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Bereit für den Ernstfall?

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Katastrophenforschungsstelle an der Freien Universität Berlin untersuchen die gesellschaftlichen Ursachen von Katastrophen und das menschliche Verhalten in Krisensituationen – seit mehr als 30 Jahren

09.12.2017

Satellitenaufnahmen geben nur eine Ahnung von den  Dimensionen des Wirbelsturms: Sie zeigen einen weißen  Wirbel, der unentwegt um sich selbst kreist und  sich unaufhaltsam den Karibikinseln nähert, die das Pech  haben, auf seiner Zugbahn zu liegen – Barbuda, Haiti und  Kuba etwa –, bevor er Florida auf dem amerikanischen  Festland erreicht. 37 Stunden lang tobte sich Mitte September  der Hurrikan Irma mit einer Windgeschwindigkeit  von 295 Kilometern pro Stunde über den Inseln und  Küstenregionen aus. Damit hat er Geschichte geschrieben. Irma war der stärkste atlantische Hurrikan, der sich außerhalb  des Golfs von Mexiko und der Karibik gebildet hat, seit  Beginn der Aufzeichnungen des National Hurricane Centers  in Miami, Florida. Er hinterließ eine Spur der Verwüstung: zerstörte Häuser, abgedeckte Dächer, überschwemmte Straßen. Es gab Dutzende Verletzte, mindestens 70 Menschen starben. Die Strom- und Wasserversorgung vieler  Haushalte war tagelang unterbrochen. Für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine einzige Katastrophe.

Die weltweite Berichterstattung in den Medien und die Verbreitung in sozialen Netzwerken sorgen dafür, dass Katastrophen wie der Hurrikan Irma quasi in Echtzeit verfolgt werden können – was sich auch auf das Sicherheitsempfinden jedes Einzelnen auswi

Die weltweite Berichterstattung in den Medien und die Verbreitung in sozialen Netzwerken sorgen dafür, dass Katastrophen wie der Hurrikan Irma quasi in Echtzeit verfolgt werden können – was sich auch auf das Sicherheitsempfinden jedes Einzelnen auswi
Bildquelle: NASA

Extreme Wetterereignisse beherrschen immer wieder  die Nachrichten. Auch in Deutschland gab es im Sommer  dieses Jahres starke Regenfälle, die Straßen und  Keller unter Wasser setzten. Besonders schwere Schäden  verursachten die Elbe-Hochwasser von 2013 und  2002, die die Menschen in den betroffenen Regionen  wochenlang in Atem hielten.

„Für Soziologen wird ein Ereignis dann zur Katastrophe,  wenn es die Menschen innerlich grundlegend  erschüttert“, sagt Professor Martin Voss. Der Soziologe  leitet die Katastrophenforschungsstelle (KFS) am Fachbereich  Politik- und Sozialwissenschaften der Freien  Universität Berlin. Martin Voss und sein Team haben die  Nachwirkungen der Elbe-Hochwasser auf die Betroffenen  untersucht. „Wir fanden heraus, dass die Menschen  dort nach wie vor stark leiden“, sagt Martin Voss.„Sie sind wirklich traumatisiert. Und das nicht nur, weil sie  materielle Verluste erlitten haben, sondern weil diese Menschen in eine für sie schwierige soziale Lage geraten  sind.“

In einem aktuellen Forschungsprojekt vergleichen  die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Umgang mit dem Hochwasser und seinen Folgen hierzulande mit einer ähnlichen Situation im indischen  Mumbai. Ein weiteres Projekt hat zum Ziel, gemeinsam  mit dem Deutschen Wetterdienst (DWD), dem Institut  für Meteorologie der Freien Universität Berlin und weiteren Forschungspartnern ein verbessertes Warnsystem für Extremwetterereignisse zu entwickeln, durch  das die Bevölkerung sowie Hilfsorganisationen und  andere Einrichtungen frühzeitig gezielter über drohende Gefahren und konkrete Handlungsmöglichkeiten informiert werden können. Geplant sind auch neue internationale Kooperationen, um zum Beispiel zu erforschen, „wie die Lebensbedingungen in einer Krisenregion so stabilisiert und verbessert werden können, dass die Menschen dort ein würdevolles Leben führen  können und nicht gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen“,  sagt Martin Voss.

