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Gelebte Internationalität an der Freien Universität

Ein Essay von Susanne Zepp, Professorin für Romanische Philologie an der Freien Universität

03.12.2018

Internationale Beziehungen

Internationale Beziehungen
Bildquelle: Lena Pflüger

Der erste Französischlektor an der 1948 gegründeten Freien Universität war Claude Lanzmann, der spätere Regisseur von Dokumentarfilmen wie Shoah. In seinen Lebenserinnerungen schreibt er über diese Zeit: „Ich merkte bald, dass ich diesen Beruf liebte.“ Der Grund: die Studierenden seiner Seminare und Vorlesungen. Gegenseitiger Respekt und Vertrauen waren bald so groß, dass inmitten der Gründungsgeschichte der Freien Universität ein Seminar stattfinden konnte, das in der Universitätslandschaft im Nachkriegsdeutschland vermutlich einzigartig war.

Eine Abordnung von Studierenden bat Lanzmann, ein Seminar über Antisemitismus zu halten. „Sie mochten mich, ich unterhielt mit ihnen sehr gute Beziehungen, freie Beziehungen. […] Das Seminar bereicherte uns alle, die Fragen der Studenten halfen mir sehr, und ich half ihnen wohl auch. Es war kein Vortrag ex cathedra, sondern im Gegenteil ein beständiger Austausch zwischen ebenbürtigen Personen desselben Alters. Ich erzählte ihnen, was mir und meiner Familie im Krieg, in der Résistance, in der Shoah widerfahren war, oder wenigstens, was ich damals darüber wusste (…). Das Seminar fand einmal in der Woche statt, und es begeisterte uns, die Studenten und mich, gleichermaßen.“

Diese Episode aus der Geschichte des Instituts für Romanische Philologie lässt deutlich werden, wie eng historische Erkenntnis, demokratische Bildung und die Internationalität der Freien Universität schon in den ersten Semestern miteinander verflochten waren. Ohne den aus Paris stammenden Dozenten hätten die Studierenden des Sommersemesters 1949 solch ein Seminar wohl nicht erleben können, und es ist alles andere als Zufall, dass Lanzmann in seinen Memoiren davon berichtet, wie Studierende dieses Seminars dann später mit Stipendien nach Frankreich kamen.

Zugleich wird deutlich, was nicht nur die Geschichte, sondern auch die Gegenwart an der Freien Universität prägt – Internationalität ist hier kein Selbstzweck, sondern wird institutionell wie persönlich jeden Tag aufs Neue gelebt. Das gilt für die Mobilität von Dozierenden und Studierenden – von Berlin in die Welt, aus der ganzen Welt nach Dahlem –, das gilt für die sieben Verbindungsbüros in Brüssel, Kairo, Neu-Delhi, New York, Moskau, Peking und São Paulo, für die sechs strategischen Partnerschaften – mit der Hebrew University of Jerusalem, der Peking University, der Saint Petersburg State University, der University of British Columbia, der University of California, Berkeley, und mit der Universität Zürich, schließlich für die vielfältigen internationalen Kooperationsprojekte, die in den Fachbereichen und Instituten verankert sind.

Diese seit Langem an der Freien Universität gelebte Internationalität ist auch in der Lehre zu spüren – unsere Studierenden kommen aus der ganzen Welt und gehen auch dorthin, mit den Direktaustauschprogrammen, mit Erasmus und Erasmus +. Für die Studierenden ist eine globalisierte Lebenswelt mittlerweile selbstverständlich, und sie fordern völlig zu Recht diese Selbstverständlichkeit ein. Wir suchen immer eine gemeinsame Sprache – bei uns am Institut etwa Spanisch, Französisch, Portugiesisch, Italienisch, Englisch oder Deutsch –, aber das traditionell internationale „Klima“ auf dem Campus Dahlem lädt nachgerade dazu ein, immer noch weiterzudenken: Im laufenden Semester leite ich ein Seminar zur weltweiten Lorca-Rezeption, wir diskutieren Texte nicht nur aus den romanischen und den deutsch- und englischsprachigen Literaturen, sondern auch solche aus den arabisch-, chinesisch-, hebräisch-, türkisch-, polnisch- und russischsprachigen Literaturen.

