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Spuren der Freien Universität

Weggabelungen, Umbrüche und Kontinuitäten von 1948 bis heute

02.12.2018

24. Juli 1948: Das provisorische Immatrikulationsbüro ist noch äußerst karg möbliert. Im Verlauf der ersten Woche lassen sich 1200 Studierwillige provisorisch registrieren.

24. Juli 1948: Das provisorische Immatrikulationsbüro ist noch äußerst karg möbliert. Im Verlauf der ersten Woche lassen sich 1200 Studierwillige provisorisch registrieren.
Bildquelle: Fritz Eschen

Ist es denkbar, dass die Freie Universität 1948 nicht gegründet worden wäre? Dazu hätte die deutsche Geschichte, mit der diese Hochschule immer so eng verknüpft war, einigermaßen anders verlaufen müssen.

Die Humboldt-Universität hieße noch Friedrichs- Wilhelms-Universität, so wie die einer Stadt im Rheinland, die nie zu Hauptstadtehren gekommen wäre. Ihr Standort Unter den Linden wäre längst aus allen Nähten geplatzt.

Aber bevor jemand an eine Dependance in Adlershof gedacht hätte, wäre Dahlem entdeckt worden. Denn schon Friedrich Althoff, dem energischen und einflussreichen Wissenschaftsplaner des späten Kaiserreichs, hatte dort ein deutsches Oxford vorgeschwebt, auf dem weiten Areal der damaligen Domäne, also des preußischen Staatsgutes.

Die Ansiedlung von Forschungsinstituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft kurz vor dem Ersten Weltkrieg bereitete den Boden für eine Ausweitung des akademischen Campus im Südwesten der Stadt. Man hätte in Dahlem das Obstbaugelände entdeckt und dort naturwissenschaftliche Institute angesiedelt. Der Kreis schließt sich, bloß dass die Rostlaube heute Physiker statt Romanisten beherbergen würde.

Aber Berlin lag, nach nationalsozialistischer Diktatur und massenmörderischem Krieg, in Schutt und Asche, aufgeteilt unter den vier Besatzungsmächten. Von 1989 aus gesehen, wären die sowjetischen Stalinisten besser beraten gewesen, ihren mitteleuropäischen Satellitenkordon weniger hart an die Kandare zu nehmen.

Also keine Stalinisierung der Linden-Universität. Kein Ende der Freiheit von Wissenschaft dort, keine gemaßregelten Studentinnen und Studenten, keine verzweifelten Professorinnen und Professoren – kein Auszug nach Dahlem. Immerhin gab es in der materiellen Not der ersten Nachkriegsjahre Wichtigeres zu tun, als unter schwierigsten Umständen ein Universitätsprovisorium zu errichten, dem in den ersten Monaten alles fehlte außer dem entschiedenen Willen, dieses unwahrscheinliche Projekt Realität werden zu lassen.

Obwohl die deutschen Universitäten sich in der NS-Zeit nicht gerade mit Ruhm bekleckert, vielmehr durch zahllose ihrer führenden Gelehrten das neue Regime begrüßt und seine Ziele tatkräftig unterstützt hatten, gab es in der Nachkriegszeit im Westen kaum eine institutionelle Zäsur. Neugründungen im demokratischen Geist wie die „Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft“ in Wilhelmshaven blieben marginal. Die Wiedererrichtung von Mainz und die Neugründung in Saarbrücken verdankten sich eher dem regionalpolitischen Kalkül Frankreichs.

Längere sowjetische Zügel in Ost-Berlin und Unter den Linden hätten die Entfremdung verzögert, die Neugründung im amerikanischen Sektor vermieden – und stattdessen später zu einem stärkeren Ausbau der Technischen Universität in Charlottenburg geführt. Und dann wäre es wieder losgegangen: Überfüllung, räumliche Enge, ein zweiter Standort mit Instituten in Dahlem ...

Der erste Student der Freien Universität und spätere Professor für Klinische Neurophysiologie, Karol Kubicki.

