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Ein Student für die Freiheit

Fritz Flatow war Mathematik-Student an der Freien Universität Berlin. Wegen angeblicher Spionagetätigkeit, Bandenbildung und Waffenbesitzes wurde er verhaftet, zum Tode verurteilt und hingerichtet

02.12.2018

Fritz Flatow, Student der Freien Universität, wurde nur 21 Jahre alt.

Fritz Flatow, Student der Freien Universität, wurde nur 21 Jahre alt.
Bildquelle: Universitätsarchiv der Freien Universität Berlin

Zwischen 1951 und 1953 werden elf Studenten der Freien Universität und der Deutschen Hochschule für Politik von Sowjetischen Militärtribunalen zum Tode verurteilt und nach Moskau verschleppt. Einer von ihnen ist Fritz Flatow, Mathematikstudent an der Freien Universität. Er wird am 20. März 1952 hingerichtet.

Fritz Flatows Leben endet am 20. März 1952 nach nur 21 Jahren, vier Monaten und drei Tagen in einem Keller im Nordosten der Moskauer Innenstadt, nahe des Weißrussischen Bahnhofs. Hier ragt hinter einer grauen Betonwand und Stacheldraht der rote Ziegelturm einer alten Festung hervor. Zar Peter der Große inhaftierte dort schon im 17. Jahrhundert Aufständische, und auch seine Nachfolger nutzten später den zum Butyrka-Gefängnis erweiterten Bau, um Aufständische und politische Gegner gefangen zu setzen.

Fritz Flatow ist Mathematik-Student an der Freien Universität Berlin. Mit einem Genickschuss wird er von den Sowjets hingerichtet. Unschuldig, wie eine Kommission russischer Juristen gut 40 Jahre später amtlich feststellen wird.

Er ist einer von zwölf Studenten der Freien Universität und der Deutschen Hochschule für Politik – später als Otto-Suhr-Institut ebenfalls Teil der Freien Universität –, die zwischen 1951 und 1953 dem sowjetischen Terror unter Stalin zum Opfer fallen. Sie werden von Sowjetischen Militärtribunalen in der DDR wegen angeblicher Spionagetätigkeit, Bandenbildung oder Waffenbesitzes zum Tode verurteilt und nach Moskau verschleppt. Das Schicksal der Studenten hat der Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität unter Leitung des Historikers Jochen Staadt in Zusammenarbeit mit dem Historischen Forschungsinstitut Facts & Files (Berlin) und der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte Memorial (Moskau) aufgearbeitet.

In der Schule leidet Flatow unter seinen nationalsozialistisch gesinnten Mitschülern

Fritz Flatow wird am 17. November 1930 als Sohn eines jüdischen Arztes und einer aus Bulgarien stammenden Ärztin in Berlin geboren. In der Schule leidet er unter seinen Mitschülern, die geprägt sind von der nationalsozialistischen Ideologie. Der Vater stirbt 1937, Fritz Flatow muss die Oberschule in Berlin-Wilmersdorf 1942 verlassen und zieht ausgerechnet in den Kreis Braunau am Inn, Adolf Hitlers Heimat, wo Flatows Familie bis 1946 unbehelligt bei Verwandten lebt. Nach dem Krieg ziehen sie nach Sonthofen im Allgäu.

Im Jahr 1949 kehrt Fritz Flatow nach Berlin zurück, um sein Abitur abzulegen. Er beginnt an der Freien Universität ein Studium der Mathematik und knüpft dort rasch Kontakt zur „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU), die von West-Berlin aus den Widerstand gegen die SED-Diktatur unterstützt und einen Suchdienst für in der Sowjetischen Besatzungszone Verschleppte organisiert. „Die Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit wurde 1948 von dem NS-Widerstandskämpfer Rainer Hildebrandt, dem Schriftsteller Günther Birkenfeld, dem damaligen Vorsitzenden der Jungen Union und späteren Bundesverfassungsgerichtspräsidenten Ernst Benda sowie dem FDP-Stadtverordneten Herbert Geisler gegründet“, sagt Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staatder Freien Universität Berlin. „Die Mitglieder verteilten Flugblätter in den Berliner S-Bahn-Zügen, agitierten gegen kleine Funktionäre in Ost-Berlin und sammelten Informationen über Stasi-Mitarbeiter, sowjetische Fahrzeuge und den Aufbau von militärischen Einheiten bei der Volkspolizei, um diese im Westen zu veröffentlichen.“

Finanziert wird die KgU zunächst vom Berliner Senat und vom Ministerium für gesamtdeutsche Fragen; die Ford Foundation gibt ebenso Gelder wie Caritas und Rotes Kreuz, möglicherweise unterstützt den Verein auch das amerikanische Spionageabwehrcorps CIC, das sich, auch unter dem Eindruck der seit fast vier Monaten andauernden Berlin-Blockade, eine Destabilisierung der jungen DDR verspricht und auf diese Weise das SED-Regime zum Wanken bringen möchte.

