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„Schneller, lauter, schriller“!?

Über Journalismus in der Krise. Ein Essay von Ingo Kahle, ehemaliger Student der Freien Universität und fast vier Jahrzehnte Radiojournalist.

13.10.2016

Steckt der Journalismus in der Krise? Gehen journalistische Grundregeln mittlerweile über Bord, wie die Trennung von Nachricht, Bericht und Kommentar?

Steckt der Journalismus in der Krise? Gehen journalistische Grundregeln mittlerweile über Bord, wie die Trennung von Nachricht, Bericht und Kommentar?
Bildquelle: photocase/kallejipp https://www.photocase.de/fotos/194182-newsflash-blau-informationstechnologie-erde-photocase-stock-foto

Ich musste schnell sein. Sehr schnell. Rund 3.600 Kurzinterviews in zehn Jahren als Moderator im Früh- und Tagesprogramm von RBB-Inforadio waren oft, aber beileibe nicht immer ein Ergebnis akribischer Vorbereitung. Mit der 37 Minuten langen Sendung „Zwölfzweiundzwanzig – Zu Gast bei Ingo Kahle“ konnte ich dann zeigen, was im Journalismus möglich ist, wenn man Zeit hat. Ich war alleiniger Redakteur und Moderator, hatte vier Tage für Planung und Vorbereitung und vieles mehr, heutzutage ein Privileg! Es waren übrigens auch allzu oft sehr lange Tage.
„Zwölfzweiundzwanzig“ wurde über die zehn Jahre und 381 Ausgaben zur erfolgreichsten Einzelsendung des RBB-Inforadios, zur „besten Interviewsendung Deutschlands“, wie die „Neue Osnabrücker Zeitung“ befand.

Tauge ich im Journalismus also etwa als Vorbild für die Ergebnisse von Gründlichkeit und Unerschrockenheit? Erstens: Eine Mücke soll sich nicht zum Elefanten machen. Zweitens: Wer von „Krise des Journalismus“ redet, muss das Ganze betrachten: Was beeinflusst, was prägt Journalismus heute? Das gerade wieder von Kurt Beck kritisierte Verlangen nach „schneller, lauter, schriller“, dem man mit einem Appell zur Gründlichkeit begegnen könnte, ist nur ein Phänomen, nicht die Ursache dieser Krise.

Das Ökonomische

Sicher, im Pressewesen gilt: „Macht bleibt dort, wo das Geld sitzt.“ (Julia Cagé; Rettet die Medien, München 2016) Die immer komplexere Gesellschaft brauche Journalisten, so die Französin, beschäftige aber immer weniger. Die meisten Zeitungen steckten ihre ohnehin schwindenden Mittel ins Online-Geschäft. Ein immer größerer Teil der Journalisten arbeite ganz oder zusätzlich für die Online-Ausgaben der Zeitungen.
Dabei komme es selbst ökonomisch nicht darauf an, wer mit „Copy-and-Paste“ Agenturmeldungen am schnellsten online stelle, genutzt von „Millionen eiligen Internetnutzern”, sondern ob das Online-Angebot eine Ergänzung zu ansonsten hochwertigen Nachrichteninhalten in den abonnierten und verkauften Ausgaben ist. Cagé schlägt eine ökonomische Selbstorganisation der Presse vor, welche „die Vorzüge von Stiftung und Aktiengesellschaft vereint“. Jedoch: Zeitigt eine andere ökonomische Organisation der Medien per se einen anderen Journalismus? Und wer definiert das Ideal?

Talkingpoints

Es kommt darauf an zu erkennen, wer öffentliche Meinung wie steuert, und wie sich Journalisten verstehen. Kurt Beck, Ex-SPD-Chef, Ex-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, wurde von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gefragt, warum Journalisten „nicht auch Einfluss auf die Politik ausüben sollten“. Beck: „Mit Verlaub: Ihr seid dazu demokratisch nicht legitimiert.“ Akteur statt Beobachter? Schönen Gruß besonders an die „Leitmedien“!

Politiker sollen aber auch nicht jammern, versuchen sie doch, Öffentlichkeit professioneller denn je zu steuern. Es klappt nur nicht immer. Beispiel: Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ war vielleicht nur eine spontane Äußerung auf jener Pressekonferenz im Herbst 2015. Es ist aber auch ein „Talkingpoint“ und Angela Merkel nutzt sie meisterhaft. Talkingpoints sind von Profis entwickelte, psychologisch wirksame Formulierungen, deren Aufgabe es ist, „Menschen fühlen zu lassen, dass es »gut« ist, ihnen zu folgen.“ (Dushan Wegner, Talking Points, Frankfurt 2015) Mit „Talking Points“ werden also Sprachformeln öffentlicher Diskurse, werden Haltungen, Sichtweisen geprägt – auch, weil Journalisten sich allzu sehr an ihnen entlanghangeln, anstatt die komplexen Probleme wirklich zu durchdringen.
„Wir schaffen das“, so sagt der Kommunikationswissenschaftler Wegner, sei eine klassische „Applauszeile“, ein Angebot, das darauf ziele, dem Sprechenden zu folgen. Sie habe aber sicher ungewollte gesellschaftliche Folgen gehabt, provozierte sie doch erst die ausdrückliche Ablehnung dieser Politik. Es stellt sich heraus: gegen die Mehrheit der Medien.