Der erste Student der Freien Universität und spätere Professor für Klinische Neurophysiologie, Karol Kubicki.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Nun aber entstand dort eine Universität, die zunächst in nur zwei Häusern in der Boltzmannstraße zu funktionieren versuchte, ergänzt durch andere, provisorische Standorte, nicht zuletzt für die medizinischen Fächer, weit verstreut über die drei westlichen Sektoren. Im Prinzip fehlte es nicht an Raum und an Gebäuden – zahllose Villen im bürgerlichen Dahlem standen leer. Die Verwaltung der Freien Universität konnte sich vor Angeboten von Eigentümern und Maklern kaum retten. Manchmal wurde man, mit Kauf oder Miete, handelseinig, und bald hatte sich der charmante Streucampus einer Villenuniversität herausgebildet, der den Charakter dieser Hochschule bis weit ins neue Jahrtausend prägte und zum Teil immer noch prägt.

Kaum zieht ein Institut in einen viel praktischeren Neubau um, wie in die erst vor wenigen Jahren fertiggestellte „Holzlaube“ als vorerst letztem Bauabschnitt des „Großvorhabens Obstbaugelände“, steht ein Exzellenzcluster oder eine Forschergruppe als Nachnutzer bereit. Die Villa ist vom Notbehelf zum Distinktionsmerkmal geworden.

Als richtige Universität fühlte man sich dennoch erst, als Mitte der 1950er Jahre der Henry-Ford-Bau und die angrenzende Bibliothek ein neues Hauptgebäude schufen, einen Ankerplatz für die makeshift university der frühen Jahre. Die Freie Universität trat in eine erste Phase der Normalisierung ein. Hier würde man, das war bald klar, nicht mehr weggehen. Eine Denkschrift für den Berliner Senat prognostizierte 1954 selbstbewusst, „dass auch nach Aufhebung der Sektorengrenzen und nach der Wiedervereinigung der örtliche Schwerpunkt der Berliner Universität in Dahlem liegt“.

Die totale Abriegelung der westlichen Halbstadt durch den Mauerbau am 13. August 1961 ließ dieses Ziel in weite Ferne rücken. Im Osten leben, in Dahlem studieren – das ging plötzlich nicht mehr. Der Anspruch, eine freie Universität für ganz Berlin zu sein, war dahin. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy munterte die eingemauerten West-Berliner bei seinem Besuch am 26. Juni 1963 auf und sprach am Nachmittag vor dem Henry-Ford-Bau. Wie schon bei ihrer Gründung im Jahre 1948 erschien die Freie Universität erneut als eine politische Universität, als eine Institution, die über ihre engere Zweckbestimmung für Lehre und Forschung hinauswies.

Als Universität in der Frontstadt des Kalten Krieges konnte sie den politischen Ansprüchen nicht ausweichen. Ihnen verdankte sie ihre Existenz; sie profitierte immer wieder davon; sie machte das Politische zu ihrem Markenkern und Selbstverständnis – und tat sich mit der politischen Inanspruchnahme und Funktionalisierung doch schwer.

Beginn der Studentenbewegung

Nur zwei Jahre nach dem Kennedy-Besuch begannen im Sommersemester die Proteste der Studentenbewegung, die für die Bundesrepublik in Berlin und an der Freien Universität ihren Ausgangspunkt hatten und hier ihre wohl intensivste und radikalste Ausprägung fanden. Das Verlangen nach einer grundlegenden Reform der Hochschulen, nach ihrer inneren Demokratisierung, nach stärkerer Teilhabe der Studierenden und dem Ende der Ordinarienmacht verknüpfte sich auf eine bis heute kaum zu entwirrende Weise mit den allgemeinpolitischen Fragen, die wiederum nirgends so greifbar waren wie in West-Berlin, dem Schaufenster und militärischen Vorposten des Westens.

Die Achse des Protests verlief in den folgenden Jahren immer wieder zwischen der Garystraße in Dahlem und der Hardenbergstraße in Charlottenburg, zwischen Freier Universität und Technischer Universität, aber eben auch dem Amerikahaus nahe dem Bahnhof Zoo. Sie erstreckte sich von Lichterfelde und der Clayallee bis zum Kurfürstendamm, von der amerikanischen Militärpräsenz bis zu den Konsumvitrinen, und damit vom Vietnamkrieg bis zur Kapitalismuskritik.

Kann man sich die Freie Universität ohne ihren ersten großen Umbruch nach der krisenhaften Gründung, ohne 1968 vorstellen? Viele westdeutsche Universitäten erfasste der Studentenprotest erst viel später, nicht selten sogar nach dem kalendarischen 1968. Aus West-Berlin lässt er sich nicht wegdenken.

