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Kanada, das nördlichste Amerika

Identitätsstiftende Abgrenzung von den USA

04.12.2007

Ungewöhnlich spät, erst 1990, trat Kanada der schon 1948 gegründeten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bei.

Ungewöhnlich spät, erst 1990, trat Kanada der schon 1948 gegründeten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bei.
Bildquelle: OAS

Kanada liegt zwar geografisch in der amerikanischen Hemisphäre, doch lange Zeit waren die kanadischen Verbindungen zu den Staaten und Gesellschaften des amerikanischen Kontinents – mit Ausnahme der USA – eher lose. Einwanderer aus Lateinamerika kamen erst in den 1970er Jahren in größerer Zahl nach Kanada, darunter viele politische Flüchtlinge aus Chile. Aus der Karibik, und hier vor allem aus Jamaika und Haiti, zog es zwar schon in den 1960er Jahren viele Menschen in die großen Städte, nach Toronto und Montreal, doch firmieren diese Immigranten als „latecomers“ in dem klassischen Einwanderungsland Kanada. Hinzu kommt, dass das offizielle Kanada wenig an der amerikanischen Hemisphäre interessiert war. Erst in den 1990er Jahren wurden die anderen amerikanischen Staaten politisch „(wieder-)entdeckt“.

1990 trat Kanada der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) bei. Dass Ottawa in diesem wichtigen regionalen Forum, das schon 1948 gegründet worden war, bis zu diesem Zeitpunkt nicht vertreten war, ist eher ungewöhnlich, war Kanada doch seit 1945 Gründungsmitglied vieler internationaler Zusammenschlüsse: UNO, NATO, Francophonie und Commonwealth. Mehr noch: Multilateralismus avancierte als eine der wichtigsten Konstanten im Selbstverständnis kanadischer Außenpolitik. Umso mehr verwundert es, dass Kanada jener multilateralen Organisation erst so spät beitrat, die geografisch in unmittelbarer Nähe angesiedelt war.

Ottawa hält sich zurück

Im Wesentlichen gab es zwei Gründe für Ottawas Zurückhaltung. Kanada fürchtete, dass die USA die OAS zu sehr dominieren könnten. Man wollte vermeiden, US-amerikanischer Politik in der Hemisphäre blind folgen zu müssen. Je mehr amerikanische Politiker den Beitritt der Kanadier forderten, wie das etwa John F. Kennedy im Jahre 1961 tat, umso weniger war die kanadische Regierung gewillt, sich in der Hemisphäre zu engagieren. Hinzu kamen die Erfahrungen Kanadas aus dem Jahr 1944: Während die lateinamerikanischen Staaten, allen voran Brasilien, Mexiko und Argentinien, bei den Gesprächen über eine internationale Nachkriegsordnung für regionale Vertreter in den zu schaffenden Gremien plädierten, favorisierte Kanada eine funktionalistische Lösung. Danach betrachtete Kanada diese Staaten noch als Konkurrenten für die eigene zukünftige Mittelmachtposition Kanadas in der Welt.
Mittlerweile sind es aber genau diese Staaten, die das erneute Interesse Kanadas an der amerikanischen Hemisphäre begründen. Als das Freihandelsabkommen zwischen Kanada und den USA von 1989 fünf Jahre später um Mexiko zum North American Free Trade Agreement (NAFTA) erweitert wurde, knüpfte Kanada wieder engere Verbindungen zu Mexiko.

Kanada teilt sich als zweitgrößtes Land der Erde eine fast 9.000 Kilometer lange Grenze mit dem direkten Nachbarn USA.
Quelle: iStockphoto