In Berlin, der Frontstadt des Kalten Krieges, haben sich insgesamt rund 50 Vereine und Gruppen gebildet, die die Westalliierten in ihrem Kampf gegen den sozialistischen Staat im Osten unterstützen. Umgarnt werden sie von den Agenten der 80 Geheimdienste, die in Berlin auf beiden Seiten Informationen sammeln. Besonders die sogenannten Ostbüros der westdeutschen Parteien gelten als Speerspitze der antikommunistischen Bewegung in West-Berlin.

Im Berliner Osten hält die Staatssicherheit mit Festnahmen, Entführungen und Propaganda dagegen. Gezielt versucht man, die Gruppen und Vereine im Westen als terroristische Organisationen zu diskreditieren. Mit Erfolg: Die Wochenmagazine Spiegel und Stern werfen den Widerstandsgruppen den politischen Missbrauch von Jugendlichen vor. Henri Nannen mahnt im Stern, sich nicht von den Amerikanern missbrauchen zu lassen. Die Freie Universität gilt beim Ministerium für Staatssicherheit ebenso als Agentenschule wie die Hochschule für Politik. Behördenchef Erich Mielke hält die Prüfungskommissionen der beiden Hochschulen für reaktionär und der DDR gegenüber feindlich gesinnt. Gezielt werden Informationen über Studentinnen und Studenten der Freien Universität gesammelt, die in der Sowjetischen Besatzungszone wohnen, einige von ihnen werden verschleppt und verurteilt.

Bitte meiden Sie nach Möglichkeit das Gebiet der Sowjetzone

Ein Professor der Hochschule für Politik warnt deshalb 1951 seine Studierenden schriftlich: „Wir bitten, insbesondere sämtliche Studenten der Hochschule für Politik, die aus der Sowjetzone dorthin gekommen sind, immer wieder mit allem Nachdruck darauf hinzuweisen, dass sie das Gebiet der Sowjetunion und des Sowjetsektors nach Möglichkeit zu meiden haben und es ausschließlich auf eigene Gefahr hin wieder betreten.“

Jochen Staadt hat festgestellt, dass gerade in den ersten Jahren des Bestehens der Freien Universität die Verantwortlichen häufig Parallelen zwischen dem Unrechtsstaat der Nationalsozialisten und dem Terror der Sowjets zogen: „Am 20. Juli 1951 etwa fand eine Gedenkveranstaltung statt für Professoren und Studenten, die dem nationalsozialistischen oder sowjetischen Terror zum Opfer fielen.“ Es sprachen neben dem Rektor der Freien Universität Freiherr von Kress auch Herbert Wehner, damals Vorsitzender des Gesamtdeutschen Ausschusses im Bundestag, der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter und schließlich Inge Scholl, die ältere Schwester von Hans und Sophie Scholl. „Die studentische Widerstandsgruppe der Weißen Rose und die Offiziere um Claus Schenk Graf von Stauffenberg wurden also in direkte Verbindung gesetzt mit dem Kampf gegen die Sowjetische Besatzungsmacht und ihre Verbündeten in der SED“, sagt Staadt.

Fritz Flatow fährt gut einen Monat später, am 21. August 1951, in den Semesterferien mit dem Zug von West-Berlin nach Dresden und gerät in eine Ausweiskontrolle. Verdächtig macht ihn, dass er den Polizisten entgehen will, indem er zur Toilette eilt. Die Kontrolleure durchsuchen ihn und finden laut der überlieferten Akten: „Eine aufgerissene Zigarettenschachtel (leer) mit einer Meißener Adresse. Eine weitere leere Zigarettenschachtel mit der Eintragung zweier sowjetischer Fahrzeugnummern. Eine Tüte mit der Notiz einer weiteren sowjetischen Fahrzeugnummer. Eine Kinokarte, auf der Rückseite mit Beschriftung undefinierbar. In einer Streichholzschachtel unter den Streichhölzern drei Blatt Zigarettenpapier zerknüllt mit einer kleinen Beschriftung auf beiden Seiten. Diese Aufzeichnungen lassen auf Ermittlungstätigkeit schließen. Ein Zettel einer Handelsorganisation mit einer Westberliner Adresse, wo gleichfalls besondere Zeichen extra vermerkt sind. In der Außenseitentasche des Anzuges befand sich ein Weltbund- und ein SED-Abzeichen.“

Der Student wird in Dresden inhaftiert und wegen Spionage vor ein sowjetisches Militärtribunal gestellt. Fritz Flatow wird dort am Heiligabend, dem 24. Dezember 1951, zum Tode durch Erschießen verurteilt. Nach dem Prozess wird der Verurteilte ins Gefängnis Berlin- Lichtenberg gebracht und anschließend vom sowjetischen Geheimdienst in getarnten Eisenbahnwaggons nach Moskau verschleppt. Er darf noch ein Gnadengesuch einreichen, über das das Präsidium des Obersten Sowjets innerhalb von 96 Tagen entscheidet. In neun von zehn Fällen werden solche Gnadengesuche abgelehnt – auch bei Fritz Flatow.