Die Studierenden waren selbstbewusster und von vornherein politischer als anderswo – es war ihre Universität, die sie auch an ihren eigenen Ansprüchen maßen, nicht eine Universität der Ordinarien und schon gar nicht der Burschenschaften, denn das Farbentragen hatte man in Dahlem von Anfang an strikt verpönt. Die Nahtstelle von Ost und West war nicht nur große Politik, sondern persönliche Lebenserfahrung wie bei dem bis heute wohl berühmtesten Studenten der Freien Universität, dem in der DDR aufgewachsenen Rudi Dutschke.

Die Geschichte der Universität und der großen politischen und sozialen Bewegungen der Zeit verflochten sich 1967/68 so eng wie später nie mehr. Die Freie Universität erfuhr nicht nur die Folgen historischer Prozesse, sondern schrieb selber Geschichte. Vieles verdichtete sich in weniger als zwölf Monaten: die Erschießung von Benno Ohnesorg, Student der Romanistik und Geschichte, am 2. Juni 1967 vor der Deutschen Oper, der Auftritt Herbert Marcuses im Auditorium Maximum im Juli, die Gründung der „Kritischen Universität“ zu Beginn des Wintersemesters 1967/68 – bis hin zum Attentat auf Dutschke am 11. April 1968 und den dadurch ausgelösten Osterunruhen.

Das zur Chiffre geronnene Jahr 1968 markiert, so wird heute oft gesagt, nicht den Anfang, sondern das Ende der Proteste. Das ist richtig und falsch zugleich. Richtig gewiss für die Freie Universität im Blick auf ihre „heiße Phase“ in den drei Jahren vor dem Dutschke-Attentat; richtig im Blick auf die neue Konstellation von 1969, mit der Wahl Walter Scheels zum Bundespräsidenten und dem Beginn der sozialliberalen Koalition unter Führung Willy Brandts, des langjährigen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, im Dezember.

Aber auch falsch, denn in Dahlem markierte 1968 kein Ende, sondern eher den Start für eine noch extremere Aufheizung im Binnenraum der Universität. Erst jetzt erfasste der Protest zahlreiche bis dahin ruhig gebliebene Institute und Seminare wie das der Historiker. Zugleich radikalisierte sich eine lautstarke Minderheit im marxistisch-revolutionären Sinne, und sicher mit einer Neigung zur politischen Theatralik, zur sprachlichen und gestischen Grenzüberschreitung. Genussvoll-obszön agierten sie etwa als „RotzRom“ – Rote Zelle Romanistik – und provozierten ihre professoralen Gegner, darunter Verfolgte des Nationalsozialismus und jüdische Remigranten wie den Politologen Ernst Fraenkel, der sich an 1933 erinnert fühlte.

Die zweite Phase von „1968“, diejenige, die 1968/69 erst begann, spaltete die Freie Universität tief in zwei feindliche Lager. Manchmal institutionalisierte sie den Graben sogar, um vordergründig zu befrieden, etwa mit der Teilung des Psychologischen Instituts in ein konventionelles, „bürgerliches“ und eines der „kritischen“, der marxistischen Psychologie unter der Führung von Klaus Holzkamp. Erst 1994 wurde das gespaltene Institut wieder zusammengeführt.

1973 wird der erste Bauabschnitt der „Rostlaube“ eröffnet. Entworfen von den Pariser Architekten Shadrach Woods, Georges Candilis und Alexis Josic soll sich dort das universitäre Leben entwickeln.

1973 wird der erste Bauabschnitt der „Rostlaube“ eröffnet. Entworfen von den Pariser Architekten Shadrach Woods, Georges Candilis und Alexis Josic soll sich dort das universitäre Leben entwickeln.
Bildquelle: Universitätsarchiv der Freien Universität/Reinhard Friedrich

Die politisch zerklüfteten Jahre waren auch die hohe Zeit bemerkenswerter Gelehrter. Der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich, bereits Gründungsstudent, zog ein großes und gemischtes Publikum in seine Vorlesungen. 1966 war der Judaist Jacob Taubes an die Freie Universität gekommen. Der Literaturwissenschaftler Peter Szondi holte bis zu seinem frühen Tod im Oktober 1971 die globale intellektuelle Avantgarde nach Dahlem.