Drei Staaten rücken enger zusammen

Allerdings gestalten sich die trilateralen Beziehungen in Nordamerika häufig eher als eine Addition der bilateralen Beziehungen USA/Kanada und USA/Mexiko. Dennoch: Die Zugehörigkeit zum nordamerikanischen Wirtschaftsraum führt dazu, dass alle drei Staaten enger zusammenrücken, auch aufgrund gemeinsamer Sicherheitsinteressen oder durch die zunehmende Migration innerhalb dieser Länder. Die Zahl mexikanischer Einwanderer nach Kanada nimmt in den letzten Jahren merklich zu und stieg zwischen 1998 und 2003 um fast 70 Prozent. Auch Brasilien spielt eine wichtige Rolle in der kanadischen Außen- und Wirtschaftspolitik. Im Rahmen der mittlerweile festgefahrenen Verhandlungen zu einer hemisphärischen Wirtschaftsordnung (Free Trade Area of the Americas, FTAA) galt und gilt Brasilien als wichtiger Partner. Die Erklärung zur Internationalen Politik Kanadas von 2005 bezeichnet das südamerikanische Land neben China und Indien gar als „neu entstehenden Giganten“, dem die kanadische Außenpolitik in Zukunft mehr Aufmerksamkeit widmen müsse.
Eine weitere Säule kanadischer Außenpolitik in der amerikanischen Hemisphäre ist die Haiti-Politik. Seit den 1980er Jahren beteiligte sich Kanada an mehreren Missionen der UN und OAS in dem Karibikstaat. Die aktuelle kanadische Regierungserklärung vom Oktober 2007 erhebt die wirtschaftliche und politische Stabilisierung Haitis zur Chefsache. Einige Kommentatoren spekulieren jedoch, dass dieses Interesse nicht nur direkt der prekären Lage dieses hemisphärischen Nachbarn geschuldet ist, sondern auch auf innenpolitischer Opportunität basiert: Die haitianischen Einwanderer sind eine wichtige Gemeinschaft, die vor allem in Montreal stark vertreten und politisch sehr aktiv ist.

Schlüsselprioritäten kanadischer Außenpolitik

Zurzeit gehören die Amerikas offiziell zu den drei Schlüsselprioritäten kanadischer Außenpolitik – eine noch sehr junge Entwicklung, da Kanada die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts an Lateinamerika und der Karibik nicht viel Interesse bekundete. Eine wichtige Ausnahme sind Ottawas Beziehungen zu Kuba, da sie auch das Verhältnis Kanadas zu den USA betreffen.
Der kanadische Premierminister Pierre Trudeau war 1976 der erste Staatschef eines NATO-Mitgliedslandes, der Fidel Castro in Havanna offi ziell einen Besuch abstattete. Als der kanadische Premierminister Jean Chrétien im Mai 1998 mit dem Revolutionsführer zusammentraf, war dies der erste offi zielle Besuch eines westlichen Staatschefs in Kuba seit zwölf Jahren. Selbst unter konservativen Premierministern wurden die Beziehungen nie ganz gekappt. Dies hatte zu Verstimmungen im Verhältnis zu den USA geführt. Die USA reagierten darauf unter anderem mit dem Helms-Burton-Gesetz von 1996: Es erlaubte US-Bürgern, ausländische Firmen und Investoren zu verklagen, die mit Kuba Geschäftsbeziehungen unterhalten und die beschlagnahmtes USamerikanisches Eigentum betreffen. Wie die Beispiele der kanadischen Freihandels- und Kubapolitik zeigen, ist Kanadas Rolle in der amerikanischen Hemisphäre eng verknüpft mit seinem Verhältnis zu den USA. Kanada ist zwar das zweitgrößte Land der Erde, hat aber nur den einen direkten Nachbarn USA, mit dem es sich eine fast 9.000 Kilometer lange Grenze teilt und in dessen Schatten es zu stehen scheint.

Haben die Einwohner Vancouvers mit ihren amerikanischen Nachbarn in Seattle mehr gemein als mit den weit entfernten Kanadiern an der Ostküste?
Quelle: Christopher Howey / fotolia

Kanada in Nordamerika

Kanadier sehen sich auch nicht als Amerikaner, diese Bezeichnung ist den US-Amerikanern vorbehalten.
Sie sind Kanadier, und als solche genießen sie weltweit mehr Sympathie als ihr mächtiger Nachbar. Ein Umstand, der angeblich dazu geführt hat, dass US-Amerikaner lieber mit dem Ahornblatt auf dem Rucksack durch die Welt reisen, damit sie unbehelligt bleiben. Kanada scheint auch für das „bessere Nordamerika“ zu stehen, eine Einschätzung, die sowohl intern forciert, aber auch von außen konstruiert wird. Das hat zum einen mit dem kanadischen Selbstverständnis als Verfechter einer multilateralen internationalen Ordnung und seinem Peacekeeping-Engagement zu tun. Legendär ist der Werbespot einer kanadischen Biermarke, in der kanadisches „Peacekeeping“ US-amerikanischem „Policing“ gegenübergestellt wird: eine Unterscheidung, die angesichts der derzeitigen kanadischen Afghanistan-Mission nicht mehr so offensichtlich scheint.

