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Endlich ein eigenes Klinikum

Heilen. Forschen. Lehren. Und alles unter einem Dach. Das Universitätsklinikum Benjamin Franklin feiert seinen 50. Geburtstag.

03.12.2018

Universitäsklinikum Benjamin Franklin

Universitäsklinikum Benjamin Franklin
Bildquelle: Charité Mediencenter CBF

Noch Jahre nach ihrer Gründung ist die Freie Universität Berlin nicht komplett. Ihr fehlt etwas Wesentliches, quasi noch ein „Filetstück“. Eine große, moderne Uniklinik, die endlich das Provisorium – das aus allen Nähten platzende Klinikum Westend – ersetzt.

Raum dafür gibt es genug im Südwesten Berlins, sogar unweit des Dahlemer Campus’. Allein es mangelt an Geld für ein solches Mammutprojekt. Doch die junge Universität hat einen prominenten Fürsprecher: Willy Brandt, der damalige Regierende Bürgermeister, nutzt 1958 eine Reise nach Washington, um Eleanor Dulles zu treffen. Die Schwester des amerikanischen Außenministers John Foster Dulles engagiert sich sehr für das Nachkriegsdeutschland, und schon mehrmals hatten die USA Bauprojekte in Westberlin großzügig unterstützt. Etwa bei der Kongresshalle („Schwangere Auster“), der Amerika-Gedenkbibliothek und natürlich auch beim Henry-Ford-Bau der Freien Universität, der 1954 eröffnet wird.

Brandts Mission ist erfolgreich. Die Benjamin-Franklin- Stiftung übernimmt 20 Prozent der Kosten für den 304 Millionen D-Mark teuren Neubau. Unter zwei Bedingungen: Architekten aus den USA sollen das Klinikum entwerfen. Und Vorbild dafür soll das amerikanische Department-System sein. Sprich: Kliniken, Hörsäle und wissenschaftliche Institute werden dabei unter einem Dach vereint. „Das war etwas völlig Neues, denn 100 Jahre lang hatte man in Deutschland Krankenhäuser in Pavillon-Bauweise errichtet. Jede Disziplin bekam ein eigenes Haus, in dem auch operiert wurde“, sagt Thomas Beddies, Medizinhistoriker der Charité.

Das Architektenbüro Curtis und Davis aus New Orleans wird beauftragt und entwirft zusammen mit dem Berliner Franz Mocken einen kompakten Behandlungs- und Forschungstrakt, der von zwei konkav geformten Bettenhäusern flankiert wird. Im Team mit Medizinern entwickeln sie die Vision eines „arbeitenden Organismus“, in dem kurze Wege und flache Hierarchien die Zusammenarbeit zwischen den Fachgebieten fördern sollen. „Es wird der medizinischen Wissenschaft helfen, es wird dem Krankenhausneubau in Deutschland neue Wege weisen!“, sagte Willy Brandt beim Richtfest am 24. Juni 1964 in der nunmehr geteilten Stadt. „Und tatsächlich wurde das Klinikum Steglitz zum Prototyp für den modernen Krankenhausbau in Europa“, bestätigt Medizinhistoriker Beddies.

Als die Uniklinik nach elf Jahren Planungs- und Bauphase sowie einem halbjährigen Probebetrieb am 9. Oktober 1968 feierlich an die Freie Universität übergeben wird, sind zwischen Schlosspark Lichterfelde und Bäkepark am Teltowkanal 115.000 Kubikmeter Beton, 8.700 Tonnen Stahl, 3,5 Millionen Ziegelsteine und 20.000 Quadratmeter Glas verbaut. Filigran an dem wuchtigen Komplex wirkt einzig die Verkleidung des Mitteltraktes, 236.320 Betonspitzen, die zu stilisierten Wirbelsäulen zusammengesetzt sind. Die „Schmetterlingsfigur“ des Gebäudes erschließt sich nur aus luftiger Perspektive, etwa der des ADAC-Rettungshubschraubers Christoph 31, der von 1987 an hier stationiert sein wird.

