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Tierversuche vermeiden

Wo weniger mehr ist und die Alternative manchmal sogar besser als das „Original“

09.12.2017

Wenn das Wort „Tierversuch“ fällt, sträuben sich bei den meisten Menschen die Nackenhaare. Mehr als 2,7 Millionen Versuchstiere wurden 2015 allein in Deutschland für Arzneimitteltests und Ähnliches eingesetzt – über 70 Prozent davon sind Mäuse. Muss das wirklich immer noch sein? Im Grunde nicht. Denn etliche Tierversuche können heute zumindest teilweise schon durch Alternativmethoden ersetzt werden. 

Das Modell einer Maus ist dem echten Tier sehr genau nachempfunden.

Das Modell einer Maus ist dem echten Tier sehr genau nachempfunden.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Um die Erforschung von tierschonenden und alternativen Methoden zu stärken, initiierte Monika Schäfer- Korting, Pharmakologie-Professorin an der Freien Universität Berlin, 2014 die Berlin-Brandenburgische Forschungsplattform BB3R. Ziel des Verbundes, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird, ist es, die Entwicklung und Etablierung von Alternativmethoden und von tierschonenden Arbeitstechniken voranzutreiben und exzellente Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler auf diesem Gebiet auszubilden. Dazu dient insbesondere das integrierte Graduierten-Kolleg Innovationen in der 3R-Forschung – Gentechnik, Tissue-Engineering und Bioinformatik. Doktorandinnen und Doktoranden entwickeln dort unter anderem in-vitro- und in-silico-Methoden – also im Reagenzglas und am Computer –, um Tierversuche künftig ersetzen, reduzieren oder – sofern nicht ersetzbar – für das Tier schonender gestalten zu können. Also ganz im Sinne der sogenannten „3R“-Regel: Replace! Reduce! Refine!

Zu den Partnern bei BB3R gehören neben der Freien Universität Berlin, der Technischen Universität Berlin und der Universität Potsdam das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), die Charité – Universitätsmedizin Berlin sowie das Robert Koch-Institut und das Zuse-Institut Berlin (ZIB).

Monika Schäfer-Korting gehört zu den Vorreiterinnen auf dem Gebiet der Alternativmethoden. Bereits seit Anfang der 1990er-Jahre forscht sie an künstlichen Hautmodellen und züchtete diese anfangs auf Basis von Spenderhaut im Reagenzglas. Inzwischen lassen sich Hautzellen aber auch aus Haarfollikeln gewinnen.

Heute weiß man, dass in-vitro-Hautmodelle aus menschlichen Zellen sogar die bessere Alternative sind: Arzneimitteltests an ihnen liefern aussagekräftigere Ergebnisse als an lebenden Nagetieren. Kein Wunder. „Der Sprung zwischen den Spezies, insbesondere bei der Haut, ist extrem groß“, betont Schäfer-Korting, Sprecherin von BB3R. „Tiermodelle können zudem die enorme Diversität innerhalb der Spezies Mensch nicht abbilden.“ Denn es gibt deutliche Unterschiede in der Wirkung von Arzneimitteln auf Männer und Frauen, Kinder und alte Menschen, ansonsten Gesunde und Kranke sowie auf Menschen verschiedener Ethnien. Mithilfe der dreidimensionalen Hautmodelle lässt sich dies alles im Labor nachvollziehen. Das typische Versuchstier dagegen ist noch immer die steril aufgewachsene männliche Maus oder Ratte: Alle „Probanden“ sind gleich alt und am besten aus dem selben Wurf.  

Forschung und Ausbildung bei BB3R

Aktuell sind elf Forschungsprojekte bei BB3R angesiedelt. Welche Kriterien muss ein Vorhaben erfüllen, um aufgenommen zu werden? „Es muss eines der „3R“ berühren und signifikant behandeln“, sagt Burkhard Kleuser, Toxikologe am Institut für Ernährungswissenschaft der Universität Potsdam und stellvertretender Sprecher von BB3R. Das Besondere an der Plattform ist für ihn die intensive Promotionsausbildung. „Sie umfasst nicht nur den Bereich, in dem der Einzelne konkret arbeitet, sondern jedes der 3R. Nach der Promotion werden die Jungforscher also nicht nur ihr eigenes Projekt bearbeitet haben, sondern sich auch mit Computersimulationen und Ersatzmethoden bestens auskennen.“

