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Ein Spaziergang durch die Zeit

Der Zeitgeist von 70 Jahren spiegelt sich in den Gebäuden der Freien Universität. Ein Rundgang zu einigen Highlights auf dem Campus mit dem Architekturhistoriker Christian Freigang

03.12.2018

Eingang der Philologischen Bibliothek

Eingang der Philologischen Bibliothek
Bildquelle: Michael Fahrig

„Früher herrschten in den Seminarräumen und Büros schon mal 50 Grad. Und wenn man ein Fenster öffnete, wehte einem ein Schwall heißer Luft direkt ins Gesicht.“ Christian Freigang, Professor für Architekturgeschichte an der Freien Universität, tritt einen Schritt zurück. Heraus aus einem Sonnenstrahl, der durch die Fenster der Rostlaube fällt, hinein in den Schatten. Heute ist die Rostlaube zwar wesentlich besser isoliert – das Gebäude wurde zwischen 1999 und 2007 saniert –, aber der Tag unseres Rundgangs über den Campus ist einer der heißesten in einem ohnehin heißen Sommer. Viele Studierende haben sich zum Arbeiten in die schattigen Innenhöfe zurückgezogen, ein Grüppchen baut Bierbänke und Tische für ein kleines Sommerfest auf, eine Frau füllt in der Toilette neben den Hörsälen den Wassernapf für ihren Hund.

In diesem Moment funktioniert die Vision der Architekten von einem schwellenlosen, hierarchiefreien Gebäude anscheinend perfekt. Georges Candilis, Alexis Josic, Shadrach Woods und Manfred Schiedhelm bauten die Rostlaube zwischen 1967 und 1973 auf das ehemalige Obstbaugelände in Dahlem als zusätzliches Gebäude für die Geisteswissenschaften. „Mit ihren Straßen und Höfen ist die Rostlaube eine Mischung aus Haus und Stadt“, sagt Christian Freigang. Zweigeschossig ragt sie kaum über die Villen der Nachbarschaft hervor, durch die zahlreichen Eingänge ohne prächtige Treppen und Portale sollten auch die Nachbarn ab und zu in eine Vorlesung quasi hineinstolpern. „Man fährt nicht in den 17. Stock, wie in anderen Universitäten, sondern bleibt im öffentlichen Raum.“

Christian Freigang ist seit 2012 Professor für Geschichte der Architektur und Architekturtheorie am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit der Architektur des Mittelalters und der Klassischen Moderne. Als Experte für die Architektur der Nachkriegszeit sieht er sich nicht, Führungen zu den architektonischen Highlights der 1948 gegründeten Freien Universität macht er trotzdem häufig und gerne. Das Gebäude der Rostlaube kennt Freigang noch aus seinem eigenen Studium in den 1980ern. Damals war es allerdings weit schwieriger, sich zurechtzufinden. „Früher hatte die Rostlaube viel stärker den Charakter eines orientalischen Basars. Es gab eine bewusste Unordnung, eine kreative Unsystematik.“

Statt die einzelnen Funktionen eines Gebäudes säuberlich zu trennen, wie es die Vordenker des modernen Städtebaus, Le Corbusier oder Hans Scharoun, postuliert hatten, wollten die Architekten der Rostlaube alle Funktionen durchmischen. „Es gab Institutsinseln, aber der Hörsaal und manche Büros waren woanders. Jeder Dozierende, jeder Studierende sollte mal zu den anderen Fächern gehen müssen und nebenbei in Kontakt kommen.“ Genussvoll habe man durch das Gebäude gehen sollen. Für dieses dandyhafte Schlendern seien die Rampen der Rostlaube konstruiert worden – und nicht etwa für die Barrierefreiheit, erzählt Freigang.

Als reine Spielerei wurde auch das Gegenteil der sanften Rampen eingebaut: steile, enge Wendeltreppen in den Innenhöfen, von denen Freigang jetzt eine hinauf aufs Dach der Rostlaube nimmt. Denn man kann hier einfach hinauf; man soll sogar, wenn es nach den Architekten geht. „Die Dächer waren als Aufenthaltsbereich geplant, als riesige Sonnenterrasse wie bei Le Corbusier seit den 1920ern.“ Oben weht ein leichter Wind durch die krautige Bepflanzung und der Blick geht bis zum Großen Tropenhaus des Botanischen Gartens, das 1907 eröffnet wurde; seit 1995 gehört der Botanische Garten zur Freien Universität. Zu unseren Füßen breiten sich die miteinander verbundenen Gebäude von Rost-, Silber- und Holzlaube aus wie ein Teppich mit rechteckigem Muster. „Der Bau ist eine modulare Rasterstruktur, die theoretisch nach allen Seiten erweitert werden könnte“, sagt Freigang. Wir stehen auf dem Dach der K-Straße, rechts und links erstrecken sich die Gänge J und L. Mit Anbauten von A bis I und M bis Z entstünde eine enorme Uni-Stadt, die sich vom Botanischen Garten bis zum alten Campus mit Veggie-Mensa und Henry-Ford-Bau erstreckte. „Die Architekten haben sich den Spaß erlaubt, utopisch zu planen.“