Benannt nach dem russischen Gelehrten Michail Lomonossow, geriet der gleichnamige Rücken im Arktischen Ozean wegen erhoffter Bodenschätze in den Blickpunkt von Dänemark, Russland und Kanada.
Quelle: wikipedia

Frieden und Ordnung, gutes Regieren und Verwalten

Auch die politische Kultur der beiden Nachbarn unterscheidet sich. In Kanada gehören „Frieden und Ordnung, gutes Regieren und Verwalten“ zu den Gründungstugenden, in den USA hingegen sind dies „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“. In Kanada gibt es statt eines Präsidenten einen Premierminister, und zu den etablierten Parteien gehören neben den Konservativen und Liberalen auch Sozialdemokraten. Im Gegensatz zu den USA erwarten Kanadier von ihrer Regierung die Lösung drängender Probleme, die in den USA auch gerne einmal selbst angepackt werden. Auch in Kanada wird individualistische Tradition großgeschrieben, zumindest in Alberta, der ölreichen Provinz im Westen des Landes. Und so streiten sich die Experten noch immer darüber, ob die unterschiedlichen Werte entlang des 49. Breitengrades oder doch eher entlang geografischer Großregionen anzusiedeln sind, die sich in Nord-Süd-Richtung über beide Staaten erstrecken. Schließlich hätten die Bewohner Vancouvers und Seattles doch viel mehr gemeinsam als die Bewohner Vancouvers und einer Kleinstadt an der kanadischen Ostküste. In der (Pop-)Kultur ist die Grenze häufig nur noch eine imaginäre. Die großen Sportligen sind integriert, im Fernsehen sieht man die gleichen Serien, im Radio hört man die gleiche Musik – und für viele Europäer ist es sowieso kaum möglich, auf den ersten Blick Kanadier und US-Amerikaner zu unterscheiden. Dennoch gibt es immer wieder Momente, in denen die Kanadier ihre ganz eigenen Werte und Helden feiern. Als das kanadische Fernsehen seine Zuschauer vor drei Jahren aufforderte, den größten Kanadier der Geschichte zu wählen, fiel ihre Wahl nicht etwa auf die ehemaligen Premierminister John A. Macdonald, Lester B. Pearson oder Pierre Trudeau. Auch die Erfinder Alexander Graham Bell oder Frederick Banting wurden nicht gewählt, ebenso wenig Eishockey-Legenden wie Wayne Gretzky oder Don Cherry.

Die Nordwestpassage, in diesem Sommer zum ersten Mal eisfrei, erspart Schiffen rund 4.000 Kilometer Seeweg gegenüber der Panamakanal-Route.
Quelle: JFKI

Der größte Kanadier der Geschichte

Die Nummer eins wurde Tommy Douglas, der landesweit als „Vater“ des Krankenversicherungssystems in Kanada gilt. Genau diese Unterschiede werden auch von außen wahrgenommen. Allen voran der umstrittene US-amerikanische Filmemacher Michael Moore: Gerne zeigt er Kanada als Gegenentwurf, ja fast als Korrektiv zur amerikanischen Gesellschaft. In seinen Dokumentarfilmen ist zu sehen, wie viel sicherer kanadische Städte angeblich sind und wie gut die Krankenversicherung funktioniert. Dabei scheint er zu vergessen, dass auch kanadische Großstädte wie Toronto mit Bandenkriminalität, Armut und Obdachlosigkeit zu kämpfen haben. Kanadische Geschichte und kanadische Befindlichkeiten im 20. Jahrhundert kann man ohne Blick auf die Beziehungen zum südlichen Nachbarn kaum verstehen. Schon seit dem Zweiten Weltkrieg haben die beiden nordamerikanischen Staaten sicherheitspolitisch zusammengearbeitet. Diese Kooperation wurde durch den Kalten Krieg institutionalisiert, vor allem 1958 durch die Einrichtung einer Nordamerikanischen Luftüberwachung (NORAD). Angesichts neuer sicherheitspolitischer Entwicklungen wurde diese Zusammenarbeit in den letzten Jahren weiter vertieft.

Weltberühmte Eishockey-Legenden wie Wayne Gretzky oder Erfinder wie Graham Bell sind laut kanadischer Fernsehzuschauer nicht die größten Helden Kanadas, sondern Tommy Douglas, „Vater“ des Krankenversicherungssystems in Kanada.
Quelle: The Douglas-Coldwell Foundation