„R“ wie Replacement

Bei Monika Schäfer-Kortings eigenem Projekt geht es um die Etablierung von Humanhaut-Modellen für die Erforschung von Hautkrankheiten – wie etwa dem hellen Hautkrebs oder dem atopischen Ekzem, zu dem auch Neurodermitis zählt – sowie um „Altershaut“. Auch Burkhard Kleuser arbeitet an Hautmodellen – aber an „immunkompetenten“. Bei Neurodermitis, Pollen- oder Nahrungsmittelallergien reagiert das Immunsystem über und entfacht zur Abwehr eine Entzündungsreaktion. Potenzielle Allergene werden bisher an den zarten Ohren von Meerschweinchen getestet. Kleuser will diesen Tierversuch durch einen in-vitro-Test ersetzen. 

Die Querschnitte durch Humanhaut ex vivo (links) und durch rekonstruierte Humanhaut (rechts) zeigen große Ähnlichkeiten und sind Ausgangspunkt für die Nutzung von rekonstruierter Humanhaut in der Erforschung von Hautkrankheiten.

Die Querschnitte durch Humanhaut ex vivo (links) und durch rekonstruierte Humanhaut (rechts) zeigen große Ähnlichkeiten und sind Ausgangspunkt für die Nutzung von rekonstruierter Humanhaut in der Erforschung von Hautkrankheiten.
Bildquelle: Christian Hausmann

Für seine Hautmodelle benötigt er sowohl Haut als auch Immunzellen vom selben Spender – also ein paar Haarfollikel und eine Blutprobe. Damit möchte er Hautkrankheiten wie Neurodermitis besser verstehen lernen. „Die Modelle können künftig aber auch helfen, bereits im Vorfeld einer Therapie in vitro herauszufinden, welches Arzneimittel für einen bestimmten Patienten optimal ist“, sagt Kleuser.

Noch einen Schritt weiter geht Roland Lauster, Professor am Institut für Biotechnologie der Technischen Universität Berlin. „Multi-Organ-Chip statt Maus“ ist sein Ziel. Auf Basis von Zellkulturen und kleinen Gewebeteilen aus Biopsien, die getrennt in winzigen Kammern kultiviert und über feine Kanäle miteinander verbunden und versorgt werden, entwickelt er „Miniaturorgane“. 28 Tage überleben sie bereits im Labor. Bis zu zehn Organe will sein Team auf einem Chip versammeln. Ein ganz kleiner „in vitro-Organismus“ also.

„R“ wie Reduction

Vieles lässt sich erstaunlich gut in silico testen. Computersimulationen werden bereits sehr erfolgreich in der Wirkstoffforschung und Risikobewertung von Chemikalien eingesetzt. Sie können Tierversuche zwar nicht völlig ersetzen – deren Anzahl aber deutlich reduzieren. Der Grundgedanke dahinter ist die Suche nach einem Analogieschluss: Haben die Moleküle ähnliche chemische Formeln, Atomgruppen oder 3D-Struktur? Zur Entwicklung seiner mathematischen Modelle setzt Marcus Weber vom Zuse-Institut Berlin umfangreiche Datensätze von Substanzen ein, die bereits einmal ausführlich getestet worden sind – chemisch, physikalisch und auch in Tierversuchen. Nicht nur neue Wirkstoffe, auch ihre möglichen Andockstellen im Gewebe lassen sich so simulieren. „Anhand bestimmter Proteinbausteine bekannter Rezeptoren können wir auf Struktur und Verhalten noch wenig erforschter Rezeptoren rückschließen“, sagt der Bioinformatiker.

In silico sind auch Axel Pries, Physiologe an der Charité, und Bioinformatikern Andrea Volkamer (ebenfalls Charité) „unterwegs“. Pries verwendet aufwendige Multiskalen-Simulationstechniken, um vorhersagen zu können, wie sich der Organismus von Patienten – speziell deren Gefäßsystem – bei mittel- und langfristiger Einnahme von Medikamenten anpasst.