„Verantwortungsverschwörung“?

Nach der Analyse von 34.000 Pressebeiträgen zum Flüchtlingsthema stellt der emeritierte Leipziger Professor Michael Haller, jetzt Hamburg Media-School, fest: 82 Prozent aller Beiträge zur Flüchtlingsthematik seien positiv konnotiert gewesen (der Scherpunkt lag auf „Willkommenskultur“), 12 Prozent rein berichtend, 6 Prozent hätten die Flüchtlingspolitik problematisiert. Die Berichterstattung, so Hallers These, sei der sich ändernden Wahrnehmung in der Bevölkerung hinterhergelaufen. Uwe Krüger, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leipziger Journalistik-Institut, spricht von einer „Verantwortungsverschwörung“ von Journalisten und den politischen Spitzen des Landes, „über die Probleme des Flüchtlingsandrangs nicht offen zu debattieren.“ (Uwe Krüger: Mainstream, München 2016)

Er bezeichnet mit diesem Begriff eine „Falle“: Es habe dabei „vielleicht gar keiner persönlichen Absprachen im Hintergrund bedurft“. (Obwohl es sie, wie Insider berichten, systematisch und mit den Spitzen der deutschen Medien gegeben hat! ika) Diese „Verschwörung“ habe „aufgrund gemeinsamer Einstellungen und Werte funktioniert, die aber dennoch als politisch-mediale Schweigespirale wirkte.“ Nach der erwähnten Hamburger Untersuchung ist die Zahl der Berichte zur „Willkommenskultur“ im Herbst 2015 „regelrecht explodiert“. Es bedurfte übrigens keiner Anweisungen von „oben“, so meine Erfahrung aus dem RBB. Uwe Krüger stellt beim Thema Flüchtlingspolitik jedenfalls fest, „dass die meisten deutschen Journalisten mit ihrer Berichterstattung und Kommentierung ein Einvernehmen der Bevölkerung mit Merkels Politik der offenen Grenzen herzustellen trachteten“, was nach neuesten Umfragen misslungen ist.

Dafür gingen meines Erachtens vielfach Grundregeln über Bord, wie die Trennung von Nachricht, Bericht und Kommentar. Noch als RBB-Intendantin hat Dagmar Reim die Mahnung von Hans-Joachim Friedrichs ausdrücklich abgelehnt: Ein Journalist solle sich im Bericht nicht mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten, hatte der verstorbene Moderator der „tagesthemen“ gefordert. Reim verwies stattdessen als Richtschnur auf das Gebot der Völkerverständigung im RBB-Staatsvertrag. Uwe Krüger rät hingegen zu Recht: Es gehöre nicht zu den Aufgaben von Journalisten, „das Publikum vor kognitiver Dissonanz zu bewahren, indem sie gesellschaftliche Widersprüche verschleiern oder marginalisieren.“

Haltung statt Recherche

Klagen wie diese: „Meinungsstark, aber keine Ahnung von Recherche“, über tradierte Denkmuster statt Offenheit und Neugier, sind in der Branche nicht mehrheitsfähig. Beispiel: Der Medienrummel nach der – wie sich herausstellte – falschen, über die sozialen Netzwerke verbreiteten Meldung, am Berliner LaGeSo habe es einen Toten gegeben. Da wurde berichtet, interviewt, getwittert und kommentiert – ohne dass es eine Leiche gab, ohne das offizielle Ermittlungsergebnis abzuwarten. Es war eine Berichterstattung nach dem Motto: Es hätte ja möglich sein können (sinngemäß Claus Kleber), sowie im Grunde dem Ziel des Falschmelders von „Moabit hilft“ folgend, einen finalen Beleg zu schaffen für einen in überaus vielen Berichten – zu Recht oder nicht – beklagten „humanitären Skandal“.