Studentenproteste begleiten lautstark die Klinikeröffnung.

Sie kritisieren das veraltete Medizinstudium. (In den 1990er-Jahren werden sie erneut aufflammen, ernstgenommen und kreativ umgesetzt. Der Reformstudiengang Medizin wird entstehen, aus dem sich heute der „Modellstudiengang 2.0“ der Charité-Universitätsmedizin Berlin entwickelt).

Auch ein Teil der Ärzteschaft scheint auf Krawall gebürstet. Denn anders als geplant, ziehen längst nicht alle Professoren vom Westend nach Steglitz um. „Mit der Folge, dass die Freie Universität nun quasi zwei Unikliniken hatte. Und die waren sich in ,freundlicher Abneigung‘ zugetan“, erzählt Professor Ulrich Frei, Ärztlicher Direktor der Charité. In den 1980er-Jahren verlangen dann neuberufene Klinikleiter im Westend ebenfalls nach einem Neubau. Er soll auf dem Gelände des Virchow-Klinikums entstehen. Als dort die Keller betoniert werden, passiert das Unglaubliche – die Berliner Mauer fällt!

Der Jubel ist grenzenlos. Die geteilte Stadt wird bald endlich wieder eins. Und hat mit der Charité nun drei Universitätsklinken, von denen jede um ihre Existenz ringt. „Der Dekan der Charité klebte das Etikett ‚altehrwürdig‘ an seine Klinik, die Steglitzer versicherten sich erneut der Unterstützung der Amerikaner und der Springerpresse – und das Virchow verwies auf den frischen Beton“, erzählt Frei.

1997 fusionieren zunächst Charité und Virchow Klinikum, und das Klinikum Steglitz benennt sich (zum Dank an die Amerikaner) um in Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF). Die Pläne des Berliner Senats, das UKBF in ein städtisches Versorgungskrankenhaus umzuwandeln, scheitern an Protesten. „Als Lösung wurde 2003 die Charité-Universitätsmedizin Berlin erfunden“, sagt Frei. Seither gibt es nur noch eine Medizinische Fakultät in Berlin – aber mit zwei Mutteruniversitäten.

Das ist weltweit einmalig. Der Preis für den Erhalt des Campus Benjamin Franklin (CBF) in Steglitz ist hoch: Der CBF muss fortan auf ein Drittel der staatlichen Finanzierung für Forschung und Lehre verzichten. Ulrich Freis Hauptaufgabe wird es nun, die drei Standorte – Mitte, Virchow und Steglitz – zusammenzuführen und ein tragfähiges inhaltliches Konzept für das „Gesamtkunstwerk Charité“, wie er es nennt, zu entwickeln.

Das Zauberwort heißt Schwerpunktbildung.

In Mitte bedeutet das konkret: Neurowissenschaften und Infektionsmedizin. Denn hier gibt es bereits den Cluster NeuroCure, das Deutsche Rheumaforschungszentrum und das Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie.

Am Campus Virchow liegt der Fokus auf Tumor- und Transplantationschirurgie. Außerdem kommt das Mutter-Kind-Zentrum dazu, dass das Benjamin-Franklinabgeben musste. Für Steglitz, einen damals stark überalterten Bezirk sehr passend, wird als neuer Schwerpunkt Degenerative Erkrankungen und Medizin der zweiten Lebenshälfte festgelegt. „Unter Protest von allen Seiten“, erinnert sich Frei.

„Es gab die Befürchtung, dass aus dem Klinikum der Freien Universität eine einzige große Geriatrie wird. Letztlich wurde jedoch allen klar, dass sich angesichts des demografischen Wandels jedes medizinische Fach mit dem alternden Patienten befassen muss.“ Dies spiegelt sich auch im interdisziplinären Forschungsverbund „Disease in Human Aging“ (DynAge) wieder, den die Freie Universität 2013 ins Leben ruft.