Und früher als anderswo mischten sich Frauen in diese Männerdomäne wie die Philosophin Margherita von Brentano, die bereits 1970, als erste Frau, Vizepräsidentin wurde.

Die meisten, aber keineswegs alle – man denke nur an den Historiker Ernst Nolte, der 1973 ans Friedrich-Meinecke-Institut gekommen war – dieser prägenden Gelehrten standen politisch links. Aber für keinen von ihnen war die intellektuelle Originalität, auf individuell ganz unterschiedliche Weisen, von einem politischen Impetus zu trennen. Ganz besonders in dieser Zeit und für die Generation der in den 1920er Jahren Geborenen entfaltete die politische Universität unmittelbar eine geistige Strahlkraft. Insofern verdrängte 1968 die Politik nicht den Geist, sondern inspirierte ihn, fernab aller Dogmatismen.

Auf 50.000 und mehr Studierende ist die Freie Universität Ende der 80er Jahre nicht vorbereitet. Eine der Folgen: Die Rostlaube verwahrlost an einigen Stellen.

Auf 50.000 und mehr Studierende ist die Freie Universität Ende der 80er Jahre nicht vorbereitet. Eine der Folgen: Die Rostlaube verwahrlost an einigen Stellen.
Bildquelle: Fleckenstein

Schnell wachsende Universität

In anderer Hinsicht jedoch geriet die Freie Universität in den 1970er Jahren in schwieriges Fahrwasser, und später in bleierne Zeiten. Eine rasante Expansion der Studierendenzahlen überlagerte die noch nicht überwundenen Folgen vordergründiger Politisierung und tiefer innerer Zerklüftung. Und ehe es eine Chance gab, nach der Zerstörung traditioneller Bilder und der Formenzertrümmerung von 1968 neue, zeitgemäße Formen universitärer Gemeinschaft zu finden, forderten Bildungsexpansion und Massenuniversität die alten Strukturen ein zweites Mal heraus.

Die 1973 im ersten Bauabschnitt eröffnete „Rostlaube“ wurde schnell zum Symbol dieser neuen Zustände: unübersichtlich trotz der klaren Gliederung in rechtwinklige Straßenzüge, dysfunktional trotz des funktionalistischen Anspruchs; reichlich mit Planungs-und Baufehlern versehen und bald so verwahrlost, dass Professoren klagten, die Toiletten ließen „mitteleuropäischen Kulturstandard“ vermissen.

Auf 50.000 und mehr Studierende einschließlich der 1980 integrierten Pädagogischen Hochschule mit ihrem Campus in Lankwitz war niemand vorbereitet. Die finanzielle und personelle Ausstattung hielt damit bei weitem nicht Schritt. Das allerdings war keine West-Berliner Besonderheit in einer Zeit, die in der bundesdeutschen Bildungspolitik zynische Konzepte wie die „Untertunnelung des Studentenberges“ hervorbrachte. Im Wintersemester 1988/89 zeigten die Studierenden der Freien Universität in einem langen Streik ihren „UNiMUT“, so das damalige Protestmotto. Das war zugleich ein letztes Aufflackern konstruktiven studentischen Engagements, das sich seitdem kaum noch wirksam organisieren und artikulieren konnte – eingeklemmt zwischen Selbstmarginalisierung in hermetischen ultralinken Milieus einerseits, den sich allmählich abzeichnenden Imperativen einer neuen, funktionalen und „neoliberalen“ Steuerung der Hochschulen andererseits.

„Berlin braucht Zukunft, Berlin braucht Wissenschaft, Berlin braucht die FU-Medizin“ – unter diesem Motto finden 2002 massive Proteste statt, um das Uniklinikum Benjamin Franklin als Lehr- und Forschungsklinikum zu erhalten.

