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Für eine andere Hochschule, für eine andere Welt

Christian Wilmsen gestaltet als AStA-Außenreferent die Auslandsbeziehungen der noch jungen Freien Universität.

03.12.2018

Christian Wilmsen

Christian Wilmsen
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Schon als Student bereist Christian Wilmsen viele Teile der Welt – ein gutes Rüstzeug für seine spätere Karriere beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Von 1963 bis 1964 war er Außenreferent des AStA der Freien Universität Berlin und anschließend für drei Jahre Mitglied und zuletzt Vorsitzender des Internationalen Ausschusses des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS), der damaligen nationalen Studentenvereinigung. Als Studierendenvertreter bereiste er viele Länder und erlebte, wie aus Universitätspolitik Weltpolitik wurde.

An einem Morgen im Jahr 1963 will der West-Berliner Jura-Student Christian Wilmsen mit seinem Auto nach Ost-Berlin fahren. Wilmsen ist 23 Jahre alt und Außenreferent des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) der Freien Universität Berlin. Wilmsen stammt aus Hessen, hat also einen westdeutschen Personalausweis und kann so, anders als seine Kommilitonen mit West-Berliner Ausweis, unkompliziert in den Ostteil der Stadt einreisen. Außerdem verdient er als Schlagzeuger einer Dixieland-Band gutes Geld und hat ein eigenes Auto. Im Kofferraum seines Wagens liegt an diesem Tag, unter einer Decke versteckt, ein Stahlseil. An ihm sollen sich in der Nacht Menschen zwischen zwei Häuserreihen über die Berliner Mauer hinweg hangeln.

Anders als sonst lassen die Grenzbeamten der DDR Christian Wilmsen an diesem Tag nicht passieren. Sie ziehen ihn heraus, inspizieren den Wagen – und bitten den jungen Mann freundlich aber bestimmt zur Befragung. Den ganzen Tag lang halten sie ihn fest. Erst spät am Abend zieht einer der Beamten einen Packen Heftchen hervor. „Wolln‘Se die hier verteilen?“

Es ist das Programm der Internationalen Woche des AStA, das im Handschuhfach lag. Auf Einladung der Studierenden der Freien Universität sprechen dort Studierendenvertreter aus der ganzen Welt miteinander – besonders stolz ist Wilmsen, dass sich eine Delegation aus Ghana angekündigt hat. Als Wilmsen das Programmheft sieht, ist er extrem erleichtert. Die Beamten stießen ganz offensichtlich nicht auf das Stahlseil. Sie störte vermutlich der Gedanke, das Heftchen könnte in die Hand von Studierenden aus Entwicklungsländern fallen, die in Ost-Berlin leben. Wilmsen kann noch am Abend – wenn auch unverrichteter Dinge – wieder nach Hause fahren.

Die Dokumente aus seiner Zeit an der Freien Universität hat Christian Wilmsen feinsäuberlich archiviert. Zwischen Gründerzeitmöbeln sitzt der heute 78-Jährige am Esszimmertisch seiner Charlottenburger Wohnung und breitet ein Stück deutscher Zeitgeschichte aus. Vom Sommersemester 1963 bis zum Wintersemester 1963/64 gestaltete Wilmsen als AStA-Außenreferent die Auslandsbeziehungen der noch jungen Universität in West-Berlin mit. Die politische Intensität, mit der er dieses Amt bekleidete, ist heute kaum mehr vorstellbar.

„Die Universitätspolitik war damals untrennbar mit Internationalem verknüpft“, sagt Wilmsen. „Die Studentenbewegung der 1960er Jahre begann mit dem Ruf nach mehr universitärer Mitbestimmung. Doch es entwickelten sich auch Forderungen nach einem Ende kolonialer Unterdrückung, nach einer klaren Haltung gegen Menschenrechtsverletzungen und einer gleichzeitigen Aussöhnung mit dem Osten.“

Als Studierendenvertreter bereist Christian Wilmsen viele Teile der Welt, vor allem den afrikanischen Kontinent. Er führt Gespräche mit Studierendenvertretern in Kenia, Sambia und Kongo. In Rhodesien, dem heutigen Simbabwe, trifft er vor Ausbruch des Befreiungskrieges gegen die weiße Minderheitsregierung wichtige Personen des antikolonialen Widerstands.