Für ihre Forschung arbeiten die Sozialwissenschaftlerinnen  und -wissenschaftler national und international  mit vielen verschiedenen Einrichtungen zusammen: von privaten Unternehmen bis zu Behörden, von  Bürgerinitiativen bis zu Hilfsorganisationen. „Unsere Arbeit ist umfassend“, sagt Martin Voss. „Wir entwickeln  sozialwissenschaftliche Theorien und betreiben Grundlagenforschung, beschäftigen uns aber auch mit  den konkreten Fragen unserer Partner aus der Praxis, etwa wie Hilfsorganisationen erfolgreich eine größere  Evakuierung durchführen und die Menschen mit ihren ganz unterschiedlichen Bedürfnissen optimal versorgt  werden können.“

Das größte Katastrophenszenario: Ein Atomkrieg

Die Forschungsstelle hat bereits viele Katastrophen  und Krisen aus wissenschaftlicher Sicht analysiert.  Ihr Vorreiter und Begründer war der Kieler Soziologe  Lars Clausen: 1972 wurde er in die Schutzkommission  des Bundesinnenministeriums berufen. Sein Auftrag:  „Lars Clausen sollte herausfinden, welchen Einfluss der  Mensch auf die Entstehung, den Ablauf und die Bewältigung  von Katastrophen hat, und wie man die Bevölkerung  auf einen Notfall – sprich Atomkrieg – vorbereiten  könne“, sagt Martin Voss. „Man wollte wissen, wie  die Menschen sich verhalten würden und was man tun müsse, um mit der Situation zurechtzukommen.“ Was aus heutiger Sicht ein wenig zynisch klingt, war vor 45 Jahren ein reales Szenario. „Lars Clausen entwickelte aus diesem Auftrag die theoretische Fragestellung: Was kann dazu führen, dass eine Gesellschaft überhaupt nicht mehr funktioniert? Das war der Beginn der soziologischen  Katastrophentheorie.“

Es folgten weitere Forschungsaufträge, darunter die  Aufarbeitung der Schneekatastrophe, die Norddeutschland  im Winter 1978/79 lahmlegte. Schließlich gründete  Lars Clausen 1987 die Katastrophenforschungsstelle  an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, zusammen mit seinem Assistenten und dem späteren Leiter  der KFS, Wolf Dombrowsky. Es war eine Zeit, in der schwere Krisen allgegenwärtig waren: „Das Jahr 1986  ist ein Meilenstein in der Katastrophenforschung, mit  dem Unglück des Challenger-Space-Shuttles und natürlich  mit Tschernobyl“, sagt Martin Voss. „Die Umweltbewegung war ein großes Thema, ebenso wie die atomare  Bedrohung. Dazu die Hungerkatastrophen in Afrika. Insgesamt war da ganz viel Bewegung in dem Thema.“

Martin Voss selbst promovierte bei Lars Clausen und  kam 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Katastrophenforschungsstelle. Seit 2011 ist er ihr Leiter. Drei  Jahre später wechselte die Forschungsstelle an die Freie  Universität Berlin, wo sie in diesem Jahr ihr 30-jähriges  Jubiläum feiert.

Die Wahrnehmung von Katastrophen habe sich im  Laufe der Zeit verändert, sagt Martin Voss: „Durch die  Globalisierung, die Berichterstattung in den Medien und  die sozialen Netzwerke sind wir bei einer Katastrophe  wie dem Hurrikan Irma quasi in Echtzeit dabei, obwohl wir eigentlich Tausende Kilometer weit entfernt und in  Sicherheit sind.“ Das habe Auswirkungen auf die Politik  und das Weltgeschehen, aber auch auf das Empfinden  jedes Einzelnen. „Das, was uns im Innersten verunsichert,  ist nicht mehr allein, dass Menschen ihr Dach über dem Kopf verloren haben“, sagt Martin Voss. „Es ist das  Gefühl, dass die Zukunft nicht mehr so sicher erscheint.“

