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Ein Amerikaner in Haus 16

Richard Mann wollte nur für ein bis zwei Semester an der Freien Universität studieren. In Berlin geblieben ist er wegen 1968.

03.12.2018

Dutschke, Springer, Vietnam: Richard Mann begann sein Studium an der Freien Universität 1968 in politisch bewegten Zeiten. In seiner Autobiografie „Living Through Turbulent Times“ erzählt er 50 Jahre später, wie die „Bild“-Lieferwagen brannten, wie er seine Frau in der Gemeinschaftsküche kennenlernte – und was in seiner Stasi-Akte stand.

Richard Mann vor Haus 16 im Studentendorf Schlachtensee.

Richard Mann vor Haus 16 im Studentendorf Schlachtensee.
Bildquelle: privat

Er sei wegen 1968 in Berlin geblieben, sagt Richard Mann. Eigentlich wollte er an der Freien Universität nur zwei Semester Politikwissenschaft bei Richard Löwenthal studieren, sein Deutsch verbessern und dann zurück nach Florida gehen. Doch schon die ersten Tage in Berlin prägten seine Erinnerungen. „Ich war kaum gelandet, da erfuhr ich, dass Martin Luther King erschossen worden war“, erzählt Mann.

Eine Woche später, am 11. April 1968, schoss ein Rechtsradikaler auf dem Ku’damm Rudi Dutschke in den Kopf. Am selben Abend fand sich Richard Mann vor dem Springer-Hochhaus wieder. Horst Mahler warf Steine, die Polizei rückte an. „Und plötzlich machte es hinter uns ,Woomp, Woomp‘, als die Lieferwagen für die Bild-Zeitung in Flammen aufgingen“, erzählt Mann.

Ein Freund zog ihn weg: „Komm, das wird zu heiß hier.“ Die Szene gehört zu den ersten, die Richard Mann in „Living Through Turbulent Times“ schildert, dem zweiten Band seiner Autobiografie. Er erzählt darin von seiner Zeit als Student an der Freien Universität zwischen 1968 und 1973 – und turbulent blieben die Zeiten auch nach jenen Tagen im April.

Das Private war politisch, das Politische ließ sich vom Privaten nicht trennen. In Florida hatte Mann als Mitglied der „Young Democrats“ noch für Lyndon B. Johnson Wahlplakate geklebt und den Vietnamkrieg anfangs für „unangenehm, aber notwendig“ gehalten. „Ich war kein Pazifist“, sagt er.

Doch als er nach Berlin kam, hatte er sich schon zum Kritiker des Krieges gewandelt – und sah sich hier prompt dem Antiamerikanismus ausgesetzt, der in Teilen der Studentenbewegung verbreitet war. „USA, SA, SS“ las er auf Demo-Plakaten. „Auf Partys konnte ich kaum meine Jacke ausziehen und mein erstes Bier öffnen, da fragte mich schon der erste: Was macht ihr in Vietnam, was macht ihr mit den Schwarzen?“ Dieselben Leute sangen dann am selben Abend die Lieder von Joan Baez und Bob Dylan.

Unterdessen emanzipierten sich die Bewohner des Studentendorfs Schlachtensee von der vorgeschriebenen Geschlechtertrennung, indem sie sie eigenmächtig aufhoben. Und so begegnete Richard Mann seiner späteren Frau Bärbel zum ersten Mal 1969 in der Gemeinschaftsküche von Haus 16. Geheiratet haben sie erst ein Jahrzehnt später, denn kurz nach jenem ersten Treffen verloren sie sich wieder aus den Augen: Richard Mann musste einen Ferienjob bei der „Chemischen Fabrik Tempelhof “ übernehmen, um sein Studium zu finanzieren, Bärbel lernte einen „VW-Mitarbeiter“ aus Westdeutschland kennen.

1970 organisierte er eine Versammlung, „meine einzige Demo“: Vor dem US-Konsulat in der Clayallee protestierten ein paar Dutzend Menschen gegen das „Kent-State-Massaker“ in Ohio. An der Kent State University hatte die US-Nationalgarde vier Studierende erschossen, die gegen den US-amerikanischen Einmarsch in Kambodscha unter Präsident Richard Nixon demonstrierten. Ungefähr zur selben Zeit wurde in Dahlem die RAF „geboren“: Ulrike Meinhof und andere „befreiten“ den inhaftierten Andreas Baader bei einem Besuch im Lesesaal des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen in der Miquelstraße.