„Berlin braucht Zukunft, Berlin braucht Wissenschaft, Berlin braucht die FU-Medizin“ – unter diesem Motto finden 2002 massive Proteste statt, um das Uniklinikum Benjamin Franklin als Lehr- und Forschungsklinikum zu erhalten.
Bildquelle: Ulrich Dahl

Der Fall der Mauer

Nur wenige Monate später fiel die Mauer. Berlin war wieder eine Stadt – mit zwei Universitäten, die um den Führungsanspruch rangen und um knappe Ressourcen konkurrierten. Die jahrzehntelange Erwartung, dass die Dahlemer Universität von der Wiedervereinigung unter dem Vorzeichen eines gescheiterten SED-Regimes symbolisch und politisch nur profitieren könne, erfüllte sich indes nicht. Der Umbau der Humboldt- Universität erhielt im Land Berlin, aber auch in der nationalen Wissenschaftspolitik, für mehr als zehn Jahre den Vorrang.

Viele Fäden drehten sich zu diesem Strang zusammen: der Wunsch, die historische Mitte Berlins wieder strahlen zu lassen, noch bevor die Hauptstadtentscheidung gefallen war; der Reiz eines radikalen Neuanfangs Unter den Linden, der in den ebenso rasanten wie teuren und effektiven Totalumbau prestigereicher Fächer wie der Geschichtswissenschaft führte; die mangelnde Fähigkeit einer angeschlagenen Freien Universität, ihren Führungsanspruch in dieser Situation selbstbewusst zu vertreten.

Politisch saß die West-Universität zwischen allen Stühlen: Wer den Systemsieg des Westens auskosten wollte, konzentrierte sich auf die Abwicklung der marxistisch-leninistischen Universität; wer sich dem Wessi-Triumph entgegenstellte, konnte erst recht nicht auf Dahlem setzen. Ohne die Wiedervereinigung hätte der Tanker Freie Universität seine 80er-Jahre-Fahrt fortgesetzt, mit ungewissem Ausgang. Mit ihr geriet er in schwere See und lief beinahe auf Grund.

Die Vereinigungskrise markierte jedenfalls eine tiefe Zäsur – die zweite in der Geschichte der Universität. Unter den Vorzeichen der allgemeinen Haushaltslage und der Präferenz für die Universität in Mitte musste die Freie Universität immer neue Sparauflagen erfüllen – und schrumpfen: Aus mehr als 60.000 Studierenden wurden innerhalb eines guten Jahrzehnts 40.000, und wenig später pendelte sich diese Ziffer zwischen 30.000 und 35.000 ein.

Gravierender und folgenreich für die wissenschaftliche Substanz und die Fächerstruktur war eine Halbierung der etatmäßigen Professuren: von mehr als 700 auf schließlich nur noch gut 350. Mit Mühen gelang es, das weite Spektrum einer Volluniversität zu bewahren, aber Wunden wurden geschlagen, und Narben blieben. Mit der evangelischen Theologie ging ein wichtiges geisteswissenschaftliches Fach verloren; von der Soziologie überlebte nur ein Restbestand. Den drohenden K.O.-Schlag in der Humanmedizin konnten heftige Proteste gegen die Umwandlung des Klinikums Benjamin Franklin in eine städtische Krankenanstalt 2002 gerade noch abwenden.

Die Freie Universität ist 2006/07 in den ersten Runden der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder erfolgreich. Mit ihrem Konzept der „International Network University“ sichert sie sich den begehrten Exzellenzstatus.

Die Freie Universität ist 2006/07 in den ersten Runden der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder erfolgreich. Mit ihrem Konzept der „International Network University“ sichert sie sich den begehrten Exzellenzstatus.
Bildquelle: Christian Kielmann

Aber Sieger nach Punkten war die Konkurrentin, der es gelang, den geschichts- und prestigeträchtigen Namen ihrer Klinik für die 2003 errichtete gemeinsame Universitätsmedizin beider Universitäten durchzusetzen: „Charité“. Der gleiche Coup glückte ein zweites Mal, als die Rekonstruktion des Stadtschlosses als Museumsstandort und nationaler Kulturpalast „Humboldt-Forum“ getauft wurde, während sich die in den Campus der Freien Universität verwobenen Dahlemer Museen zu einem großen Teil und kompensationslos auf den Rückweg nach Mitte machten.

Unter diesen äußeren Umständen konnte man es schon als Erfolg bewerten, dass die Freie Universität am Beginn des neuen Jahrtausends ihre institutionelle Existenz verteidigt hatte, statt zu einem Zweitcampus der Humboldt-Universität zu werden, oder auf den Status einer armen Landesuniversität abzurutschen, während die Schwester in Mitte, wie das manche Politiker eine Zeitlang kraftvoll betrieben, als Bundesuniversität besondere Privilegien und Förderung genossen hätte.

