzt sich dann die Überzeugung durch, dass man selbst ja doch nicht wirklich etwas ändern kann.“
Vor Ort forschen
Damit sich dies ändert und vorhersehbare Katastrophen im Vorfeld besser begegnet werden kann, empfiehlt Voss eine bessere Auseinandersetzung mit Land, Leuten und den örtlichen Begebenheiten: „Die verantwortlichen Behörden und Hilfsorganisationen müssen sich noch stärker mit den Menschen in den betroffenen Gebieten auseinandersetzen: Wie leben sie, welche Interessen verfolgen sie, was sind ihre Prioritäten, wie bewerten sie Risiken, welche Motive bestimmen ihr Handeln, was sind sie zu tun bereit? Dann sind sie nicht nur besser ansprechbar, vielmehr könnten alle dann wirklich voneinander lernen.“ „Es ist ein Fehler zu glauben, dass das Wissen über ein Problem und die Entwicklung einer Technologie zur Beherrschung des Problems immer gleichzeitig auch die Lösung des Problems bedeuten“, sagt Voss. „Es braucht vielmehr immer auch sozialwissenschaftliche Kompetenz, um zu verstehen, wie Menschen das Problem sehen und zu welchen Handlungen sie bereit sind.“
Nach „Katrina“, vor der nächsten Katastrophe
In New Orleans entbrannte nach Katrina eine Debatte über die Zukunft der hochwassergefährdeten Stadt. Wenige setzten sich gar dafür ein, sie ganz aufzugeben. „Diese Stimmen haben sich jedoch nicht durchgesetzt, weil viele die Gefahr durch Tropenstürme weiter für beherrschbar halten und zu viele davon profitieren, nichts oder nur das übliche zu tun, eine Denkweise, die New Orleans in die Katastrophe geführt hat.“ Viele ärmere Bewohner der Stadt, vor allem Afro- Amerikaner und Hispanics, sind auch zehn Jahre nach der Katastrophe noch nicht in ihre alten Wohnsiedlungen zurückgekehrt. Der neue Hochwasserschutz und die Trümmerbeseitigung waren so teuer, dass viele von ihnen sich die Mieten nicht mehr leisten können. Wann der nächste Hurrikan die Stadt am Mississippi heimsuchen wird, ist eine Frage der Zeit. Tonnenschwere Fluttore aus Stahl sollen New Orleans in Zukunft vor dem Wasser schützen, und Pumpen sollen eindringendes Wasser in gewaltigen Strömen in die Seewasserlagunen Lake Pontchartrain und Lake Borgne leiten. Insgesamt wurden in der Stadt nach dem Sturm 14,5 Milliarden US-Dollar in den Hochwasserschutz investiert. Glaubt man den Zahlen, hat New Orleans damit erst einmal Ruhe. Ein Hurrikan wie Katrina trifft die Stadt statistisch gesehen nur einmal in 100 Jahren. Doch dass Berechnungen nicht immer korrekt sein müssen, hat „Katrina“ ebenfalls gezeigt – man ging zunächst von einem noch mächtigeren Hurrikan der Kategorie 5 aus. New Orleans hatte also eigentlich Glück gehabt. Darauf kann sich allerdings niemand verlassen, sagt der Katastrophenforscher: „Wenn ein solcher Sturm einmal ungebremst die Stadt treffen sollte, werden auch die neuen Deichbauten nicht ausreichen.“
Der Wissenschaflter
Prof. Dr. Martin Voss
Martin Voss forscht vor allem zu Katastrophen, dem Globalen Umweltwandel – insbesondere dem Klimawandel und der Nachhaltigkeit –, der Sicherheitsforschung sowie der Wissenschafts- und Techniksoziologie. Regional liegen seine Arbeitsschwerpunkte im Alpenraum, Indien, Südostasien und Zentralamerika. Er leitet zahlreiche Projekte, beispielsweise „Katastrophenkulturen in Deutschland und Indien im Klimawandel“ oder „Transdiziplinäre Integrative Vulnerabilitäts- und Resilienzbewertung und freiwiliges Engangement auf Milieuebene“, beide gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).
Kontakt
Freie Universität Berlin
Institut für Sozial- und Kulturanthropologie
Katastrophenforschungsstelle (KFS)
E-Mail: martin.voss@fu-berlin.de