Die Skulptur „Perspektiven“ erinnert an das Schicksal der in Moskau ermordeten Studenten Günter Beggerow, Fritz Flatow, Günter Malkowski, Kurt Neuhaus, Ägidius Niemz, Friedrich Prautsch, Peter Püschel, Werner Schneider, Wolf Utecht, Karlheinz  Wille.

Die Skulptur „Perspektiven“ erinnert an das Schicksal der in Moskau ermordeten Studenten Günter Beggerow, Fritz Flatow, Günter Malkowski, Kurt Neuhaus, Ägidius Niemz, Friedrich Prautsch, Peter Püschel, Werner Schneider, Wolf Utecht, Karlheinz Wille.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Am 20. März 1952 erschießen ihn Stalins Schergen gemeinsam mit seinen beiden Kommilitonen Ägidius Niemz und Friedrich Prautsch im Keller des Gefängnisses Butyrka. Bis zu 30 Verurteilte werden damals in jeder Nacht durch Genickschüsse hingerichtet. Der sowjetische Geheimdienst lässt die Toten im einzigen Krematorium der Stadt auf dem Friedhof Donskoje einäschern und die sterblichen Überreste in Massengräbern verscharren.

„Von den Hinrichtungen wusste zur damaligen Zeit kaum jemand etwas“, sagt Historiker Staadt: „Zwar haben sich Juristen, Angehörige und Opferverbände bemüht, das Schicksal der Verschollenen aufzuklären, aber die Hinrichtungen blieben lange geheim, denn Teil der Politik der Kommunistischen Partei und des Ministeriums für Sicherheit der Sowjetunion war es, die Identität der Toten auszulöschen.“

Doch dies gelingt zumindest an der Freien Universität nicht: „Vergesst sie nicht!“ – unter dieser Überschrift erscheinen in der Studentenzeitschrift West-Berlins, dem Colloquium, jeden Monat Namenslisten von Studenten, die in der DDR aus politischen Gründen inhaftiert sind. „Oft wusste man nur vom Hörensagen über ihre Verhaftung und über die Gründe für die Festnahmen“, sagt Staadt.

An der Freien Universität Berlin arbeitet seit 1950 das „Amt für gesamtdeutsche Studentenfragen des Verbandes Deutscher Studentenschaften“ (VDS) mit Sitz im Bachstelzenweg 29/30 und seit 1954 im Kiebitzweg 3 a. Seine Mitarbeiter bemühen sich um die Aufklärung von Einzelschicksalen vermisster Kommilitonen und versuchen, Rechtshilfe zu organisieren.

Die studentische Einrichtung steht bis 1958 unter der Leitung von Dietrich Spangenberg, der später unter Willy Brandt die Berliner Senatskanzlei leitet und unter Gustav Heinemann ab 1969 das Bundespräsidialamt. Oft kann der VDS nur Todesnachrichten an die Angehörigen und Freunde übermitteln: Mindestens 960 Deutsche fallen zwischen 1950 und 1953 dem stalinistischen Terror zum Opfer – 39 von ihnen stammen aus dem Bundesgebiet und 112 aus West-Berlin.

Als Mauer und Eiserner Vorhang fallen, kommen deutsche und sowjetische Akten ans Licht, die das Schicksal Fritz Flatows und anderer Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft eindrücklich in Erinnerung rufen. Das russische Gesetz zur Rehabilitation vom 19. Oktober 1991 gibt Opferorganisationen, Freunden sowie Verwandten ein Instrument an die Hand, um die Prüfung der Urteile von Militärtribunalen zu beantragen.

Fritz Flatow wird am 20. März 1998 rehabilitiert. Seit gut zehn Jahren erinnert auch eine Skulptur an das Schicksal der in Moskau ermordeten Studenten: an Günter Beggerow, Fritz Flatow, Günter Malkowski, Kurt Helmar Neuhaus, Ägidius Niemz, Friedrich Prautsch, Peter Püschel, Karlheinz Wille, Werner Schneider und Wolf Utecht.

Die Skulptur „Perspektiven“ des Berliner Künstlers Volker Bartsch mahnt gegenüber dem Henry- Ford-Bau auf dem Campus der Freien Universität zur gesellschaftlichen Verantwortung, damit nie mehr auf deutschem Boden ein Staat Unrecht gegen die Freiheit der Wissenschaft und die Freiheit der Meinung und des Wortes verüben kann.


 

Der Wissenschaftler

Jochen Staadt, Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat.

Jochen Staadt, Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Dr. Jochen Staadt

Jochen Staadt ist Projektleiter im Forschungsverbund SED-Staat und forscht vor allem zur Einflussnahme von SED und Ministerium für Staatssicherheit auf Berliner Wissenschaftseinrichtungen, zu den Beziehungen beider deutscher Staaten seit 1949, zu den Todesopfern des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze, sowie zu den an den Grenzen des Eisernen Vorhangs ums Leben gekommenen DDR-Bürgern.

Kontakt

Freie Universität Berlin

Forschungsverbund SED-Staat

E-Mail: j.staadt@fu-berlin.de