 „Wildgewordene spießbürgerliche Kinder“, schimpft Mann, wenn die Rede auf die radikalste Strömung der einstigen Studentenbewegung kommt. „Gewalt gegenüber war ich immer sehr kritisch.“ Mann war ein Fan Willy Brandts und seiner Ostpolitik. „Gleichzeitig lehnte ich den Sozialismus im Osten ab und bezweifelte, dass ein demokratischer Sozialismus erreichbar wäre“, sagt er. Seine eigene politische Sozialisation und Weltanschauung schärfte er, indem er zu den Brennpunkten jener turbulenten Zeiten reiste: nach Tel Aviv und Belfast, nach Moskau und Prag.

1971 wurde er zum Fluchthelfer: Im Studentendorf Schlachtensee hatte er sich mit einem kauzigen Kommilitonen angefreundet, der aus Thüringen entkommen war. „Eines Tages fragte er mich, ob ich ihm helfen könne“, erzählt Richard Mann. „Ein Bekannter, der Fluchten organisierte, war ausgefallen, und sie brauchten einen Fahrer.“

Mann fand das aufregend, er sagte zu. Sie flogen nach Nürnberg, fuhren weiter mit einem präparierten Cadillac nach Wien und von dort über die tschechoslowakische Grenze. Nach zwei Kilometern bogen sie von der Hauptstraße ab, trafen im Wald den jungen Mann, den sie schmuggeln sollten, und versteckten ihn in einem Hohlraum hinter dem Radio des Wagens.

Er musste sich biegen wie ein U“, erzählt Mann. Die Flucht gelang. Nach der Wende fand Mann Fotos des Cadillacs in seiner „deftigen“ Stasi-Akte. „Die haben uns gejagt.“ Seine Autobiografie endet 1973. Im Jahr davor schloss er am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität seine Diplomarbeit ab, in der er, vereinfacht gesagt, die sowjetische und die chinesische Wirtschaftspolitik verglich.

„Es war natürlich viel komplizierter“, sagt er und muss lachen. Nach dem Diplom verließ er Deutschland – vorerst. Er lebte zwei Jahre in Taiwan – noch so ein Schauplatz des Ost-West-Konflikts – und arbeitete anschließend in einem Gefängnis in Florida als Lehrer. 1977, im Jahr des sogenannten Deutschen Herbstes in Deutschland, kehrte Richard Mann nach Berlin zurück, doch für ihn persönlich brachen nun weniger turbulente Zeiten an: Er begann ein Tourismus-Aufbaustudium an der Freien Universität, trat in die SPD ein, traf Bärbel wieder und begegnete in der U-Bahn zum ersten und einzigen Mal Rudi Dutschke. „Er war mit seinem Sohn unterwegs, und ich wollte ihn erst ansprechen, aber dann dachte ich: wozu?“

Er war kein Gegner Dutschkes, aber Dutschke war ihm immer zu theoretisch gewesen, „man könnte sagen: typisch deutsch“, sagt er. Schließlich war er selbst schon ziemlich eingedeutscht, las Christa Wolf, Walter Kempowski und den „Spiegel“ und hörte im Sender Freies Berlin alte Schlager, „weil die Texte so gut waren“.

Die Manns wurden Eltern, Bärbel arbeitete als Französischlehrerin, Richard beim Informationszentrum Berlin (IZB), das für subventionierte Berlin-Reisen aus der Bundesrepublik und dem Ausland obligatorische Stadtrundfahrten und Vorträge organisierte. Später leitete er ein Studienprogramm für US-Studierende, in dem auch akademische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Freien Universität unterrichteten. Später übernahm er Übersetzungsprojekte beim Wissenschaftszentrum Berlin.

Mittlerweile sind beide, Bärbel wie Richard Mann, im Ruhestand, die Kinder sind erwachsen, einer der Söhne hat wiederum an der Freien Universität studiert. Zuletzt wurde es wieder etwas turbulenter: Als 2015 Flüchtlinge in großer Zahl in Berlin ankamen, unterrichteten die Manns ehrenamtlich Deutsch in zwei Sammelunterkünften am Großen Wannsee. Besonders kümmerten sie sich um vier syrische Brüder, gingen mit ihnen zur Studienberatung, ins Museum und zum Ruderclub.

Zweieinhalb Jahre später, 2018, durften die Eltern der Geschwister nachkommen. „Wir werden sie bald kennenlernen, sie haben uns zum Essen eingeladen“, erzählt Richard Mann. Und dann sagt der Optimist Mann den Satz, der ebenso gut seine Biografie beschreiben könnte: „Ende gut, alles gut.“