Die verordnete Schrumpfkur und der existenzielle Konkurrenzdruck entfalteten aber auch eine reinigende Wirkung und neue Kräfte der Selbstmotivierung. Die bleiernen Zeiten der 80er Jahre waren vorbei; manche Nischen der Bequemlichkeit, die zum Milieu dieser Universität wie West-Berlins im Ganzen gehört hatten, lösten sich unter diesem Druck auf.

Die Freie Universität besann sich auf ihre Stärken: in den Geistes- und Kulturwissenschaften oder den außereuropäischen „Area Studies“ ebenso wie in der internationalen Verflechtung und der Gleichstellung von Frauen. Darin zeigte sich Kontinuität zu den schwierigen 70er und 80er Jahren, aber auch die Fähigkeit zum Neubeginn, indem solche Stärken seit den späten 90er Jahren verblüffend erfolgreich in den Dienst einer neuen, effizienzorientierten Leitung der Universität gestellt werden konnten. Wichtiger noch, sie reüssierten im Kontext der neuen, wettbewerbsorientiert gesteuerten deutschen (und europäischen) Hochschul- und Forschungspolitik, die sich seit den frühen 2000er Jahren lagerübergreifend durchsetzte.

Erfolg in der Exzellenzinitiative

Das Trauma der Vereinigungskrise verblasste in der Exzellenzeuphorie: Zur Überraschung vieler war die Freie Universität 2006/07 in den ersten Runden der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder erfolgreich und sicherte sich mit ihrem Konzept der „International Network University“ den begehrten und finanziell reich ausgestatteten Exzellenzstatus, während die Humboldt-Universität leer ausging.

In diesem erneuten Umbruch profitierte die Freie Universität nun von der Dynamik der deutschen Einigung. Pointiert formuliert: War sie vorübergehend Verlierer der Wiedervereinigung Berlins, wurde sie später zum Gewinner der Vereinigung Deutschlands. Der Umzug von Parlament und Regierung seit 1998 etablierte ein neues Kraftzentrum in der Hauptstadt, das einen kaum vorhergesehenen Sog auch auf Kunst und Kultur, Wissenschaft und Forschung entfaltete.

Zum einen profitierten die Berliner Universitäten insgesamt von diesem neuen Milieu, von der Nähe zu Stiftungen und Think Tanks, Museen und freier Kunstszene, Politik und Verbänden. Zum anderen beschleunigte der gouvernementale Neoliberalismus der Berliner Republik, als Verbindung von staatlicher Planung und Steuerung mit Elementen des Wettbewerbs und der unternehmerischen Hochschulpolitik, die Umformung der bisherigen westdeutsch-föderalen Ordnung zugunsten des Wissenschaftsduopols von Berlin und München.

Das nutzte der Freien Universität im Prinzip genauso wie den beiden anderen Berliner Universitäten, einschließlich der Technischen Universität. Aber sie konnte daraus den größten Nutzen ziehen, aufgrund ihrer Traditionen ebenso wie dank einer besonders geschickten Führung durch das Präsidium, das seit 1994 in der ehemaligen Alliierten Kommandantur in der Kaiserswerther Straße operierte. Als die Humboldt-Universität 2012 der Freien Universität mit dem Exzellenzstatus folgte, änderte das nichts mehr an der Konstellation zweier Hauptstadtuniversitäten auf Augenhöhe zueinander.

Der Verlust des teilungsbedingten Sonderstatus ebenso wie die neuen Imperative der politischen Wissenschaftssteuerung haben auf diese Weise zugleich den Eigenweg der Freien Universität zunehmend aufgelöst – sie ist anderen deutschen Universitäten ähnlicher geworden, trotz der wachsenden Differenzierung der Hochschullandschaft und einer Spitzenstellung in dieser neuen Hierarchie.

Das gilt vielleicht weniger für die Forschung, aber umso mehr für Lehre und Studium, wo die Freie Universität zeitgleich mit ihrem Aufstieg in die „Exzellenz“ die radikale Transformation in das europäische System der modularisierten Bachelorund Masterstudiengänge bewältigte. Welchen Anteil „Bologna“ am Schwund studentischen Selbstbewusstseins und studentischer Handlungsmacht an dieser einst von Studierenden gegründeten Universität hat, ist schwer zu sagen. Auch die Einkapselung linker Milieus als Erbe von 68 wirkt an der Freien Universität stärker als anderswo nach.

