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Sylt oder Seychellen

Warum reisen die Deutschen?

31.05.2007

Oliven

Oliven

Die Reiselust der Deutschen bleibt ungebrochen, obwohl inzwischen allen Reisenden bewusst ist, dass dies – vor allem beim Flugzeug oder PKW – mit einem immensen Energieverbrauch beziehungsweise CO2 -Ausstoß verbunden ist. Als Folge hallte nach Veröffentlichung des letzten Klimaberichts der Vereinten Nationen auch bald der Schlachtruf „Nach Sylt oder auf die Seychellen?“ aus Politik und Tourismusbranche. Sollen die Deutschen nicht lieber im eigenen Land Urlaub machen, anstatt mit großem Energieaufwand zu Trauminseln in die Ferne zu schweifen?


Nur knapp 30 Prozent der Haupturlaubsreisenden bleiben im Inland.
Foto:skaisbon/photocase

Trotz aller möglichen Umweltfolgen zieht es die Deutschen jedes Jahr wieder an die See und in die Sonne. Nur knapp 30 Prozent der Haupturlaubsreisenden bleiben im Inland, 70 Prozent steuern ausländische Ziele an, vor allem Sonnenziele in Spanien und Italien. Allein nach Mallorca fliegen jährlich 5 Millionen deutsche Urlauber – ein Menschenstrom, den die Insel Sylt oder andere deutsche Zielgebiete gar nicht verkraften könnten. Selbst umweltbewusste Touristen verzichten bei ihrer Urlaubsreise nicht auf die Nutzung von Flugzeug oder PKW – im Gegenteil: Gerade bei diesen Reisenden sind solche Verkehrsmittel sogar häufiger anzutreffen. Eine Urlaubsreise besitzt eine hohe Konsumpriorität. Auf die Frage, wo Einsparungen am schwersten fallen, nannte im Jahr 2005 rund ein Drittel der Befragten die Urlaubsreise. Damit rangiert sie an dritter Stelle nach Lebensmitteln und Gesundheit. Der Anteil der Deutschen, der jährlich mindestens eine Urlaubsreise unternimmt, stieg von 24 Prozent im Jahr 1954 auf 78 Prozent im Jahr 1995 und erreichte damit seinen Höhepunkt. Inzwischen pendelt sich dieser Wert bei rund 75 Prozent ein, das heißt dreiviertel der Deutschen über 14 Jahre unternehmen mindestens einmal im Jahr eine Urlaubsreise. Insgesamt sind dies etwa 65 Millionen Urlaubsreisen im Jahr von mehr als 5 Tagen Dauer.

Ungetrübte Reiselust

Nicht nur der Wohlstand, die erhöhte Mobilität durch moderne Transportmittel oder die vielen Billigangebote von Reiseveranstaltern und sogenannten Low-Cost-Carriern tragen zur ungetrübten Reiselust bei. Die tiefer liegenden Ursachen des Reisens sind auch anderswo zu suchen. Daher beschäftigen sich vor allem Historiker, Geographen, Psychologen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler, aber auch Schriftsteller mit dem Phänomen Tourismus und Reisen. Die Psychologen haben vor allen Dingen die messbaren Reisemotive zum Gegenstand ihrer Forschung erkoren. Sie sprechen zum Beispiel schlicht von „ausspannen und erholen“, vom „Tapetenwechsel“ oder „frische Kraft gewinnen“. Soziologen befassen sich mit der „Regeneration der Arbeitskraft“ oder – sozialistisch ausgedrückt – mit der „Reproduktion der Arbeitskraft“.
Wieder andere reden vom Wander- und Reisetrieb oder von einem sogenannten Nomaden-Gen. Kulturwissenschaftler definieren Reisen als Flucht aus dem Alltag oder als Prestigekonsum, als Imitation, als Erfahrungskonsum: „Reisen zu imaginären und inszenierten Welten“.