Aus einem Innenhof direkt neben uns ragt die silbrige Kuppel der Philologischen Bibliothek. „Für den Bau von Lord Norman Foster hat man 2001 bis 2005 zwei Riegel und sechs Innenhöfe der Rostlaube geopfert“, erklärt Freigang. Dadurch sei ein Miteinander entstanden: „Die Bibliothek füllt die Rasterstruktur der Rostlaube aus und zeigt das jeweils Charakteristische beider Gebäude umso deutlicher.“ Äußerlich haben die beiden Gebäude wenig miteinander gemeinsam: Eckig und bronzefarben das eine, eine hell schimmernde Blase das andere. Doch beide sind modulare Metallarchitekturen: Mit computerunterstütztem Design konnte Foster die Paneele der Bibliothekskuppel zu einer für die „Blob-Architektur“ typischen biomorphen Form zusammenfügen. Die Kuppel der Bibliothek liegt nur wenige Meter höher als das Dach der Rostlaube. „Sie erscheint dadurch von außen wie ein interessanter Tierpanzer, aber sie macht nicht triumphierend auf sich aufmerksam“, erläutert Christian Freigang. Anders als bei Fosters anderem berühmten Berliner Bauwerk, der Reichstagskuppel. Aber hier wie dort reiche der zentrale Betonkern bis ins Erdreich und bilde die Kaltzelle für die ausgeklügelte Klimatisierung.

Das Thema Klimatisierung klingt hier oben, in der prallen Sonne, äußerst reizvoll, weswegen wir uns wieder auf den Weg nach unten machen und über die K-Straße die Bibliothek betreten. Direkt hinter dem Eingang sitzen drei Frauen auf dem Boden und zeichnen konzentriert in ihre Skizzenblöcke: Fosters Architektur zieht immer noch Fans nach Dahlem. Christian Freigang führt uns nun hinauf bis in die Leselounge mit ihren roten Sesseln. Es ist tatsächlich angenehm kühl. Die komplizierte Belüftung durch computergesteuerte Klappen funktioniere wunderbar, sagt Freigang, der oft in der Bibliothek arbeitet. Er zeigt auf einen Übersichtsplan.

Das Schema gleicht zwei Gehirnhälften, die Ränder leicht gewellt. Der Spitzname „Berlin Brain“ passt also. „Foster hat den Platz so effizient wie möglich genutzt. Die Formen der äußeren Lesetische gleichen einer gewellten Zellmembran, die ja auch möglichst viel Oberfläche anstrebt.“ Während die Rostlaube rundherum zweigeschossig ist, bringt Foster ganze fünf Etagen im „Brain“ unter. Trotzdem wirkt die Bibliothek nicht eng. „Foster füllt den Raum fast bis zum Rand – aber eben nur fast. Man kann immer noch an der Seite hinuntergucken, sodass sich ein schwebendes Gefühl einstellt.“

Die Bibliothek steht eigentlich für einen Traditionsbruch. Von Beginn an war es eine Besonderheit der Freien Universität, dass nur etwa ein Viertel des Buchbestandes zentral in der Universitätsbibliothek stand und der Rest in den Bibliotheken der jeweiligen Institute zu finden war. Nun sind elf Einzelbibliotheken hier vereint, 750.000 Bücher. Neben den Sprachwissenschaften ist auch die Bibliothek des Instituts für Philosophie umgezogen, das auf der nächsten Station des Rundgangs liegt.

Mittlerweile ist es kurz nach Mittag, und die Hitze flimmert über dem Asphalt der Habelschwerdter Allee, die wir nun überqueren. Aber das Institut für Philosophie liegt im Schatten großer Bäume, sodass wir uns Zeit für die Details nehmen können. „Das Gebäude wurde von den Berliner Architekten Hinrich und Inken Baller 1981 bis 1984 als Gegenentwurf zur Rostlaube gebaut“, sagt Christian Freigang. Ein bisschen von der Straße abgerückt steht es da wie eine etwas verschrobene Villa. Das Dach ist aufwändig gefaltet in Beton gegossen, die Fassade zackt sich vor und zurück, Doppelpfeiler und grüne Metallranken umrahmen die doppelten Fenster. „Diese naturhaft grünen Ranken erinnern an den belgischen Jugendstil, und viele finden es etwas kitschig. Aber ich finde die Architektur sehr erlebnisreich.“