Während sie in der Forschung mächtig aufgeholt haben, ist es den deutschen Universitäten in den vergangenen zwanzig Jahren nicht gelungen, den Studierenden jenen Platz zu geben, den sie in den überaus erfolgreichen angelsächsischen Universitäten einnehmen. Daran mag, gerade in Berlin, „1968“ seinen Anteil haben: durch das Streben nach Beteiligung in den Gremien bei gleichzeitigem Abwehrreflex gegen die Universität als studentischem Lebensraum im umfassenden Sinne.

Die in Berlin besonders ausgeprägte Tendenz zum Teilzeitstudium hat das seit den 1990er Jahren weiter befördert. Spätestens um 18 Uhr füllt sich die U3 und bringt die Dahlemer Studierenden in ihre Kieze und eigentlichen Lebensräume zurück, die noch weiter östlich liegen als teilweise schon vor 1989. Aber die Universität hat wie viele andere in Deutschland nie mehr energisch versucht, dem in der Entwicklung des Campus entgegenzusteuern. Selbst das weit im Westen abgelegene Studentendorf Schlachtensee, einst Vorzeigeprodukt von studentischer Selbstverwaltung und Gemeinschaftsleben, konnte vor Jahren gerade noch gerettet werden; von Neubauten für die Unterbringung von Studierenden in Dahlem keine Spur.

Allianz und Eigensinn

Wohin führt die Spur der Freien Universität? In vier markanten Situationen des Umbruchs hat sie sich konstituiert und, immer wieder unter Druck von außen und unter keineswegs selbstgewählten Umständen, neu erfunden. Trotz mancher Defizite steht diese Universität so gut da wie kaum zuvor in ihrer siebzigjährigen Geschichte. Die seit 2006 gezogene Spur setzt sich fort: mit erfolgreichen Clusteranträgen in der Exzellenzstrategie, mit neuen Impulsen der internationalen Verflechtung aus den Strategischen Partnerschaften, etwa mit Jerusalem oder Berkeley, oder der vertieften Kooperation aller Berliner Universitäten mit dem Dahlemer Vorbild Oxford.

Fortsetzen werden sich aber auch die Spur der externen politischen Steuerung und die Herausforderungen, das eigene Profil zu schärfen – nicht zuletzt durch den Verbund der drei großen Berliner Universitäten in der „Berlin University Alliance“ – selbst wenn die Vorteile, die für die Freie Universität aus diesem Konsortium resultieren, überwiegen mögen. Eines aber wird sich nicht ändern: die Prägekraft der Dahlemer Topografie, der so charakteristischen, weil nicht nur charmanten, sondern zugleich stimulierenden Randlage im Südwesten Berlins.

Wenn man an der Boltzmannstraße steht zwischen dem Henry-Ford-Bau und den Hausnummern 3 und 4, dort, wo im Herbst 1948 alles begann; wenn man in Dahlem-Dorf, gegenüber dem Eingang zur Domäne, aus der U-Bahn kommt; wenn man sich durch das Straßengewirr der Rost- und Silberlaube schlägt oder in einer der verbliebenen Villen die Köpfe heißredet – dann ist man damals wie morgen in der Freien Universität.

                                                                                                                                                                            Paul Nolte


 

 

Der Autor

Univ.-Prof. Dr. Paul Nolte

Paul Nolte, seit Juli 2005 an der Freien Universität Berlin Professor für Neuere Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte in ihren internationalen Verflechtungen, ist eine vielgehörte Stimme in den öffentlichen Debatten und schreibt nun schon zum fünften Mal für das Wissenschaftsmagazin fundiert. Demokratie und soziale Bewegungen sowie die Wissenschaftsgeschichte der Bundesrepublik sind einige seiner Schwerpunkte in Forschung und Lehre. An der Freien Universität war er viele Jahre Mitglied des Akademischen Senats, hat den Masterstudiengang Public History mitgegründet und ist seit 2016 Sprecher des Dahlem Humanities Center. 2016/17 war er Richard von Weizsäcker- Fellow am St Antony’s College, Oxford. Seit 2009 ist er außerdem Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin.

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