Landestypische Spezialitäten zu essen, liegt bei den Aktivitäten im Urlaub auf Platz eins.
Foto: Mike Vale/photocase

Reise- und Urlaubsmotive

Die einfachste Antwort erhält man in Umfragen auf erhobene Reise- und Urlaubsmotive: „Worauf kommt es Ihnen beim Urlaub eigentlich an?“ fragt eine jährliche repräsentative Marktforschungsstudie 6.000 Deutsche über 14 Jahre. Die meistgenannte Antwort: „Entspannen, weg vom Alltag, frische Kraft sammeln“. Motive wie „etwas für Kultur und Bildung tun“ liegen mit 16 Prozent weit abgeschlagen in den unteren Positionen. Damit verbunden ist natürlich, dass der sogenannte „Ausruh- Urlaub“ mit 39 Prozent, der „Strand-Urlaub“ mit 37 Prozent entsprechend häufig, „Studien- und Bildungsreisen“ dagegen nur von vier Prozent der Befragten als Urlaubsart genannt werden.
Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich auch bei der Frage nach den Aktivitäten im Urlaub. Ganz oben in der Rangfolge liegen „landestypische Spezialitäten gegessen“ (62 Prozent), „Ausflüge in die Umgebung gemacht“ (59 Prozent) und „ausgeruht, viel geschlafen“ haben immerhin noch 53 Prozent der Deutschen während ihres Urlaubs, dagegen nehmen sportliche Betätigungen in der Gunst der Urlauber nur die unteren Ränge ein. Da die Ergebnisse dieser Motivforschung mit einigen methodischen Problemen (wie der Reflexions- und Artikulationsfähigkeit der Probanden) behaftet sind, erbringen sie keine eindeutigen Erkenntnisse über die tatsächlichen Ursachen des Reisens. Daher stehen seit dem Durchbruch des Massentourismus in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts einige theoretische Ansätze zur Diskussion.

Reisen als Erholung

Zu den wohl häufigsten, aber auch banalsten Thesen gehört der Ansatz, dass Ferien und Reisen der Erholung dienen. Die Untersuchungsergebnisse aus der Motivforschung lassen vor allem auf diese Erholungsfunktion schließen. Dabei stößt allerdings die Definition von Erholung auf Schwierigkeiten: Gilt die Erholung der „psychischen und physischen Regeneration“, der „Kompensation arbeitsbedingter Ermüdungszustände“ oder einer „Stimulation, aus der alltäglichen Monotonie herauszukommen“? Die Antwort kann sehr unterschiedlich ausfallen. Schon durch das Verlassen des gewohnten Lebenszusammenhangs – so der Soziologe Erwin K. Scheuch – entstehe ein „Regenerationseffekt“: der Tourismus als Ventil für den Überdruck, der sich im normalen Leben anstaut. Wie aber entsteht der Wunsch nach Distanz? Kann man sich nicht auch zuhause erholen? Wie strukturiert sich die Erfahrungswelt des Urlaubs, die Erholung gewährleisten soll? Die „Erholungstheorie“ und auch „Stresstheorie“ geben hierauf ungenügende Antworten. In seinem Essay von 1958 über die „Theorie des Tourismus“ vertritt der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger die viel beachtete These, dass Reisen eine Flucht aus den Zwängen des unwirtlichen Alltags und der monotonen Arbeitswelt sei.


Kann man sich nur im Ausland erholen? 70 Prozent der Deutschen sagen ja – und heben ab.
Foto: pixelquelle

Reisen als Flucht

Die Idealisierung, zum Beispiel die der unberührten Natur und Geschichte sowie die Suche nach Freiheit, deren Wurzeln in der Romantik zu suchen sind, gehört auch heute noch zum Leitbild des Tourismus. Die Suche nach der Freiheit „ist nichts anderes als der Versuch, den in die Ferne projizierten Wunschtraum der Romantik leibhaftig zu verwirklichen“. Dies habe jedoch dazu geführt, dass „sich der Sieg des Tourismus als Pyrrhussieg“ erweist.
„Die Flucht aus der industriellen Welt hat sich selbst als Industrie etabliert“. In diesem Zusammenhang spricht Enzensberger auch vom Tourismus als einer Industrie großen Stils, für die Normung, Montage und Serienfertigung unentbehrlich ist. Die Suche nach Freiheit betrachtet er als Massenbetrug: „Indem wir auf die Rückfahrkarte in unseren Taschen pochen, gestehen wir ein, dass Freiheit nicht unser Ziel ist, dass wir schon vergessen haben, was sie ist. Oder nach Weininger: Von einem Bahnhof aus kann man niemals in die Freiheit fahren!“ Diese kulturkritische Betrachtungsweise des Reisens, die als „Weg-von-Motivation“ interpretiert wird, hat heute noch Bedeutung, wenn es um die allseits bekannten negativen ökologischen und sozialen Auswirkungen des Massentourismus geht. Von einer Faszination oder gar von Glücksmomenten des Reisens und damit einer „Hin-zu-Motivation“ ist bei Enzensberger nicht die Rede. Ein ebenfalls eher negatives Erklärungsmodell ist bei dem Soziologen Hans-Joachim Knebel zu finden.