Auch im Ostblock knüpft Wilmsen Beziehungen, er nimmt an einer Studierendenkonferenz in Jugoslawien teil und führt eine rumänische Delegation durch Deutschland, darunter den späteren Außenminister Rumäniens, Stefan Andrei. Dabei ist er sich nie sicher, ob es sich bei den Teilnehmern wirklich um Studenten oder um Geheimdienstmitarbeiter handelt.

Als junger Jura-Student stört sich Christian Wilmsen am autoritären Geist seiner Fakultät, an der angestaubten Didaktik und der juristischen Dogmatik. „Wir forderten eine sozialwissenschaftliche Einrahmung des Jura-Studiums“, sagt Wilmsen. „Uns interessierte: Warum wird jemand kriminell? Wie hängt Kriminalität mit Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Gesellschaft zusammen?“ So gerät Wilmsen in einen Kulturkampf zwischen Vertretern der alten Ordinarienuniversität und jungen Reformern.

Im Jahr 1963 verhindert eine Urabstimmung unter den Studierenden der Freien Universität, dass mit Eberhard Diepgen, dem späteren Regierenden Bürgermeister von Berlin, ein Mitglied einer schlagenden Verbindung den AStA-Vorsitz übernimmt. Als sich wenig später die Universitätsleitung weigert, die Wahl eines farbigen Studenten zum Zulassungsreferenten der medizinischen Fakultät anzuerkennen, tritt der AStA geschlossen zurück und zwingt den Rektor zum Einlenken.

„Die studentische Mitbestimmung an der Freien Universität war besonders“, sagt Wilmsen. „Und das lag an der Gründungsgeschichte der Universität.“ Die Freie Universität war 1948 auf Initiative von Studierenden gegründet worden, die an der damaligen Berliner Universität im Ostteil der Stadt von der sowjetischen Besatzungsmacht drangsaliert wurden. „Wir Studierenden hatten an der Freien Universität mehr Rechte“, sagt Wilmsen, „aber auch eine besondere Verantwortung und Belastung. Die Arbeit im AStA war dort ein echter Vollzeitjob.“

Das AStA-Außenreferat war damals mit einer Sekretärin in Vollzeit und halbtags zusätzlich mit einer studentischen Hilfskraft ausgestattet. Für ein Honorar von rund 300 D-Mark im Monat hatten alle AStA-Mitglieder nicht nur repräsentative Aufgaben zu erfüllen, sondern auch zahlreiche Verwaltungstätigkeiten zu erledigen, die an einer international vernetzten Universität anfallen. Das AStA-Außenreferat hatte täglich Sprechstunde.

Die politischen Erfahrungen, insbesondere auf seinen Afrika-Reisen, prägen den jungen Studenten derart, dass er seinen Wunsch aufgibt, einen der klassischen juristischen Berufe zu ergreifen. Obwohl ihm seine Prüfer nahelegen, sich nach dem Staatsexamen auf ein Richteramt in Berlin zu bewerben, geht Christian Wilmsen in die Entwicklungszusammenarbeit. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2005 arbeitet er fast sein ganzes Leben in den Diensten des heutigen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Daneben engagiert er sich in der SPD und übt zahlreiche Ehrenämter aus – dafür erhält er im Jahr 2013 das Bundesverdienstkreuz am Bande.

Sein Studium hat Christian Wilmsen nicht an der Freien Universität abgeschlossen. Nach dem Wintersemester

1964/65 wechselt er an die beschauliche Universität des Saarlandes – er fürchtet, in dem damaligen studentenpolitischen Trubel an der Freien Universität keinen Abschluss machen zu können. „Viele AStA-Mitglieder sind sehr schnell von der Politik in Beschlag genommen worden“, sagt Wilmsen. „Ich wollte nicht wie sie ohne Abschluss direkt in einem Landesparlament oder im Bundestag landen.“ Die Umstellung fällt Wilmsen damals nicht leicht.

Bis heute erinnert er sich an den ersten Besuch in der Saarbrücker Mensa. „Ich war richtig erschrocken, dass die Leute dort Karten gespielt haben“, sagt er. „In all den Jahren an der Freien Universität hatte ich so etwas nie gesehen – zum Kartenspielen hatten wir einfach keine Zeit.“