Anders als in der Rostlaube, die an fast jeder Ecke gleich aussieht, kann man in diesem Institut die Augen wandern lassen. In der großen Eingangshalle hinter der gezackten Glasfassade ist auch die Empore gezackt. „Das ist typisch Baller, ganz zuckersüß: In jeden Zacken passt genau ein Tisch, und da kann man dann zu zweit sitzen und Aufgaben lösen.“ Die zweite Halle ist das Herz des Instituts, die ehemalige Bibliothek. Durch deckenhohe Fenster geht der Blick hinaus in einen dschungelhaft anmutenden Garten, der konzentriertes und inspiriertes Lesen anregen sollte. Auch viele Büros und Seminarräume gehen zum Garten hinaus. Ein Pfad und eine verspielte Brücke locken ins schattige Grün. „Die Ballers haben hier meditative Elemente wie in japanischen Zen-Gärten umgesetzt“, erläutert Freigang. „Das Ensemble ruft auch Bilder wach von einem verwunschenen Privathaus, in dem ab und zu ein Gartenfest mit herzlichen Menschen stattfindet und in dem die Kinder spielen können.“

Diese Assoziationen sind eng verknüpft mit einem historischen Charakteristikum der Freien Universität. Jahrzehntelang hatten viele Institute ihren Sitz in einer von 70 über den Südwesten Berlins verstreuten Villen. Auf dem Weg zum ersten Campus passieren wir einige von ihnen entlang der Thielallee. „Architektur kann ein wichtiges Identitätsangebot sein“, sagt Freigang. „Das Institutsleben in den Villen zum Beispiel funktionierte wie das Leben in einer Familie: Man wusste, wer immer im Raucherraum sitzt und wer am Wochenende zum Lernen kommt.“ Er ist der Meinung, die Freie Universität spiele ihre Trümpfe als Campus-Universität zu wenig aus. Dabei sei die Ruhe, das Lernen und Forschen im Grünen ein wichtiges Argument für ein Studium an der Freien Universität. „Man hat Platz für sich und kann entspannter arbeiten. Dafür lohnt sich der Weg nach Dahlem“, sagt Freigang. Manchmal wundert sogar er sich, wie viel Platz es gibt.

Wir stehen jetzt am Rand des alten Campus, neben der Mensa, die 1951 bis 1953 von Hermann Fehling und Peter Pfankuch gebaut wurde und heute als Veggie-Mensa dient. Vor uns liegt die „Studentenaue“, mit den flachen Gebäuden der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereiche, dem allerersten Hauptgebäude der Universität im Altbau in der Boltzmannstraße 3 und – am anderen Ende – dem Henry-Ford-Bau „Bis zum Bau der Rostlaube war dort das Herz der Universität, mit Hörsälen, die wirklich immer sehr gut besucht waren“, sagt Freigang „Angesichts dieser weitläufigen Grünfläche fragt man sich zunächst: Muss die Mensa so weit weg sein?“ Aber wer nach dem Essen ein paar Schritte tue, studiere konzentrierter – und habe Zeit, mit Kommilitoninnen und Kommilitonen zu reden.

Die Erziehung zur Demokratie war ein wichtiger Gedanke in West-Berlin der frühen 1950er Jahre. Die nationalsozialistische Diktatur lag erst wenige Jahre zurück, und in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, konnte man sehen, welche Neubauten die sozialistische Diktatur repräsentieren sollten „Noch früher als die Mustersiedlung Südliches Hansaviertel war der Campus der Freien Universität eine Antwort auf die Stalinallee“, sagt Freigang. „Er ist ein Schaufenster des Westens mit modernen, transparenten Bauten, die sich radikal unterscheiden wollen vom sozialistischen Realismus.“

Die amerikanischen Alliierten unterstützten die Freie Universität in den ersten Jahrzehnten als demokratisches Projekt mit Spenden. Die größte Investition war der Komplex aus Henry-Ford-Bau und Universitätsbibliothek, dessen Bau 1952 bis 1954 die Henry-Ford-Stiftung finanzierte. Das Ensemble zeigt sich dank der mittlerweile etwas schräg stehenden Sonne von seiner besten Seite. Das „perfekte Streiflicht“ auf der Textur der Bruchsteinmauer lässt das Herz des Architekturhistorikers höherschlagen Freigang erklärt, dass die Architekten Franz Heinrich Sobotka und Gustav Müller für den Henry-Ford-Bau verschiedene Entwicklungen der Moderne verbunden hätten: Die freigestellte Mauer etwa finde man bei Mies van der Rohes Villen, der durch zwei parallele Glasfassaden geformte „Bildschirm“ beim Bauhaus Dann zeigt er einige Tricks, mit denen die Architekten ein luftiges und transparentes Gebäude geschaffen haben Der durchgehende Terrazzoboden verwische die Grenze zwischen innen und außen, die Treppenstufen seien ohne Rückwände konstruiert, und die riesigen freischwebenden Emporen in der Haupthalle und im Audimax seien „technische Meisterwerke.“

Angesichts solcher intelligenten und symbolisch starken Bauten habe es dennoch nie einen „Hausarchitekten“ gegeben, der das Gesicht der Freien Universität geprägt habe – anders als zum Beispiel in Frankfurt am Main Das Ergebnis sei eine Mischung, in der jedes einzelne Bauprojekt programmatisch sei, das jeweils Aktuellste seiner Zeit „Die Architektur der Freien Universität verzichtet auf repräsentativen Prunk“, sagt Kunsthistoriker Freigang „Und sie schafft das ohne zu viel Bescheidenheit “