Reisen als Prestigekonsum

Vor allem der auch heute noch im Trend liegende „demonstrative Erfahrungskonsum“ steht im Vordergrund seiner Überlegungen. Prestigedenken und soziale Anpassung beziehungsweise „mitreden können“ sind die Hauptmotive der Reise. Der Nachbar reist, also muss ich auch reisen. Waren früher die mitgebrachten Reiseandenken der Adligen noch seltene und wertvolle Kunst- und Erinnerungsgegenstände, entsteht mit der Sozialisierung des Reisens eine minderwertige Andenken-Kitsch-Industrie, die eher als äußere Kennzeichnung des Reiseziels zu verstehen ist. Flug- und Hotelgesellschaften verteilen Reisetaschen und Kofferaufkleber, die als Statussymbole der touristischen Gesellschaft zu werten sind. Reiseerfahrung und Klassenzugehörigkeit werden auf diese Weise demonstriert. Statt Reisetagebuch oder Briefe sind es Ansichtskarten, die dem Empfänger zeigen, dass man es sich leisten kann, an diesem oder jenem Ort Urlaub zu machen. Sie stabilisieren das soziale Ansehen. Dieser Ansatz hat auch heute noch Bedeutung, ist jedoch als theoretische Grundlage zu einseitig, da der Prestigekonsum ein allgemeines Phänomen ist, das somit das Spezifische des Tourismus nicht erfassen kann.

Reisen als Trieb


Schon William Turner prägte mit seinen Gemälden – hier der Gotthardpass –den touristischen Blick. Aquarell aus dem Jahr 1804.
Foto: KHI

Dass Reisen ein angeborenes Bedürfnis des Menschen sei, ist häufiger in der Literatur zu finden. Der Entdeckungsdrang und die Neugierde sind Urtriebe des Menschen, die beim Reisen zum Ausdruck kommen. Die Maslow‘sche Bedürfnispyramide – entwickelt vom US-amerikanischen Psychologen Abraham Maslow – bietet ausreichend Spielraum für verschiedene Interpretationen. Während die Urlaubsreise als sogenanntes Entwicklungsbedürfnis am ehesten in der obersten Stufe der Pyramide, der Selbstverwirklichung, zu verorten ist, gehen andere Autoren davon aus, dass schon in der untersten Stufe, nämlich bei den Grundbedürfnissen, primitive Massenreisen befriedigt werden können – sprich: Angebote mit bequemer Unterkunft und einfacher Verpflegung. In der zweiten Stufe, der Befriedigung der Sicherheitsbedürfnisse, werden Reisen zur Regeneration und zur Kur verankert, bei den sozialen Bedürfnissen lassen sich Reisen mit dem Ziel, „Kontakte zu anderen Menschen herzustellen“, unterbringen. Bei den Bedürfnissen nach der Wertschätzung kommt wiederum Reisen als Prestige und Anerkennung zum Ausdruck.