Andrea Volkammer ist eine der drei Juniorprofessorinnen, die im Rahmen von BB3R berufen wurden. Sie speist das umfangreiche Wissen über Moleküle und deren Bindungsorte im Körper in Lernprogramme ein, die sie dann darin „trainiert“, Vorhersagen über die Toxizität noch unbekannter Stoffe zu machen. Über die Plattform knüpfte die junge Bioinformatikerin schon viele Kontakte. „Das Tolle an dem Forschungsverbund BB3R ist, dass man so viele starke Partner hat, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen! Für uns Bioinformatiker ist es ideal, die Anwendung quasi vor der Tür zu haben. Und für die Kolleginnen und Kollegen, die experimentelle Forschung betreiben, liefern unsere Vorhersagen frühzeitige, schnelle und kosteneffiziente Informationen, um Moleküle zu priorisieren.“

„R“ wie Refinement

Bei allem Engagement für Alternativmethoden: Auch Monika Schäfer-Korting weiß, dass die Forschung vorerst niemals völlig tierversuchsfrei sein wird. „Einen Arzneistoff-Kandidaten, der sich in Tests an rekonstruierten menschlichen Organen bewährt hat, am Tier zu testen, bevor wir ihn erstmals am Menschen anwenden, ist unerlässlich und gesetzlich vorgeschrieben. Aus humanethischen Gründen können wir darauf gar nicht verzichten.“

Das deutsche Tierschutzgesetz und die EU-Richtlinie 2010/63/EU zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere schreiben eindeutig fest, dass – wenn auf einen Tierversuch nicht verzichtet werden kann – die Belastung der kleinen Probanden so gering wie möglich gehalten werden muss. Schmerzen, Leiden, Ängste und dauerhafte Schäden müssen vermieden beziehungsweise auf ein Minimum reduziert werden. Der Einsatz von Schmerzmitteln gehört heute selbstverständlich zum Tierversuch. Ähnlich wie Menschen reagieren aber auch Nagetiere unterschiedlich auf das gleiche Medikament. Gilbert Schönfelder vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) forscht deshalb an einer individualisierten Schmerztherapie für Mäuse. „Wir untersuchen den Stoffwechsel gebräuchlicher Analgetika an verschiedenen Mäusestämmen, um künftig präzisere Empfehlungen für deren Dosierung im Tierversuch geben zu können“, erklärt Schönfelder.

Ob ein Tier sich wohlfühlt oder gestresst ist und unter Schmerzen leidet, kann man ihm – mit etwas Übung – ansehen. Christa Thöne-Reineke, Professorin für Tierschutz, Tierverhalten und Versuchstierkunde am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität und Tierschutzbeauftragte der Hochschule, entwickelt einen Mice Grimace Scale, mit dessen Hilfe sich die Mimik von Versuchsmäusen interpretieren lässt. „Zusammengekniffene Augen, zur Seite oder nach hinten gerichtete Ohren oder angelegte Tasthaare deuten beispielsweise darauf hin, dass es dem Tier nicht gut geht und es behandelt werden muss“, erläutert die Tierärztin.

Gemeinsam mit Monika Schäfer-Korting entwickelte Christa Thöne-Reineke aus BB3R heraus das Webinar 3R und Alternativmethoden zu Tierversuchen in Forschung und Lehre. Die zweistündige Ringvorlesung, die jeweils im Sommersemester wöchentlich an der Freien Universität stattfindet, richtet sich an BB3R-Doktoranden und interessierte Studierende biowissenschaftlicher Fachgebiete sowie angehende Pharmazeuten, Human- und Veterinärmediziner. Ethik und rechtliche Aspekte stehen hier neben anderen 3R-relevanten Themen im Vordergrund. Der Begriff Tierversuch ist heute weitgefasst: Neben den „klassischen“ Tierversuchen zählen mittlerweile auch viele praktische Übungen künftiger Tierärzte dazu. „Und auch wenn jeder Hundebesitzer seinem Liebling leider ungestraft alles in den Napf geben kann, was er möchte: Fütterungstests von Vierbeinern mit neuem Hundefutter sind auch Tierversuche“, fügt Christa Thöne- Reineke an. Exzellente Ausbildung in allen Belangen des Tierschutzes sei unverzichtbar. „Denn Wissen ist der beste Tierschutz“.