Erstes gemeinsames Handelsabkommen

Auf wirtschaftlicher Ebene bestanden schon früh kontinentale Verbindungslinien – das erste gemeinsame Handelsabkommen datiert aus dem Jahre 1854. Doch bis in das 20. Jahrhundert wirkten die Handelsbeziehungen mit dem Mutterland Großbritannien als Ausgleich der kontinentalen Kräfte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs nahmen die kontinentalen Verflechtungen weiter zu, gerade im Bereich der Direktinvestitionen. Was 1965 zunächst als Abkommen für die Autoindustrie begann, wurde in den 1980er Jahren zum umfassenden Freihandelsabkommen. Ganz so reibungslos, wie die lange historische Sicht den Prozess erscheinen lässt, verliefen diese Entwicklungen jedoch nicht. Seit den 1950er Jahren gab es immer wieder Stimmen, die vor einer kulturellen und wirtschaftlichen „Überfremdung“ Kanadas durch die USA warnten. Und kanadische Regierungen hatten immer wieder Maßnahmen ergriffen, die beispielsweise kanadisches Fernsehen und Radio, kanadische Kulturproduktion oder auch kanadische Energieunternehmen gegen USamerikanische Einflussnahme sicherten. In den 1960er Jahren führte vor allem die US-amerikanische Vietnampolitik zu einer zunehmend national zentrierten kanadischen Außenpolitik, die neben der Kubapolitik eine anti-amerikanische Investitionspolitik und eine wirtschaftliche Diversifizierungsstrategie beinhaltete. Die Folge: Europa wurde in den 1970er Jahren wiederentdeckt. Kanada war das erste Industrieland, mit dem die Europäische Gemeinschaft 1976 einen weitreichenden Kooperationsvertrag abschloss. Doch die kontinentalen Verbindungen waren stärker. Bereits in den 1980er Jahren gingen 80 Prozent kanadischer Ausfuhren in die USA. Damit machte sich das Exportland Kanada verwundbar gegenüber der US-amerikanischen Handelspolitik.
Durch ein Freihandelsabkommen versuchte man, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Auch wenn sich Kanadier nicht als Amerikaner verstehen und diese Unterscheidung geradezu nationsbildend ist, bleibt Kanada faktisch ein integraler Bestandteil Nordamerikas. Mitunter werden die Abgrenzungen zwischen Kanada und den USA, die manche als Minderwertigkeitskomplex abtun, auch innerhalb des Landes politisch instrumentalisiert. Die Betonung einer nordamerikanischen Tradition in der Provinz Québec, die unter dem Stichwort „Américanité“ firmiert, dient auch der Abgrenzung gegenüber dem Rest Kanadas und stärkt separatistische Ambitionen.

Gerade einmal 1,3 Quadratkilometer groß, geriet die Hans-Insel zum Zankapfel zwischen Dänemark und Kanada.
Quelle: wikipedia

Kanada als Brücke nach Amerika

Ungeachtet der engen kontinentalen Verbindungen, sah sich Kanada selbst bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als transatlantische Nation. Die eigene Kolonialgeschichte und die Einwanderungsbewegungen ließen das europäische Element bis in die 1950er Jahre zu einem wichtigen Merkmal Kanadas werden. Nicht wenige Touristen bemerken gerne, wie viel „europäischer“ doch dieses nordamerikanische Land im Vergleich zu den USA sei, und auch die kanadische Außenpolitik ist im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert eng mit Europa verknüpft – besonders mit dem britischen Empire. Kanadische Soldaten ließen während der zwei Weltkriege in Europa ihr Leben; die gewonnenen Schlachten aus dem Ersten Weltkrieg gehören noch heute zu den identitätsstiftenden Momenten.

Verbindungen zum britischen Mutterland

Auch die Verbindungen zum britischen Mutterland wurden nie ganz aufgegeben. 1957 versuchte beispielsweise Premierminister John Diefenbaker, die Wirtschaftsbeziehungen wieder zu vertiefen. Er kündigte an, 15 Prozent des kanadischen Handels von den USA nach Großbritannien umzuleiten. Eine ähnliche Überlegung beeinflusste auch die Diversifizierungsstrategie des Premiers Trudeau, der Anfang der 1970er Jahre eine als „Third Option“-Politik bekannt gewordenen Strategie verfolgte. Heute noch beschwört der amtierende Premierminister Stephen Harper die britischen Traditionen und besonderen Beziehungen zum Königreich. In europäischen Hauptstädten wird Kanada oft als perfektes Eingangstor zum NAFTA-Wirtschaftsraum „verkauft“, da in Kanada europäische Verhältnisse herrschten – etwa bei den Sozialversicherungssystemen. Die transatlantische Ausrichtung Kanadas lässt sich auch an seiner Rolle als Gründungsmitglied des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses, der NATO, festmachen: Neben den USA war Kanada das einzige nichteuropäische Mitglied. Im Rahmen des Bündnisses stationierte Kanada Truppen in Deutschland und beteiligte sich am Wiederaufbau Europas. Viele Jahre später leistete Kanada seinen Beitrag in Bosnien und im Kosovo. Der Fokus richtete sich also lange Zeit auf Europa – und nicht nur auf die eigene Hemisphäre. Wenngleich die Bedeutung Europas in der kanadischen Politik in den letzten Jahren insgesamt abgenommen hat, bedeutet dies nicht automatisch eine Neuorientierung hin zu den Amerikas. Mittlerweile sieht sich Kanada auch zunehmend als Brücke nach Asien. Transpazifische Beziehungen könnten die transatlantischen also unter Umständen schwächen oder sogar ersetzen.