Reisen als Pilgertum

Als alleiniges Erklärungsmodell taugt auch dieser Ansatz nicht, da nicht klar ist, warum sich gerade das Reisen als Massenphänomen entwickelt – und nicht andere Erlebnisbereiche. Vor allem angelsächsische Autoren ziehen Parallelen zwischen Tourismus und Pilgertum. Für den Soziologen und Autor Dean MacCannell spiegelt sich im Tourismus die abendländische Tradition zur Selbstfindung wider, die Suche nach dem absolut Anderem. Wie Pilger wandern die modernen Reisenden zu „sakralen“ Plätzen, zu Sehenswürdigkeiten, an denen sie die Erfahrung der Transzendenz und Authentizität machen. Andere Autoren kommen zu Analogieschlüssen, in dem sie das Geburtshaus Mozarts in Salzburg oder Disney World in Florida mit klassischen Pilgerzielen gleichsetzen. Die Authentizität von Kunstwerken oder auch besonderen Naturräumen vermittelt eine Aura des „Quasi-Sakralen“. Da diese Art des Reisens nur für einen Teil von Touristen gilt, ist die Frage nach einem allgemeingültigen Sinn des Reisens damit allein nicht beantwortet.
Dieser Ansatz geht davon aus, dass die touristische Wahrnehmung nicht an einem realistischen Bild der besuchten Gebiete interessiert ist, sondern mit Hilfe von Fantasien und Projektionen eigene Erfahrungsräume entwickelt werden. Touristen suchen vor allem „die sinnliche Erfahrung imaginärer Welten“, so die These des Soziologen Christoph Hennig. Die Tourismusbranche hat darauf mit der „Herrichtung eigener Erlebnisbereiche“ in Form von Themen- und Vergnügungsparks beziehungsweise inszenierten Erlebniswelten reagiert. Befreit von den Zwängen des Alltagslebens, orientiert man sich an kollektiven Fantasien und individuellen Bedürfnissen. Tourismuskritiker bezeichneten diese Entwicklung als Verirrung des modernen Massentourismus, vergessen dabei aber, dass von jeher der touristische Blick von Reiseliteratur, wie bei Rousseau, und Gemälden, wie denen von William Turner, geprägt wurde und zwischen Realität und Fiktion kaum zu unterscheiden war.

Reisen zu imaginären und inszenierten Welten


Touristen als moderne Pilger auf der Reise zu „sakralen“ Plätzen? Gebetsmühlen in Nepal.
Foto: Jason Maehl /fotolia

Auch die heutigen Medien tragen zu diesen klischeehaften Vorstellungen von Urlaubswelten bei. Die erfolgreiche Umsetzung und Realisierung von inszenierten Welten auf dem internationalen Tourismusmarkt sprechen für diese These, auch wenn damit nicht alle Reisenden angesprochen werden. Ob es nun die Erholungs- oder Stresstheorie ist, das Reisen als Prestigekonsum, Trieb oder Pilgertum, die Suche nach imaginären Welten – allen gemein ist die „Distanz zur gewohnten Umgebung“, die Differenzerfahrung: von der reduzierten Körpererfahrung im Alltag zur intensiven Körpererfahrung im Urlaub, zum Beispiel beim Badeurlaub; Reiseabenteuer und -erlebnisse versus Eintönigkeit im Alltag; das einmalige Erlebnis unberührter Natur oder die Teilnahme an kulturellen oder sportlichen Events; das „swinging life“ der Weltmetropolen mit ihren unendlichen Freizeitangeboten.

Reisen als Differenzerfahrung

Die Aufhebung von Alltagsnormen, der Kontrast zum Alltag kann als „rauschhafte und beglückende Erfahrung“ empfunden werden, schreibt Christoph Hennig. Er interpretiert damit das Reisen als positive Erfahrung und daher als „Hin-zu-Bewegung“: „Die enorme Verbreitung des Tourismus hat gewiss soziale und ökonomische Voraussetzungen … wie Wohlstand, mehr Freizeit, erhöhte Mobilität, territoriale Sicherheit … und führt in materiell greifbare Welten, bleibt aber dennoch dem Imaginären, den Träumen und Wünschen verhaftet“, so Hennig. Der Kulturhistoriker Hasso Spode fasst diese Ansätze im Begriff der „Zeit-Reise“ zusammen: Der Tourismus ist demnach eine spezifisch moderne Form universeller Motive, die sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat – er ist Ausdruck der Sehnsucht nach einer besseren Welt, nach dem Erleben von Natur und Freiheit, die durch den „rasenden Fortschritt“ stets bedroht sind. So gewaltig ist diese rückwärtsgewandte Sehnsucht, dass sie eine der größten Wirtschaftsbranchen in Gang hält. Betrachtet man abschließend die unterschiedlichen theoretischen Erklärungsmuster des Reisens, so zeigt sich zum einen, dass es keine eindeutige Theorie des Tourismus gibt, zum anderen aber auch die Erkenntnis, dass es sehr schwer sein dürfte, die unendliche Reiselust der Deutschen, das Bedürfnis nach Differenzerfahrung zu bremsen oder gar die Reisesströme in solche Regionen umzulenken, die mit umweltfreundlichen Verkehrsmitteln und damit energiesparend in deutschen Landen erreichbar sind. Vielleicht ergibt sich erst durch eine zunehmende Reisesättigung eine Umorientierung auf die eigene Region. Die Umwelt würde es danken.