50 Jahre Benjamin Franklin haben Spuren hinterlassen: In der Wissenschaft (zahlreiche diagnostische und therapeutische Methoden wurden hier entwickelt und erprobt), in der Lehre (zig Generationen junger Ärzte durchliefen in Hörsälen, Operationssälen und am Patientenbett ihre Ausbildung) sowie natürlich in der Gesundheitsversorgung Berlins (kaum ein Bewohner des Südwestens, der hier noch nicht behandelt wurde).

Und leider auch am Gemäuer. Der Zahn der Zeit hat nicht nur an den „Wirbeln“ des Mitteltraktes genagt, wo inzwischen jede zehnte Betonspitze der Verkleidung marode ist. Auch Elektrik und Bettenhäuser sind teils stark veraltet. Während umfangreiche Sanierungsschritte eingeleitet wurden – unter anderem die Modernisierung der OP-Säle der Ersatz von Dreibettzimmern mit WC auf dem Gang durch Zweibettzimmer mit integriertem Bad – verjüngt sich der „arbeitende Organismus“ im Inneren regelmäßig von selbst. Mit jeder Neu- berufung fließen neue Ideen in die Forschung ein, was zu enormen medizinischen Fortschritten führen kann, wie sich am Beispiel der Herzmedizin gut erkennen lässt.

„Während Ende der 1960er-Jahre nur 40 bis 50 Prozent der Infarktpatienten überlebten, sind es mittlerweile fast 95 Prozent. Noch vor 20 Jahren hat man bei 80-Jährigen nicht mehr viel gemacht – heute operieren wir erfolgreich Menschen, die 90 Jahre alt sind“, sagt Ulf Landmesser, seit 2014 Direktor der Medizinischen Klinik für Kardiologie am CBF. Eingriffe via Herzkatheter (statt Lyse-Therapie) bei akutem Infarkt, mit denen sein Vorgänger Heinz-Peter Schultheiß 1994 beherzt begann, und die unter den Kollegen damals für viel „Gesprächsstoff“ sorgten, sind heute Standard.

Landmesser ersetzt inzwischen sogar Herzklappen minimalinvasiv und forscht daran, wie sich nach einem Infarkt abgestorbene Herzmuskelzellen ersetzen lassen. Gesund steinalt zu werden ist das Ziel. Und sollte mal ein Eingriff nötig sein, dann so schonend wie möglich. Der „beste“ Infarkt ist jedoch der, zu dem es gar nicht erst kommt. Zu Landmessers Forschungszielen gehört es deshalb auch, anhand von Markern im Blut Risikopatienten frühzeitig zu erkennen und prophylaktisch behandeln zu können.

In 50 Jahren hat sich in der Medizin viel verändert.

Natürlich platzt inzwischen auch der Campus Benjamin Franklin aus allen Nähten, bräuchte viel mehr Raum für Funktionsdiagnostik. Ein zentraler Neubau für die Notaufnahme ist in Planung und neue Flächen für die Forschung stehen ebenfalls ganz weit oben auf der Wunschliste von Ulrich Frei. Das Konzept der Architekten jedoch, skizziert in den 1950er-Jahren, erwies sich als visionär und bewährt sich bis heute. Wen immer man auch fragt: Forscherinnen und Forscher sowie Ärztinnen und Ärzte sind begeistert von der „kommunikativen Atmosphäre“ des Gebäudes, welche Interdisziplinarität regelrecht provoziert.

Aus gemeinsamen Konsultationen über Patienten ergeben sich nicht selten neue Forschungsansätze. So gibt es unter anderem regen Austausch zwischen der Kardiologie und der Psychiatrie, die erst 2014 unter Leitung von Isabella Heuser und als letzte Klinik aus dem Westend auf den Steglitzer Campus zog. „Gerade bei hochbetagten Patienten kommt es nach Eingriffen nicht selten zu einem Delirium“, sagt Heuser. „Nach Infarkt oder anderen schweren Erkrankungen entwickeln ältere Menschen auch leicht eine Depression.“ Oder umgekehrt: Heuser erforscht unter anderem den Zusammenhang von psychischen Störungen und einem erhöhten kardiovaskulären Risiko. Als hochbetagt bezeichnen Mediziner übrigens bereits Menschen ab 75 Jahren – auch wenn heute 75 als „das neue 60“ gilt.