Kanada als nördlichstes Nordamerika

Viel wichtiger als neue Beziehungen über den Pazifik oder nach Süden ist der wieder in Mode gekommene Blick nach Norden. Kanada ist nicht nur vom Pazifik und Atlantik umgeben, sondern grenzt auch an das Nordpolarmeer. Wenn sich Kanadier doch als Nordamerikaner bezeichnen, dann liegt die Betonung meist auf dem Wort „Nord“. Schon früh konstruierte sich Kanada als Nation des Nordens. In den historischen Darstellungen haben Pelzhändler und Siedler den klirrenden Wintern getrotzt und so das weite Land erschlossen. Außerdem verspricht der hohe Norden Reichtümer ungeahnten Ausmaßes. Eine US-amerikanische Studie schätzt, dass im dortigen Eis etwa ein Viertel der weltweiten, noch nicht entdeckten Erdöl- und Erdgasreserven liegen. Die Arktis gehört Kanada, darin sind sich Politiker und Bevölkerung einig, auch die französischsprachigen Einwohner Québecs. Schließlich heißt es in der kanadischen Nationalhymne über Kanada: „The true north, strong and free“ („Der wahre Norden, stark und frei“). Zusammen mit Russland, den USA, Dänemark und Norwegen wetteifert die kanadische Regierung derzeit um das Packeis in der Arktis. Laut der 1982 verabschiedeten Seerechtskonvention der Vereinten Nationen ( UNCLOS) können Besitzansprüche an Landmassen geltend gemacht werden, die unter Wasser liegen. Sind diese Unterwassergebirge mit dem Festland verbunden, gelten sie als geologische Ausläufer des jeweiligen Staates und fallen damit in dessen Souveränität.
Neben Dänemark wollen Kanada und Russland beweisen, dass beispielsweise der etwa 1.800 Kilometer lange Lomonossow-Rücken einen Ausläufer ihrer Hoheitsgebiete darstellt, in dem große Bodenschätze schlummern. Kanada hat außerdem ein Interesse daran, dass die Nordwestpassage nicht als internationales Gewässer gilt, sondern als kanadisches.

In diesem Sommer zum ersten Mal eisfrei.

Die Passage, die in diesem Sommer zum ersten Mal eisfrei war, erlaubt Schiffen eine Ersparnis von rund 4.000 Kilometern gegenüber der üblichen Route durch den Panamakanal. Die größte Sorge Kanadas gilt dabei den möglichen Auswirkungen auf die Umwelt in diesem empfindlichen Ökosystem. Deshalb besteht Kanada – zur Not auch mit unilateralen Mitteln –auf den Souveränitätsanspruch, der weder von den USA noch von der EU anerkannt wird. Oberstes Prinzip sei es, so Premierminister Stephen Harper im Juli 2007, „kanadische Souveränität zu nutzen oder sie zu verlieren“ („use it or lose it“). Dass die Kanadier es ernst meinen, zeigt nicht nur die Ankündigung, einen Tiefseehafen und ein militärisches Trainingszentrum in der Arktis zu bauen, sondern auch die beinahe militärische Auseinandersetzung mit Dänemark über eine 1,3 Quadratkilometer kleine Insel in der Ostarktis, die Hans-Insel. Der seit den 1970er Jahren schwelende Konflikt um dieses kleine Stück Land drohte im Sommer 2005 zu eskalieren, als beide Kontrahenten ihre Flaggen dort hissten. Doch bei all der nationalen Rhetorik in der Arktispolitik werden gerne diejenigen vergessen, die den kanadischen Souveränitätsanspruch auf das Gebiet durch ihre jahrhundertlange Anwesenheit manifestieren, die Inuit. Ihre Vorfahren kamen vor Jahrtausenden über die zugefrorene Beringstraße nach Kanada und sind damit die ersten Bewohner Kanadas. Auch ihre Heimat kommt nun wieder in den Fokus kanadischer Identitätskonstruktionen, und in diesem Fall ist Kanadas Blick weniger auf die südlichen Amerikas gerichtet als nach Norden zur Polarkappe. Für Kanada wird es auch in Zukunft schwierig sein, sich als genuin amerikanische Nation zu sehen – erst recht, wenn die Abgrenzung zu den USA und damit auch Amerika identitätsstiftend bleibt.