An der Freien Universität kann ich sicher sein, dass solch ein Seminar auch deshalb spannend sein wird, weil Muttersprachlerinnen und Muttersprachler aus diesen und anderen Sprachkulturen dabei sein und das Seminar bereichern werden.

Diese in der Lehre gelebte Internationalität wirkt sich auch auf die Forschung aus – und von dort wieder in die Lehre zurück. Um nur drei Beispiele zu nennen: An meinem Arbeitsbereich entsteht derzeit eine Dissertation über die mosambikanischen und senegalesischen Literaturen, eine Habilitationsschrift über den Dialog mit China in den lateinamerikanischen Literaturen und eine Doktorarbeit über eine aus Berlin nach Porto gelangte jüdische Autorin, die eine der wichtigsten portugiesischsprachigen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts geworden ist: Ilse Losa.

Unsere Arbeit ist eng in das Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen weltweit eingebunden, viele Einsichten würden ohne diesen grenzüberschreitenden Dialog gar nicht entstehen können. Mit einer unserer Gastprofessorinnen an der Freien Universität, Ruth Fine aus Jerusalem, ist aus dem Gespräch ein ganzes Handbuchprojekt entstanden, in dem wir die Bandbreite der jüdischen Literaturen in spanischer und portugiesischer Sprache veranschaulichen werden.

Wunderbar ist es immer wieder zu erleben, wie gerne Studierende sowie Kolleginnen und Kollegen zu uns nach Dahlem kommen. Das liegt auch daran, dass die Internationalität an der Freien Universität auf allen Ebenen wichtig ist, nicht nur in Forschung und Lehre, sondern auch in der Bibliothek, in der Verwaltung, im Präsidium, aber auch im einzelnen Sekretariat oder im Prüfungsbüro. Unsere Vize-Präsidentin für Internationales, Professorin Blechinger-Talcott, und auch die Kolleginnen und Kollegen in der Abteilung Internationales und im Center for International Cooperation unterstützen uns jederzeit mit Rat und Tat – das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern Zeichen dafür, wie wichtig der Freien Universität ihre Internationalität ist.

Und durch die gemeinsame internationale Betreuung von Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Qualifikationsphase entstehen nicht nur akademische Netzwerke, sondern auch Freundschaften Während meiner Gastprofessuren in Jerusalem, Tel Aviv und Paris und während vieler Forschungsaufenthalte, die mich unter anderem nach Chicago, New York, São Paulo, Warschau und Madrid geführt haben, konnte ich erleben, was es heißt, dass unsere philologische Heimat nicht die Nation, sondern die Erde ist – das ist ein Zitat aus Erich Auerbachs faszinierendem

Text mit dem Titel „Philologie der Weltliteratur“ Peter Szondi, der Gründer des heute nach ihm benannten Instituts für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, an dem ich promoviert habe, hat dies in seiner Arbeit in den 1960er und 1970er Jahren schon institutionell wie akademisch gelebt. So ist die Geschichte der Freien Universität für uns heute Verpflichtung und gelebte Alltagskultur zugleich – ihre Internationalität öffnet Studierenden und Lehrenden jeden Tag den Blick für neue Horizonte.


Prof. Dr. Susanne Zepp

Susanne Zepp ist seit September 2011 Professorin für Romanische Philologie an der Freien Universität. Zuvor war sie Stellvertretende Direktorin des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig (2003 – 2015). 2015 erhielt sie ein Feodor-Lynen-Forschungs-Stipendium für erfahrene Wissenschaftlerinnen der Alexander von Humboldt-Stiftung an der Tel Aviv University und der Hebrew University of Jerusalem.

Im September 2017 war sie Senior Research Fellow der Martin Buber Society an der Hebrew University, im März 2018 Gastprofessorin an der L’École des hautes études en sciences sociales, im September 2018 nahm sie an der Ehrung internationaler Hispanisten in der Real Academia Española und am Spanischen Königshof teil. In Forschung und Lehre beschäftigt sie sich mit den Literaturen in spanischer, portugiesischer, französischer Sprache sowie jüdischen Literaturen. Mit dem Kriminologen Klaus Hoffmann-Holland forscht sie in einem interdisziplinären rechts- und literaturwissenschaftlichen Projekt über die historische Semantik juristischer Schlüsselbegriffe.

Kontakt:
Freie Universität Berlin

Institut für Romanische Philologie
E-Mail: susanne.zepp@fu-berlin.de