Zur psychiatrischen Klinik, für die eine ganze Etage des Klinikums am CBF umgebaut wurde, gehören neben fünf Stationen mehrere Spezialambulanzen wie etwa die Gedächtnis-Sprechstunde, eine arabische und vietnamesische, muttersprachlich geführte Ambulanz sowie zwei Tageskliniken und eine stationäre Mutter-Kind-Einheit.

Wechsel von Direktorinnen und Direktoren einer Klinik werden gerne genutzt, um durch Neuberufungen die Schwerpunktbildung voranzutreiben. Und so arbeiten am Campus Benjamin Franklin inzwischen auch Spezialisten für Darmtumor-Chirurgie sowie Psychosomatik – und mit Andreas Diefenbach kam 2016 auch ein Team von Mikrobiologen mit Schwerpunkt Immunologie hinzu.

Diefenbach erforscht unter anderem gemeinsam mit dem Deutschen Rheumaforschungszentrum, welchen Einfluss die Darmflora auf die Fitness des Immunsystems hat Und welche Rolle sie in diesem Zusammenhang bei der Entstehung von Autoimmunkrankheiten und chronisch-entzündlichen Erkrankungen wie Diabetes, Lupus erythematodes oder Morbus Crohn spielt Speziell auf dem Gebiet entzündlicher Darmerkrankungen gibt es rege Kontakte zur Gruppe von Britta Siegmund, Direktorin der Klinik für Gastroenterologie Zu ihren Schwerpunkten gehören die Darmerkrankungen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, die meist im Alter von 20 bis 40 Jahren auftreten und einen weiteren Gipfel in der zweiten Lebenshälfte haben „Bei unseren Patienten sehen wir begleitend nicht nur Gelenkbeschwerden. Sie haben auch ein erhöhtes Risiko für koronare Herzerkrankungen Denn weil bereits eine Entzündung im Körper ist, sind auch die Gefäße dafür anfälliger“, erklärt Siegmund, die enge Kontakte zur Dermatologie und Kardiologie pflegt.

Die Kardiologen wiederum sind auch an Diefenbachs Mikrobiomforschung interessiert, also der Erforschung der Bakteriengemeinschaften im Körper, wie etwa der Darmflora Sie sehen zunehmend inflamma- torische Prozesse als Auslöser kardiovaskulärer Erkrankungen an Kürzlich klopften dann auch die Knochenmark transplanteure bei den Mikrobiologen an Denn wenn es nach einer Knochenmarktransplantation zum Angriff der transplantierten Immunzellen auf die körpereigenen Zellen kommt, die etwa jeden dritten Transplantationspatienten ereilt, scheint das Mikrobiom einen wichtigen Einfluss auf den Verlauf dieser schweren Erkrankung zu haben. Genaugenommen funktioniert der Campus Benjamin Franklin selbst wie ein Mikrobiom – nur halt im Großen.

Er ist ein quirliges Ökosystem mit zahllosen Interaktionen zwischen den „Spezies“ – den Experten in den Kliniken und täglich neuen Patienten Mit Wechselwirkungen zu anderen „Organen“ – den Standorten in Mitte und Virchow Und der Kommunikation mit anderen Ökosystemen – der medizinischen Community weltweit.

Nach all den erbitterten Kämpfen um den Standort: Teil der Charité zu sein, empfinden die meisten Klinikleiter am CBF heute als Gewinn. Wegen der engen Kontakte zwischen den drei Standorte – aber natürlich auch wegen des Imagegewinns „Durch das Label Charité wird unsere Forschung international noch sichtbarer“, sagt Kardiologe Ulf Landmesser