Im Zentrum der Arbeiten steht die Ursachenbekämpfung  von Krisen und Katastrophen, von menschlichem Leid. Aber auch, wie sich Menschen angesichts andauernder  Unsicherheit verhalten. Welche Strategien könnten ihnen helfen? Genau das wollen Martin Voss und  seine 25 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der Katastrophenforschungsstelle mit ihrer Arbeit herausfinden. „Wir wollen aufzeigen, welche gesellschaftlichen  Prozesse Menschen in Not bringen, den Menschen aber  zugleich Werkzeuge an die Hand geben, um mit einer  Krisensituation besser klar zu kommen, sodass sie für  sie etwas von ihrem Schrecken verliert und die Rückkehr  zur Normalität erleichtert wird.“

Das Bewusstsein für mögliche Krisen spiele hier eine  wesentliche Rolle. Man müsse sich damit arrangieren, dass es weiterhin Katastrophen geben werde, sagt Martin Voss. „Alles was mit der Natur zu tun hat, haben wir eigentlich schon ganz gut im Griff.“ Schwieriger sei es seiner Meinung nach, dem Unbekannten entgegenzutreten. „Welche Arten von Katastrophen in Zukunft  auf uns zukommen werden, wissen wir natürlich nicht  genau. Aber wir müssen stärker darüber nachdenken, um auch auf das Unwahrscheinliche vorbereitet zu sein, den sogenannten ‚Schwarzen Schwan‘ – also sehr seltene  Ereignisse, die vielleicht nur alle 500 oder 1000 Jahre einmal auftreten. Es gibt eine ganze Reihe davon, etwa eine große Pandemie oder ein globaler Crash der Finanzmärkte.“

Die Katastrophe von Fukushima zeigt, dass in Zukunft Ereignisse zunehmen werden, die ganz offensichtlich auf gesellschaftliche oder politische Entscheidungen zurückzuführen sind.

Die Katastrophe von Fukushima zeigt, dass in Zukunft Ereignisse zunehmen werden, die ganz offensichtlich auf gesellschaftliche oder politische Entscheidungen zurückzuführen sind.
Bildquelle: dpa/picturealliance

Die Katastrophe von Fukushima lasse erahnen, dass wir zukünftig immer stärker mit Ereignissen konfrontiert würden, die ganz offensichtlich auf gesellschaftliche oder politische Entscheidungen zurückgeführt werden können.  Ebenso unberechenbar sei, wie sich das menschliche  Miteinander in einer Krise entwickelt. „Wir können uns  nicht darauf verlassen, dass andere sich dann so verhalten, wie wir es gewöhnt sind“, sagt Martin Voss, „wobei  aber bisherige Ereignisse gezeigt haben, dass Menschen in der Krise und der Katastrophe zusammenrücken und  sich gegenseitig unterstützen.“ Auch hier lässt sich etwas tun: Die Bevölkerung sollte  sich nicht nur materiell auf den Ernstfall vorbereiten, zum Beispiel durch das Anlegen von Essens- und  Trinkvorräten, sagt der Wissenschaftler: „Mindestens genauso wichtig sind unsere sozialen Kontakte. Denn im Notfall ist es immer besser, Teil einer solidarischen  Gemeinschaft zu sein.“ Das hat sich auch beim Hurrikan Irma gezeigt. Ohne Nachbarschaftshilfe wäre die Zahl der Opfer vermutlich deutlich höher ausgefallen.      

Der Wissenschaftler

Martin Voss befasst sich wissenschaftlich mit Katastrophen

Martin Voss befasst sich wissenschaftlich mit Katastrophen

Martin Voss ist Professor für Sozialwissenschaftliche  Katastrophenforschung an der Freien Universität.  Seit 2011 leitet er die Katastrophenforschungsstelle  (KFS) am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften.  In seiner Forschung beschäftigt er sich  neben der Katastrophenforschung unter anderem  mit verschiedenen Formen von Konflikten und Konfliktbewältigung,  mit Sicherheitsfragen, mit den Folgen des Klimawandels  sowie Konzepten zur nachhaltigen Entwicklung.

Kontakt

Freie Universität Berlin
Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften
Katastrophenforschungsstelle (KFS)
E-Mail: martin.voss@fu-berlin.de