Nun, die Meute läuft gern in eine Richtung. Einen Komment aus tradierten Denkmustern gibt es in vielen Redaktionen. Gegen ihn zu verstoßen ist anstrengend. Auch die Rolle des Elitären, der sich über Dünnbrettbohrerei echauffiert, ist nicht vergnügungssteuerpflichtig. Viele Journalisten seien Akademiker und zudem, so Uwe Krüger, in einem „gut abgesicherten Angestellten- oder Beamtenhaushalt groß geworden“, mit entsprechendem Habitus. Bei den Jüngeren sehe ich mich durch die Jugend-Studie des Sinus-Institutes bestätigt: Der Begriff „Mainstream“ sei kein Schimpfwort mehr, sondern vielmehr „ein Schlüsselbegriff “ in Selbstverständnis und Selbstbeschreibung Jugendlicher. „Neo-Konventionalismus“ nennen das die Sinus-Wissenschaftler.

„Campaneros“ und „Aktivisten“

Internetbasierte Kampagnen wie die von „campact“ gegen das Freihandelsabkommen TTIP, professionell geplant und gesteuert von etwa 30 Leuten, verfehlen ihre Wirkung bei Journalisten und Öffentlichkeit nicht. Einfachste Parolen („TTIP schadet unserer Gesundheit“) schaffen sehr wirksam ein Meinungsklima gegen TTIP. Beispiel: Das längst offiziell für gesundheitlich unbedenklich erklärte Chlorhühnchen. In Chlorwasser gewaschene französische Salatblätter aus Plastiktüten erfreuen sich übrigens großer Beliebtheit.

Ich wundere mich auch immer, wie viele „Aktivisten“ es jetzt auf der Welt gibt. Selbst jene Leute aus dem linksradikalen Milieu im griechischen Idomeni wurden mit diesem positiv konnotierten Begriff bezeichnet, die Flüchtlinge zum Grenzdurchbruch animierten, wobei drei Afghanen im Grenzfluss ertranken. Die an die Medien gesandten Bilder haben den Tross von Journalisten und „Aktivisten“, die den Flüchtlingen folgten, bewusst nicht gezeigt. Die journalistischen (und politischen) Unterstützer jener „Aktivisten“, die offenbar erneut eine „humanitäre Katastrophe“ herbeiführen wollten, fanden sich in Deutschland, kritische Berichte dagegen in Großbritannien.

Ingo Kahle blickt zurück auf ein langjährige Karriere als Journalist. Bekannt ist vor allem seine Radiosendung „Zwölfzweiundzwanzig – Zu Gast bei Ingo Kahle“.

Ingo Kahle blickt zurück auf ein langjährige Karriere als Journalist. Bekannt ist vor allem seine Radiosendung „Zwölfzweiundzwanzig – Zu Gast bei Ingo Kahle“.
Bildquelle: privat

Hehre Wissenschaft?

Der Mainzer Zeithistoriker Professor Andreas Rödder diagnostizierte: Seit den siebziger Jahren, Beispiel „Waldsterben“, habe sich ein „Wechselspiel von Wissenschaft, Medien und Politik“ entwickelt. Experten seien zu einem „immer wichtigeren Faktor der politischen Öffentlichkeit in den Industrienationen“ geworden. („21.0, Eine kurze Geschichte der Gegenwart“, München 2015) Ich nenne als Beispiel die beliebte Behauptung, der Kapitalismus sei an allem schuld. Dagegen: Wir werden nicht immer kränker, meint Martin Dornes in seinem Buch „Macht der Kapitalismus krank?“ und kritisiert, mehr Empirie einfordernd, den Berliner Philosophieprofessor Byung-Chul Han. Schreibtischphantasien“ nennt er dessen Thesen und appelliert: „Für eine kritische Soziologie und Philosophie wäre eine kritischere Einstellung wünschenswert, aber nicht zur Gesellschaft, sondern zu den eigenen Überzeugungen.“ Ob das nur für diese beiden Fächer gilt?

Mir bleibt nur der Appell an meine Kolleginnen und Kollegen: Weniger Gesinnung, mehr Empirie, tradierte Denkmuster infrage stellen, mehr Unerschrockenheit, Offenheit für neue Gedanken sowie mehr unbedingter Wille, die Dinge wirklich zu verstehen. Ja, das kostet Mühe. Und Zeit. Zu denken sollte geben, dass meine erfolgreichsten Sendungen jene waren, in denen scheinbar sakrosankte gesellschaftliche Auffassungen infrage gestellt wurden: Mit Professor Ulrich Kutschera über „Gender Mainstreaming“ (33.000 Klicks auf www.inforadio.de und mit Professor Gunnar Heinsohn über „Völkerwanderung“ 25.000 Klicks).


Zum Autor
Ingo Kahle, M.A., geboren 1952 in Berlin, Studium der Publizistik, Politik und Philosophie an der Freien Universität Berlin. 38 Jahre beim SFB/ RBB tätig, fünf Jahre in der Pressestelle, dann im Zeitfunk und von 1995 bis Mai 2016, Redakteur, CvD und Moderator im Inforadio.